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E-Book

An die Musik

Ein autobiographischer Essay

AutorFrido Mann
VerlagDiederichs Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl Seiten
ISBN9783641155759
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Der kulturgeschichtliche Durchgang durch die verschiedenen Epochen vor allem der abendländischen Musik erhebt nicht wissenschaftlichen Anspruch. In diesem autobiografisch gefärbten Essay von Frido Mann wird vielmehr der Frage nachgegangen, wann, wo und in welcher Weise Musik eine menschlich (und gesellschaftlich) aufbauende Sinnerfahrung und Werteorientierung fördert - sowohl auf kirchlich religiösem als auch auf humanistischem (auch politischem) Hintergrund. Diese Art kulturgeschichtlicher Einbettung wirft auch ein Licht auf die spezifischen Eigenheiten des Musikschaffens, ihrer Wiedergabe und Rezeption.

Frido Mann, geboren 1940 in Monterey/Kalifornien, arbeitete nach dem Studium der Musik, der Katholischen Theologie (Dr. theol.) und der Psychologie zunächst als Assistent bei Karl Rahner und Johann Baptist Metz und dann viele Jahre als Professor für Klinische Psychologie in Mu?nster, Leipzig und Prag. Er lebt heute als freier Schriftsteller in Mu?nchen.

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Leseprobe

KIRCHLICH-RELIGIÖSE BINDUNG IN MITTELALTER UND BAROCK

Gott ist ein harmonisches Wesen. Alle Harmonie rühret von seiner weisen Ordnung und Einrichtung her … Wo keine Übereinstimmung ist, da ist auch keine Ordnung, keine Schönheit und keine Vollkommenheit. Denn Schönheit und Vollkommenheit bestehet in der Übereinstimmung des Mannigfaltigen.

Georg Ventzky 1742

Musica colludium aeternitatis

Gregorianischer Choral

Larkspur, Kalifornien im August 2000. Zum ersten Mal nach über fünfzig Jahren bin ich zu Besuch bei meiner inzwischen 90 Jahre alten und inzwischen weitgehend erblindeten ersten Klavierlehrerin, Marion Winkler, auch einer Emigrantin aus Europa. Marion lebt immer noch in ihrem damaligen Haus nahe bei Mill Valley, von wo aus mich meine Mutter seit meinem fünften oder sechsten Lebensjahr, bis zu unserer Übersiedlung nach Europa zwei, drei Jahre später, einmal wöchentlich mit dem Auto zum Klavierunterricht in Larkspur zu fahren pflegte. Neu in Marions Haus ist jetzt der Anbau, ein geräumiges, helles Wohnzimmer mit einem Konzertflügel am Fenster, wo wir heute sitzen und uns unterhalten.

Ein zentrales Thema unseres Gesprächs ist der Fortgang meiner musikalischen Entwicklung nach meinem Klavierunterricht bei ihr. Ich erzähle ihr von meinem in Europa sehr bald wieder aufgenommenen Unterricht bei Lehrern in Österreich, im Schweizer Internat, in Florenz und schließlich in Zürich während meiner Gymnasialzeit und von meinem Wunsch seit meinem fünfzehnten Lebensjahr, Dirigent zu werden, als ich bei meiner Großmutter lebte.

Zu Marions Belustigung schildere ich ihr dann die ungewöhnlichen Umstände des Kontrapunktunterrichts, den mein Vater mir Siebzehnjährigem während einer der seltenen Sommerferien mit meinen Eltern, diesmal an der amerikanischen Atlantikküste in Maine, privat erteilte, nachdem er von meinem Berufswunsch erfahren hatte und darüber alles andere als erbaut gewesen war. Er hatte nämlich gerade seinen Musikerberuf an den Nagel gehängt zugunsten eines spät aufgenommenen literarwissenschaftlichen Universitätsstudiums in Harvard bei Boston. Für meinen Kontrapunktunterricht wurde das schwergewichtige Harmonium meines Vaters in unser Ferienhäuschen mitgenommen, von wo aus wir es jeden Morgen zusammen mit einem Sonnenschirm an den Strand schleppten und es möglichst nahe am Ufer postierten, wo immer eine kühlere Brise wehte. Dort hatte ich dann bis zum Mittags-Lunch mehrstimmige Kontrapunktsätze im Palestrina-Stil zu schreiben, die dann am Nachmittag korrigiert wurden. Diese Vorbildung kam meinem Musikstudium zwei Jahre später sehr zugute, als ich im Rahmen meiner Ausbildung zum Dirigenten einen regulären Kontrapunktkurs zu absolvieren hatte.

Leider habe ich bei meinem Besuch bei Marion nicht das kleine, etwas verschwommene Schwarz-Weiß-Foto bei mir, auf welchem ich in Badehose und mit Sonnenbrille unter dem Sonnenschirm und einem an diesem innen befestigten und im Wind wehenden Fliegenleimpapierstreifen zur Abwehr der vielen Bremsen in gekrümmter Haltung am Harmonium sitze.

Schon während meiner Kindheit in Österreich bei Gottesdienstbesuchen zusammen mit Mitschülern oder Nachbarkindern sowie Jahre später war, wie ich Marion weiter berichte, bei der Besichtigung von romanischen Kirchen in der Toskana zusammen mit meinen Eltern wiederholt der einstimmige, liturgische Gesang gregorianischer Choräle in lateinischer Sprache an mein Ohr gedrungen. Ich weiß nicht, wieweit diese frühen Erlebnisse auf dem österreichischen Land bereits mitgewirkt haben an meiner ersten, vorübergehenden Anwandlung als ca. Elfjähriger, katholisch werden zu wollen. Sicher erinnere ich mich jedoch daran, dass mich die mittelalterlich wirkende Psalmodie der einstimmig unbegleiteten liturgischen Chorgesänge in der Messe oder im Stundengebet mit ihren Alleluja-Melodien auf den für mich faszinierend neuartigen Ganztonleitern der Kirchentonarten vorübergehend in einen Zustand tiefer innerer Ruhe versetzten. Je länger ich diese wundersamen Gesänge auf mich wirken ließ, desto mehr glaubte ich mich auch in die geheimnisvolle Welt der stundenlang geübten Kleriker- und Mönchgesänge in den mittelalterlichen Klöstern hineinversetzen zu können. Vor allem erstaunte mich, wie viele Melodienfolgen auf einer einzigen Silbe oder ganz wenigen Silben des gesungenen Bibeltextes Platz hatten. Ein besonderes Erlebnis war auch die gelegentliche Aufteilung des Chores in zwei sich gegenüberstehenden Gruppen, wovon die zweite Gruppe jeweils eine Sequenz der ersten entweder wiederholte (Responsorium) oder aber gegen ihn »ansang« (Antiphon). Sehr viel bewusster lernte ich diesen Ablauf Jahre später verstehen, wenn meine Eltern mit uns Kindern bei einigen Kirchenbesichtigungen in der Toskana zufällig in einen Gottesdienst gerieten, in dem ähnliche Gesänge erklangen. Gerne nutzte ich dort auch die Gelegenheit, in den verglasten Fresken im Kirchenraum die gregorianische Quadratnotation zu studieren. Dabei fiel mir rasch das Fehlen einer Takteinteilung auf, was für mich eine optische Bestätigung meines akustischen Eindrucks einer gewissen Endlosigkeit der Gesänge war. Die überwiegend kleinintervalligen, manchmal fast einschläfernden, aber mich zugleich in einen meditativen Bann ziehenden Gesänge wiesen mich immer wieder von Neuem auf einen weit außerhalb des betreffenden Gotteshauses liegenden und doch tief in meinem Inneren spürbaren spirituell transzendenten Bereich hin. Ich war während meines Musikstudiums immer davon ausgegangen, dass die nach dem gleichnamigen Papst Gregor dem Großen im siebten nachchristlichen Jahrhundert in Rom benannten Gesänge auch in Rom ihren Ursprung hatten, als dort die Schola cantorum gegründet wurde. Diese Auffassung gilt inzwischen jedoch als umstritten. Denn nach neueren Erkenntnissen entstanden die gregorianischen Gesänge erst im achten Jahrhundert nördlich der Alpen im Zuge der karolingischen Liturgiereform unter Pippin dem Jüngeren, indem die aus Rom ins Frankenreich überbrachten altrömischen Gesänge umgeformt wurden.

»Stile antico«

Anders als bei Kirchenbesichtigungen oder -besuchen kennengelernten gregorianischen Gesängen kam ich, wie ich Marion Winkler weiter berichte, mit der Welt des aus dem späteren Mittelalter stammenden und ebenfalls dem universalen Lob Gottes dienenden, mehrstimmigen Kontrapunkt (punctus contra punctum / »Note gegen Note«) vor allem aus Büchern und Noten und im Kontrapunktunterricht meines Vaters und später im Musikstudium in Berührung. Die wichtigste und zugleich einfachste Variante des Kontrapunktstils ist immer die »Gegenstimme« einer vorgegebenen Melodie, weshalb der Begriff Kontrapunkt in seiner umfassendsten Bedeutung auch häufig gleichgesetzt wird mit Polyphonie. Die Kompositionstechnik des Kontrapunkts der Renaissance und des Barock erlebte bei Johann Sebastian Bach einen zweiten Höhepunkt. Eine weit darüber hinaus neue Bedeutung gewann sie schließlich auch im Werk von Johannes Brahms und Max Reger und in der Musik des 20. Jahrhunderts etwa von Anton Webern und Paul Hindemith sowie später auch durch gewisse dem Rock und dem Jazz zuzuordnende gegenwärtige Komponisten. Trotzdem wird der Begriff Kontrapunkt in der Regel vor allem in Verbindung gebracht mit dem stile antico des Satzmodells der Vokalmusik (Messen, Motetten und Madrigale) von Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525–1594) mit ihrer melodisch, rhythmisch und harmonisch besonderen Ausgewogenheit. Zum Grundbestand des stile antico gehören gewisse zentrale Stimmführungsregeln wie beispielsweise die Gegenbewegung, das Parallelenverbot bzw. die verdeckten und die Antiparallelen sowie die Dissonanzenbehandlung. Das Ergebnis meiner mir im Studium aufgetragenen Beschäftigung damit ist noch heute vorhanden in Form einiger stark vergilbter Aufzeichnungen von schulischen Kompositionsversuchen, die wie eine botanische Sammlung zusammengepresster Schmetterlinge oder Blumen in einer blauen, zugeschnürten Notenmappe bei mir liegen. Wenn ich beim heutigen Anhören dieser Musik etwa im Radio oder auf einer CD von der geordneten Komplexität der vielen Kompositionsregeln des klassischen Kontrapunkts absehe und mich ganzheitlich in ein Werk von Giovanni Pierluigi da Palestrina versenke, dann lässt mich die systematische Ausgewogenheit der vielfach kompensatorisch und symmetrisch wirkenden Musik manchmal an die »Coincidentia oppositorum« von Nikolaus von Cues denken, bei welcher trotz der Vielfalt und der scheinbaren Gegensätzlichkeiten in unserer Welt alles auf die eine göttliche Harmonie eines tief in sich ruhenden, allgegenwärtigen Kosmos hinweist. Nur dass, im Vergleich zu den älteren einstimmigen gregorianischen Gesängen, beim Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit bewegtere und großflächigere und zugleich dichtere polyphone Klangstrukturen auf jene transzendente Welt hinweisen.

Mein mich vorsorglich zum Musikstudium im klassischen Palestrina-Kontrapunkt-Stil unterweisender Vater hatte nicht nur allgemein als Musiker einschlägige Kenntnisse auf diesem Gebiet. Er hatte sich vielmehr, schon etwa fünfzehn Jahre vor meinem Unterricht bei ihm, während des Krieges im kalifornischen Exil als Anfang Zwanzigjähriger besonders ausführlich damit befasst, als er seinem Vater auf dessen Wunsch eine ca. 30 Seiten lange musiktheoretische Abhandlung als Material für dessen Vorstudien zum »Doktor Faustus« schickte. Neben den Grundthemen wie »Der Kanon«, die klassische Harmonielehre, »Kadenz und andere Akkordfortschreitungen«, »Die...

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