Kindheit auf dem Schloss
Der Chinese Chung Ling Soo wurde als Zauberer weltberühmt. Auf Plakaten sah man, wie er als himmlische Gabe von den Göttern an die Menschen auf der Erde überreicht wurde. Darunter war zu lesen: »Chung Ling Soo – das Geschenk der Götter zur Verzückung und Verzauberung sterblicher Erdenwesen.« So viel Selbstbewusstsein kann nicht schaden, wenn man sich vornimmt, ein erfolgreicher Magier zu werden.
Die Geschichte der Magie ist die Geschichte von Künstlern, die ihr Publikum das Wundern, manchmal das Fürchten und immer wieder das Staunen lehrten. Im Triptychon »Der Garten der Lüste« von Hieronymus Bosch, entstanden um das Jahr 1500, finden sich bereits Spielkarten und Würfel der als »Tregetour« bezeichneten Taschenspieler jener Zeit. Damals wurde eifrig die Welt der Geister beschworen, später ragten Ektoplasmahände aus dem Bauch der Magierin Margery, während sich der Erfinder des streng logischen Sherlock Holmes, Sir Arthur Conan Doyle, im Park von Cottingley persönlich von der Existenz fliegender Feen überzeugte. Howard Thurston ließ seine Prinzessin Karnac – ohne Zweifel eine Jungfrau – vor den Augen eines entzückten Publikums schweben, während ein paar Jahre später der Große Lafayette seine Jungfrauen in Löwen verwandelte. Horace Goldin ging ein Stück weiter und zerteilte sie mit riesigen Kreissägen. Da hatte Kar-Mi bereits begonnen, Schwerter zu verschlucken oder seinem Sohn mit einem aus seinem Mund ragenden Gewehr einen Apfel vom Kopf zu schießen. Lester Lake verbrannte sich selbst vor den schaurig-entsetzten Augen seines Publikums auf der Bühne, während sich Houdini von Ketten und Schlössern umschlungen in einen eiskalten Fluss werfen ließ – nichts ließen die Königinnen und Könige der magischen Zunft aus, um den Menschen fassungslose »Aaaahs!« und »Oooohs!« zu entlocken.
Diesen wunderbaren Genuss des Staunens, den die Magie in uns zu erwecken versteht, erlebte ich bereits in meiner Kindheit. Harry Potter absolvierte seine Ausbildung in einem verzauberten Schloss? Ich hatte das große Glück, in einem aufzuwachsen. Während Kenner der Szene die Lage von Potters Hogwarts noch diskutieren – irgendwo im Norden von Schottland, möglicherweise in der Nähe des kleinen Kaffs Dufftown, jedenfalls mit dem Zug in einem Tag von London aus erreichbar –, ist Schloss Berlepsch seit sechs Jahrhunderten auf den Landkarten der Menschheit verzeichnet: Von meinem Urahnen Arnold von Berlepsch 1369 auf einem Bergsporn am Rande des Werratals im nördlichsten Zipfel des heutigen Hessens errichtet, trotzte die Ritterburg im Laufe ihrer bewegten Geschichte den Belagerungen der Kriegsfürsten Tilly und Wallenstein während des Dreißigjährigen Krieges. Sie erlebte den Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe in ihren zum Renaissanceschloss umgebauten Mauern. Sie beherbergte die Gruppe 47, die wichtigste literarische Formierung Deutschlands um die beiden Nobelpreisträger Günter Grass und Heinrich Böll. Orange gekleidete Sannyasins, die ihrem Guru Bhagwan huldigten, waren genauso willkommen wie Heinz Erhardt, der hier in den sechziger Jahren seine Späße fürs Fernsehen verfilmte. Apropos Film: Selbstverständlich wurden zu dieser Zeit eine Reihe Gespenster- und Gruselfilme auf Schloss Berlepsch gedreht.
Dieser Ort, den ich barfuß und in kurzen Hosen für mich eroberte, war ein perfekter Platz zum Entdecken meiner heutigen Leidenschaft. Tatsächlich regten die dunklen Mauern, die Keller und Speicher voll geheimnisvoller Truhen, die Gemälde der Ahnen und das Durchblitzen ihrer Taten meine Fantasie zu Höhenflügen an: Urahn Hans von Berlepsch nahm als Amtmann der Wartburg Martin Luther in Schutzhaft und half auf diese Weise mit, dass Luther die Bibel übersetzte und die Welt veränderte. Eitel von Berlepsch, Schüler des weltberühmten Humanisten Philipp Melanchthon, wurde zum gefragtesten Diplomaten seiner Zeit. Franz Freiherr von Berlepsch gehörte als Lenkballonführer zu den ersten Aeronauten der Geschichte, während sich Urahn Hans Hermann Carl Ludwig Graf von Berlepsch mehr für Vögel interessierte und 60 000 selbst gesammelte Exemplare im Schloss ausstellte.
Für meinen Vater war es eine gewaltige Herausforderung gewesen, die Verantwortung für das Schloss zu übernehmen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert hatte Kaiser Wilhelm II. ganz in der Tradition des alten Preußens – »mehr sein als scheinen« – die deutschen Adligen beauftragt, ihre Schlösser auf Vordermann zu bringen. Das hatte auch auf Schloss Berlepsch zu zahlreichen Renovierungsarbeiten geführt. Im Ahnensaal stand eine große alte Geldkiste, und wenn ich deren Deckel öffnete, konnte ich auf dem Boden einen gemalten Hund sehen: Er sollte die früheren Eigentümer daran erinnern, dass sie »auf den Hund gekommen« waren, falls sie nicht über genug Rücklagen verfügten. Die braucht man, um eine Schlossanlage zu pflegen und in Schuss zu halten, was manchmal dem Versuch von Sisyphus ähnelt, den Felsblock auf den Berg zu wälzen. Mein Vater krempelte die Ärmel hoch, als er den Familienbesitz übernahm, der nicht nur aus dem Schloss besteht, sondern auch aus einer arbeitsintensiven Land- und Forstwirtschaft. Als gelernter Landwirt wusste er, was zu tun war, und sein Talent als Möbelrestaurator sowie als Antiquitätenhändler half ihm bei der Instandhaltung und Modernisierung des Schlosses. Zum Glück verfügt mein Vater selbst über magische Fähigkeiten: Wenn es um ein Handwerk geht, gibt es nichts, was er nicht kann. Bei all diesen Arbeiten trug er weder Frack noch Zylinder und auch keinen purpurroten Adelsmantel aus Samt mit Hermelinbesatz, wie mancher Besucher erwartete. Ich erlebte meinen Vater in schlichter Arbeitskleidung, woran sich bis heute nichts geändert hat. Kürzlich erzählte er mir, wie er abends müde auf einer Bank vor dem Schloss saß, als zwei Touristen auftauchten. Sie fotografierten fast jeden Stein, so schien es, bis er das Wort an sie richtete.
»Wollen Sie mich auch mal fotografieren?«, fragte er. Die beiden sahen ihn an, dann meinte der Mann: »Und wer sind Sie?«
»Der Hausmeister. Seit 40 Jahren halte ich das Schloss in Schuss.«
Die beiden lächelten, wandten sich ab und machten sich auf den Weg in Richtung Innenhof. Mein Vater hörte den Mann sagen: »Wäre es der Graf gewesen, hätte ich ihn natürlich fotografiert!«
So kenne ich meinen Vater: immer zum Spaßen aufgelegt. Er hat das tiefsitzende Bedürfnis, Menschen zum Lachen zu bringen, zu unterhalten und zu begeistern. Diese Eigenschaft hat seiner Tätigkeit stets eine besondere Note gegeben. Er gab sie an mich weiter und brachte mich so auf die Bühne. Auch meine drei Brüder schlagen in eine ähnliche Richtung: Fabian, der Älteste, betreibt heute die touristische Vermarktung des Schlosses. Gabriel wurde Theater- und Filmschauspieler, und Lucius ist Sommelier im Hotel de Rome in Berlin.
Wie Sie sich denken können, hatte meine Mutter als einzige Frau in der Familie alle Hände voll zu tun. Wer eben noch im brasilianischen Dschungel zu Hause war und nun auf einem Schloss im kalten Deutschland lebte, brauchte viel Gelassenheit. Wie meine Großmutter in kluger Voraussicht prophezeit hatte: »Niemand kann sagen, wohin es einen im Leben verschlägt.«
Meine Mutter wollte uns eine besondere Kindheit bescheren. Ich denke heute noch an die vielen schönen Erlebnisse zurück. So ging sie vor dem Einschlafen von Bett zu Bett und gab uns regelmäßig eine Rückenmassage. Später sagte sie mir: »Ihr wart ganz schöne Wildfänge! Doch wenn ich neben euch lag, hat euch das beruhigt.« Vielleicht war das meine erste Begegnung mit einem wunderbaren Ritual. Kam Ostern, verpackte sie Schokolade in verschiedenfarbige Krepppapiere und versteckte diese nach Schwierigkeitsgrad: für meinen jüngsten Bruder so, dass er es sicher fand, wir Älteren dagegen mussten lange suchen. Daher war meine Vorfreude immer besonders groß.
Hatte einer von uns Jungs Geburtstag, organisierte sie die Spiele: Topfschlagen, Wattepusten, Schnitzeljagden im Wald. Alle kleinen Gäste bekamen von ihr individuelle Geschenke – meine Mutter machte sich enorm viel Arbeit damit, aber sie tat es aus dem tiefen Verlangen heraus, uns etwas ganz Besonderes zu schenken.
Auch glaubte ich an das »Christkind«, wie wir an Weihnachten immer sagten. Meine Mutter wollte das Fest so feiern, wie sie es aus ihrer Familie kannte, traditionell und mit viel Freude. Heute ist für mich sehr schön zu sehen, wie auch dieses Ritual ganze Generationen beeinflusst, denn meine Brüder und ich legen heute ebenfalls Wert darauf. Mittlerweile merke ich, dass diese Art von Traditionspflege sogar Auswirkungen auf meine Zauberei hat. Auch da geht es mir nicht nur um den Effekt, sondern ich will meinen Gästen ein Erlebnis schenken – ganz so, wie es meine Mutter bei uns getan hat.
Meine Mutter kam 1950 im brasilianischen Bundesstaat Paraná zur Welt. Da kaum einer weiß, wo dieser Bundesstaat liegt, frage ich dann immer zurück: »Die berühmten Wasserfälle des Iguaçu?« Meist nicken alle, denn von diesem gigantischen Naturspektakel hat fast jeder schon einmal gehört. Dabei lebte meine Mutter weit weg von den Wasserfällen, was nicht weiter erstaunlich ist, denn Brasilien ist ein riesiges Land; der Bundesstaat Paraná allein ist größer als Österreich und die Schweiz zusammen. Im Westen grenzt er an Argentinien und Paraguay, im Osten an den Atlantik. Dazwischen liegt die Kornkammer Brasiliens mit enormen Flüssen und großen Dschungelflächen. Dort hatten sich Marie-Louise und Béla eine neue Heimat geschaffen. Mein Großvater betrieb eine Sägerei und röstete Kaffee, später wandte er sich der Rinderzucht zu, seiner eigentlichen Passion. Währenddessen sorgte meine...