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Der musikalische Funke

Von Musik, Musikern und vom Musizieren - Begegnungen und Gespräche mit berühmten Interpreten

AutorHelen Epstein
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783105618165
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Einen Blick hinter die Kulissen zu tun - das wünschen sich nicht nur Theater- und Opernfreunde, sondern ebenso sehr auch die Musikliebhaber und Konzertgänger; denn wer von ihnen hätte sich nicht schon gefragt, was wohl in einem Künstler vorgeht, wenn er Noten zum Erklingen bringt, Musik interpretiert. Was bewirkt, daß der musikalische Funke überspringt? Diese im Original erstmals 1987 erschienene Sammlung lebendiger, aufschlußreicher Porträts und Interviews gibt einen unbezahlbaren Einblick in die klassische Musikszene mit ihren größten Interpreten, berühmtesten Veranstaltungen und hervorragendsten Ausbildungsstätten. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Die Musikwissenschaftlerin und Publizistin Helen Epstein schreibt ebenso sehr über Menschen wie über Künstler, über ihre Erfolge und ihr Versagen, über Psychologie und Musiktechnik. Ihr Buch ist ein wahrer Schatz an musikalischem Wissen und musikalischen Erkenntnissen - ein Klassiker unter den Büchern über klassische Musik.

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Leseprobe

Einleitung
Musik hören – Musik erleben


Als ich ein Kind war, glaubte ich, daß ein Musiker, der sein Instrument in den Straßen von New York mit sich trug, gefeit wäre gegen jegliche Gefahr. Es kam nicht darauf an, ob das, was er da trug, eine Tuba, ein Saxophon, eine Fiedel, eine Harfe oder eine Flöte war. Sein Instrument beschützte ihn und signalisierte, wer er war. Alles, was er zu tun hatte, war, es sichtbar vor sich herzutragen, damit Straßenräuber und schwere Lastwagen in ihrer Bewegung innehielten, von seiner Zauberhand gebannt. Aufmerksam hatte ich Geschichten über Musiker gelauscht, etwa der in der Bibel, wo David für einen König, der keinen Schlaf finden konnte, Harfe spielte; dem Märchen über einen Pfeifer, der die Kinder von Hameln mit seinen Tönen verlockte; dem Mythos von Orpheus, der in die Unterwelt hinabstieg und lebendig zurückkehrte. Beredter aber als alle Geschichten war das Gesicht meiner Mutter bei einem Konzert – ruhig, hingerissen und vor Liebe glühend, manchmal für zwei oder drei Männer gleichzeitig.

Wir ließen meinen Vater an solchen Abenden in seiner Arbeitskleidung auf der Couch schlafend zurück, mit einer aufgeschlagenen Zeitung, die sich rhythmisch auf seiner Brust hob und senkte. Meine Mutter legte ein Seidenkleid und Schmuck an; sie hüllte sich in einen Pelzmantel oder doch wenigstens einen Pelzkragen. Auch mich machte sie zurecht und steckte mich in ein Samtkleid und schwarze Lackschuhe, und ich tanzte vor Freude, weil ein Wochentag war, weil ich am nächsten Morgen Schule hatte und doch mit meiner Mutter in die Carnegie Hall ging. Um halb acht eilten wir zur Bushaltestelle am Broadway, an der sich die Leute drängten. Die Frauen waren sämtlich geschminkt und wie meine Mutter aufgemacht; die Männer schauten geschniegelt und fesch aus; das Kind, das gelegentlich dabeisein durfte, bewegte sich langsam und bedächtig unter der Bürde seiner Festtagskleider. Alle trugen einen erwartungsvollen Blick zur Schau, als gingen sie zu einer Party, und hoben sich deutlich von den anderen Leuten im Bus ab. Es waren die Zeiten, als es noch Verbrecherbanden in der Upper West Side gab, als viele Familien geräumige Wohnungen in der Gegend zwischen Riverside Drive und Central Park West mieteten und in den Geschäften der Nachbarschaft noch häufig Deutsch und Jiddisch zu hören war. Musiker und Musikliebhaber waren in unserem Haus stets und zahlreich vertreten gewesen; wenn man die Treppen hinaufstieg, hörte man häufig die Intonationsübungen von Sängern, und in der Eingangshalle kreuzten sich meine Wege mit denen einer ganzen Generation von Geigenschülern, die auf dem Wege zum Unterricht in der Meisterklasse von Ivan Galamian waren.

Wenigstens die Hälfte der Fahrgäste stieg aus, wenn der Bus an der Haltestelle vor der Carnegie Hall vorfuhr, und sie hielten einander mit besonderer Höflichkeit die Tür auf. Nahezu immer machte meine Mutter in der Menschenmenge, die sich vor den Stufen drängte, Freunde aus. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, daß es Erwachsene geben könnte, die nicht in die Carnegie Hall gingen, geschweige denn nicht wußten, was das war. Beim Eintreten in das vollgestopfte Foyer empfand ich mehr Ehrfurcht als an jedem anderen Andachtsort, den ich besucht hatte. Tatsächlich diente vielen Konzertbesuchern die Carnegie Hall als Kirche oder Synagoge, als Ort, an dem sie das ewige Leben feierten.

Meine Mutter gab mir die Eintrittskarten, damit ich sie dem Billetteur aushändigte, und ich hörte mir seine Anweisungen mit einer Spur von Überlegenheit an, denn ich kannte die Bezeichnungen der Ränge und die Lage der Sitzplätze damals besser als heute. Meine Eltern verfügten nicht über unumschränkte Mittel, als ich ein Kind war, aber Konzerte waren für das seelische Wohlbefinden meiner Mutter einfach unabdingbar; sie wählte unsere Plätze mit Bedacht aus. Entweder stiegen wir zu einer der ersten Reihen des obersten Ranges hinauf, oder wir saßen auf Klappstühlen auf dem Podium, an einer Stelle, wo ich einen ungehinderten Blick auf die Finger des Pianisten hatte. Als Kind hatte meine Mutter in Prag Konzertpianistin werden wollen, und wie ich später entdeckte, als ich Musiker interviewte, gehörte sie zu den ungezählten Eltern, die ihre eigenen ehrgeizigen Strebungen auf ihre Kinder übertragen hatten. In ihrem Fall hatten der Börsenkrach, der Krieg und die Emigration eine musikalische Laufbahn vereitelt. Sie war Schneiderin geworden und nähte Kostüme für Opernsängerinnen, Schauspielerinnen und andere Künstlerinnen, anstatt selbst eine zu werden. Manchmal waren unsere Sitzplatzkarten in der Carnegie Hall Geschenke von einer ihrer Kundinnen; manchmal luden diese uns in der Pause in ihre Loge ein; und zumindest sah ich gelegentlich, wie ein Kleid oder ein Mantel, der in unserer Wohnung gehangen hatte, jetzt von seiner Besitzerin in der ihm angemessenen Umgebung getragen wurde.

Ungefähr die Hälfte der Plätze war bereits besetzt, wenn wir uns niederließen. Meine Mutter begann sich umzusehen und nach Freunden, modischen Toiletten und berühmten Leuten Ausschau zu halten, manchmal mit Hilfe eines perlmutternen Opernglases. «Da ist Firkusny!» rief sie etwa aus, meinen Arm umfassend, und ich betrachtete mir durchs Opernglas das Gesicht des tschechischen Pianisten, dessen Präsenz sie so erregte. «Wer ist das?» fragte ich. «Warum magst du ihn?» Und meine Mutter erzählte mir alles, was sie über Rudolf Firkusny, Rudolf Serkin oder Arthur Rubinstein wußte, Geschichten, die sie in Europa gehört hatte, Dinge, die sie in der Sonntagsausgabe der New York Times gelesen oder von einer Kundin oder Freundin auf dem Wege der Flüsterpropaganda unter Emigranten in Erfahrung gebracht hatte. Die Namen der auftretenden Künstler, die wir hören sollten, waren allesamt polnisch, tschechisch, deutsch, russisch oder ungarisch. Ich kann mich nicht erinnern, in meiner Kindheit je einen Amerikaner in der Carnegie Hall gehört zu haben, und langsam dämmerte mir, daß alle diese Leute auf dem Podium Teil einer Welt waren, die Kriege und Naturkatastrophen zu überleben vermochte, die keine zwischenstaatlichen Grenzen kannte und deren Traditionen irgendwie unverändert blieben, während die äußeren Lebensumstände sich wandelten.

Schließlich hörte meine Mutter auf, sich im Saal umzusehen, und begann im Programmheft zu lesen und mir von der Musik zu erzählen, die wir zu hören bekommen sollten. Sie erklärte mir, was ein Requiem war, warum ein bestimmtes Stück Pathétique hieß oder warum Liszt so schwer zu spielen war. Dann erloschen die Lichter, und der oder die Musiker betraten die Bühne und bedankten sich für den Auftrittsapplaus mit einem Lächeln, einem Stirnrunzeln, einer Verbeugung oder einem Wink, hochnäsig oder freundlich oder gequält oder geschäftsmännisch dreinschauend, was, wie meine Mutter sagte, von ihrer Temperamentsart abhing. Damals waren meine unmittelbaren Reaktionen noch nicht von langen Studienjahren in Musik und Musikwissenschaft eingeschläfert. Für mich waren sie alle gleichermaßen berühmt; kein Wust von Kenntnissen verstellte mir den Blick, und ich war wahllos zugänglich für jene unerklärliche Chemie des Austausches zwischen Ausführendem und Hörern/Zuschauern, die den einen begabten Musiker zu einem charismatischen Stern erhebt und den anderen, ähnlich begabten, zu einem Langweiler macht. Ich kümmerte mich nicht darum, wie die betreffende Person aussah; woran ich mich erinnere, ist die Erregung, die «er» (denn es war immer ein «er») auslöste. Wie die meisten Erwachsenen bevorzugte ich, wie ich später entdeckte, Musiker, die ihre innere Erregung in Dinge zu übersetzen vermochten, die ich gleichermaßen hören und sehen konnte. Ich liebte Leonard Bernstein und Emil Gilels; das Budapester Streichquartett schläferte mich ein. Erst im Teenager-Alter hörte ich Jacqueline Du Pré und erkannte jemanden auf der Bühne, der mir selbst ähnelte; bis dahin war ich der Meinung gewesen, nur Männer verfügten über diese Art von Zauberkraft, und ich hatte kein Gespür für die Bedeutsamkeit außermusikalischer Faktoren – Glück, Ausbildung, gutes Management, Geburtstag und -ort, Geld –, die für einen Künstler unabdingbar waren, damit er es schaffte, ein Konzert in der Carnegie Hall geben zu können.

Damals war ich mir der Momente von Schönheit in den außergewöhnlichen Aufführungen, die ich hörte, weitgehend nicht bewußt. Beinahe den ganzen ersten Satz über saß ich still da. Dann kam der zweite Satz, und plötzlich schien es mir, als gäbe es da weniger zum Zuhören. Erst sehr viel später, als ich verheiratet war und selbst ein Kind hatte, begann ich zu verstehen, wie notwendig ein in der Carnegie Hall verbrachter Abend für meine Mutter gewesen war, daß ein Konzert ihr eine Gelegenheit bot, der Tretmühle der Alltagsroutine zu entrinnen, sich zu entspannen und neue Kraft zu schöpfen. Nach dem ersten Teil des Konzertprogramms streiften wir durch die Korridore, und ich lauschte den Unterhaltungen, die über meinen Kopf hinweg geführt wurden, über die Musik, die Musiker und private Ereignisse. Die Musik war für die Erwachsenen um mich herum ein Stimulans. Auch meine Mutter schien ungewöhnlich lebhaft, leidenschaftlich erregt, mehr zum Lachen aufgelegt. In diesen Pausen lagen Flirts in der Luft, und wenn ich zu meinem Sitz zurückkehrte, hatte ich gewöhnlich etwas gehört oder gesehen, das Anlaß zum Grübeln bot.

Jahre später behauptete meine Mutter, ich habe ganze Konzerte hindurch wie festgenagelt dagesessen. Sie kaufte mir ein Klavier, schickte mich im Alter von sieben Jahren aufs Konservatorium und hätte die Hoffnung, daß aus mir eine Konzertpianistin werden würde, wohl noch sehr viel länger gehegt, wenn sie sich nicht eines Tages beim Festival von...

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