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E-Book

Der Musikverführer

Warum wir alle musikalisch sind

AutorChristoph Drösser
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783644009417
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Musik ist kaum jemandem gleichgültig. Sie rührt uns manchmal zu Tränen, weckt verschüttete Erinnerungen, kann bei bestimmten Krankheiten sogar heilend wirken. Und doch neigen wir dazu, sie als eine Sache für Experten anzusehen. Mit diesem Vorurteil räumt «Der Musikverführer» gründlich auf. Denn: Niemand ist unmusikalisch. Selbst Menschen, die sich dafür halten, verfügen über ganz erstaunliche musikalische Fähigkeiten. Christoph Drösser schildert, welche spannenden Erkenntnisse Wissenschaftler über Musik gewonnen haben. Wieso mögen wir manche Musik, andere nicht? Wie schafft es unser Gehör, aus dem Klangbrei, der uns die meiste Zeit umgibt, einzelne Töne und Geräusche herauszufiltern? Warum gibt es Musik überhaupt? Und aufgrund seiner eigenen Erfahrungen ermuntert er alle, die noch nicht musizieren: Fangen Sie endlich damit an! «Warum Musik in allen Kulturen so eine große Rolle spielt, was in Hirn und Herz dabei passiert und was die Forschung darüber weiß - all das steht in diesem wunderbaren Buch. Sehr empfehlenswert!» Eckart von Hirschhausen in der Berliner Morgenpost

Christoph Drösser, Jg. 1958, ist Redakteur im Ressort Wissen der «Zeit» und verfasst für sie seit 1997 die Kolumne «Stimmt's?», in der er Fragen seiner Leser nach Mythen und Legenden des Alltags nachgeht. «Stimmt's?» gibt es auch als werktägliche Radiokolumne auf Radio Eins und NDR 2 und bei Rowohlt in einer Reihe von Sammelbänden. Seine «Verführer»-Bücher («Der Mathematikverführer», «Der Physikverführer», «Der Musikverführer», alle bei rororo) sind Bestseller. Christoph Drösser wurde vom «Medium Magazin» als Wissenschaftsjournalist des Jahres ausgezeichnet und erhielt den Medienpreis der Deutschen Mathematiker-Vereinigung für seine Verdienste um die Popularisierung der Mathematik.

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Leseprobe

1. Thank You for the Music


Eine Einleitung


Information ist nicht Wissen,

Wissen ist nicht Weisheit,

Weisheit ist nicht Wahrheit,

Wahrheit ist nicht Schönheit,

Schönheit ist nicht Liebe,

Liebe ist nicht Musik,

Musik ist das Beste.

 

Frank Zappa

 

Lieben Sie Musik? Es gibt wenige Menschen, die auf diese Frage mit «Nein» antworten. Sind uns Leute, die mit Musik nichts anfangen können, nicht irgendwie suspekt? Müssen das nicht völlig gefühllose Sonderlinge sein? Musik mag irgendwie jeder, sie gehört zu unserem Alltag dazu. Für die einen ist sie Lebenszweck, für die anderen angenehme Begleiterscheinung. Oder eine Dauerberieselung – man schaue sich nur morgens in der U-Bahn um: Ich schätze, dass mittlerweile mindestens die Hälfte der Fahrgäste mit Stöpseln im Ohr den Soundtrack zum eigenen Leben hört. Eine Welt ohne Musik kann sich kaum jemand vorstellen. Es würde etwas Entscheidendes fehlen.

Sind Sie musikalisch? Wenn man diese Frage Studenten stellt (die meisten psychologischen Studien werden an Studenten durchgeführt), dann antworten etwa 60 Prozent mit «Nein». Stefan Koelsch, der Hirnforscher von der Universität Sussex, der in diesem Buch noch mehrmals vorkommen wird, erzählte mir von einer typischen Reaktion seiner Probanden, wenn sie erfahren, dass es in einem Experiment um musikalische Fähigkeiten geht: «Die entschuldigen sich, dass sie vorher den Termin nicht abgesagt haben, weil sie ja völlig unmusikalisch seien und bei ihnen im Gehirn bestimmt nichts zu sehen sei.»

Und selbst die Forscher, die wissen, dass da sehr wohl etwas zu sehen ist, sind befangen, sobald es um ihre eigene Musikalität geht. Ich habe für die Recherche dieses Buches einige musikwissenschaftliche Konferenzen besucht, und dort kommt es oft vor, dass ein Referent während eines gelehrten Vortrags erzählt, wie er und sein Team Versuchspersonen mit Hilfe einer simplen Melodie getestet haben – und dann einen hochroten Kopf bekommt, wenn er diese kurze Melodie vorträllern soll. «Entschuldigung, ich bin ein schlechter Sänger» ist auch unter Musikforschern eine häufige Floskel.

Warum ist das Singen – oder das Musizieren allgemein – so sehr mit Ängsten besetzt? Warum empfinden wir es als so peinlich, dass die meisten ihre Hemmungen nur unter der Dusche oder unter dem Einfluss von Alkohol aufgeben? Es hat mit einem großen Vorurteil zu tun, das in unserer Kultur herrscht: dass Musikalität eine «Gabe» ist, über die nur wenige Ausnahmetalente verfügen. Dass man sie besser den Profis überlässt. Dass man eine musikalische Ausbildung als Kind beginnen muss und der erwachsene Mensch kein Instrument mehr erlernen kann. Dass in puncto Musik der größte Teil der Menschen zum Zuhören verurteilt ist.

 

Alles das ist nicht wahr, behaupte ich. Und das ist nicht nur meine persönliche Meinung. In diesem Buch werde ich Belege dafür bringen, vor allem neue Erkenntnisse aus dem Gebiet der Hirnforschung, die zeigen: Musikalität ist eine menschliche Grundfähigkeit – wir alle besitzen sie. Wir werden mit einem universellen Faible für Musik geboren, das wir in unseren ersten Lebensjahren zu einem erstaunlich sensiblen Sinn für die Musik unserer jeweiligen Kultur ausbauen.

Auch der Laie, der selbst nicht musiziert, verfügt über verblüffende Fähigkeiten, deren er sich meistens nicht bewusst ist. In Radiosendern ist es ein beliebtes Quiz, den Hörern ultrakurze Ausschnitte aus bekannten Hits vorzuspielen. In diesen wenige Zehntelsekunden langen Clips hört man keine Melodie, kein Wort Text, sondern nur einen Klang – und trotzdem können wir solche Schnipsel identifizieren. Wenn man aufschlüsselt, was das Gehirn dabei leistet, dann kann man nur noch ehrfürchtig staunen. Nicht ein guter Hörsinn oder die Fingerfertigkeit auf einem Instrument machen Musikalität aus – die Musik spielt im Kopf. Unser Gehirn ist das eigentliche Musikorgan, über das jeder verfügt.

Bevor ich die wissenschaftlichen Belege dafür bringe, soll vorerst ein Vergleich genügen: Zu Recht bewundern wir großartige Sportler (zumindest die ungedopten), verehren die Fußballnationalmannschaft an ihren guten Tagen, sind fasziniert von schnellen Läufern, grazilen Turnerinnen und wendigen Skifahrern. Selbst mit viel Training werden wir nie an deren Leistungen heranreichen. Aber ist das ein Grund, sich beim Sport aufs passive Zuschauen vor dem Fernseher zu beschränken?

Natürlich nicht – im Gegenteil. Der Wimbledon-Sieg des 17-jährigen Boris Becker hat 1985 in Deutschland einen Tennis-Boom ausgelöst. In Sportvereinen kann man sich auf vielen Leistungsstufen betätigen, und selbstverständlich würde kein Arzt seinem vielleicht etwas fülligen Patienten sagen, er sei leider für den Sport ungeeignet, weil er nie eine Olympia-Medaille gewinnen könne. Im Gegenteil, gerade für die «Unsportlichen» ist die körperliche Betätigung lebenswichtig, schon einmal pro Woche ein bisschen zu joggen ist besser als gar nichts. Und kaum jemand von uns muss eine Schwellenangst überwinden, wenn er ein Sportgeschäft betritt – es wird kein Leistungsnachweis verlangt, bevor man sich ein paar schicke Sneakers zulegen darf.

Vor allem bezweifelt beim Sport niemand, dass jeder es mit Training zu einer gewissen persönlichen Leistung bringen kann. Die Männer, die in ihren Vierzigern anfangen, Marathon zu laufen, sind ja fast schon ein Klischee, auch ich habe einige in meinem Bekanntenkreis (die ich sehr dafür bewundere). Aber wer fängt in diesem Alter noch an, Klavier zu spielen? Da ist schnell der Spruch bei der Hand, dass Hans nimmermehr lernt, was Hänschen nicht gelernt hat. Und außerdem sei ja Musik vor allem eine Sache der Begabung. Man hat’s, oder man hat’s nicht, und leider haben es nur sehr wenige.

Es ist wohl kein Zufall, dass gerade Hirnforscher, die sich mit der Musikalität des Menschen beschäftigen, vehemente Gegner dieses Begabungs- und Geniekults sind. Stefan Koelsch hat ein ganzes Buch zu dem Thema geschrieben: Der soziale Umgang mit Fähigkeit, Untertitel: «Die geschlossene Gesellschaft und ihre Freunde». Das Wort «Begabung» benutzt er nur mit Anführungszeichen, es ist für ihn ein soziales Konstrukt. In Diskussionen werde ihm als Beispiel für ein Genie, dessen Fähigkeiten nur durch überragende Erbanlagen erklärbar seien, meistens Mozart genannt. «Auf die Frage, ob die Musik von Mozart denn zur Lieblingsmusik meines Gegenübers gehöre, wurde mir bisher immer mit ‹Nein› geantwortet», schreibt Koelsch. «Warum halten diese Menschen Mozart für genial und nicht den Komponisten ihrer Lieblingsmusik? Ich halte Mozart nicht für genial und für keinen Deut mehr oder weniger musikalisch begabt als jeden anderen Menschen auch.» Mozart sei ein «exzellenter Handwerker» gewesen, der seit frühester Kindheit von seinem Vater gedrillt wurde (siehe auch Seite 277).

 

Mir geht es nicht darum, die Leistungen von Ausnahmemusikern in Abrede zu stellen. Auch ich bekomme Gänsehaut, wenn eine schwarze Gospelsängerin in der Kirche einen Choral anstimmt oder wenn ein virtuoser Geiger seine Gefühle durch sein Instrument sprechen lässt. Ich finde es volkswirtschaftlich vertretbar, dass wir den Besten der Besten millionenteure musikalische Kathedralen bauen wie die geplante Hamburger Elbphilharmonie, auf deren Bühne die wenigsten Musiker je stehen werden. Der Geniekult würdigt aber nicht nur die Leistung Einzelner – er stellt gleichzeitig in Abrede, dass der Rest von uns «das Zeug» zum Künstler habe. Und das beschränkt sich nicht auf die sogenannte E-Musik: Auch die Teilnehmer bei «Deutschland sucht den Superstar» müssen sich dem Urteil der Jury um Dieter Bohlen unterwerfen, die per Daumen hoch oder Daumen runter entscheidet, ob das geheimnisvolle Elixier, das einen zum «Star» macht, in den jugendlichen Kandidaten schlummert oder nicht.

Dabei ist die Auswahl der Kandidaten, die in der Show gezeigt werden, natürlich tendenziös. Wir sehen die Sänger mit den erstklassigen Stimmen, die dann auch später in der Endrunde sind, und die Loser, die Nobodys, die Freaks, die keinen Ton treffen, aber sich selbst für die Größten halten. Das Signal, das davon ausgehen soll: Auch du, lieber Zuschauer, gehörst entweder zu der einen oder zu der anderen Gruppe, höchstwahrscheinlich eher zu den Losern, also bleib auf deinem Sofa sitzen und schau dir unsere «Superstars» an. Bekäme man eine zufällige Auswahl der Kandidaten zu sehen, dann würde man wahrscheinlich feststellen, dass die meisten ganz passabel die Popsongs nachträllern, mit den richtigen Tönen. Ganz normale Stimmen eben. Doch das widerspräche der Dramaturgie der Sendung – und außerdem muss die Plattenbranche die Illusion aufrechterhalten, dass ihre Kunstprodukte es wegen ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten in die Charts geschafft haben und nicht etwa aufgrund des pfiffigen Marketings.

Dieses Buch soll eine Lanze brechen für die musikalischen Laien und Amateure, die in Chören singen, in Bands spielen oder in Laienorchestern. Sie treten auf Gemeinde- oder Straßenfesten auf, manchmal klingt es ein bisschen schief, aber oft auch sehr ergreifend. Sie werden nie einen Plattenvertrag bekommen oder viel Geld mit ihrer Kunst verdienen, doch dafür machen sie Erfahrungen, die nicht mit Geld zu bezahlen sind.

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