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E-Book

Der Mystiker aus Nazaret

Jesus neu begegnen - Jesuanische Spiritualität

AutorMonika Renz
VerlagKreuz
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783451345890
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Monika Renz hat viele Menschen in Lebenskrisen bis an die Grenze des Todes therapeutisch und spirituell begleitet. Gerade solch existenzielle Erfahrungen haben sie sensibel gemacht für tiefe menschliche Sehnsüchte nach Ganzsein und für die Bedeutung des Heiligen im Leben. Sie macht auf diesem Hintergrund die jesuanische Spiritualität neu und überzeugend begreifbar. Ihrem Blick erschließt sich dieser Jesus als Mystiker und als Menschenkenner par excellence, der Antworten gibt bis in schwierigste existenzielle Situationen hinein. Mehr als nur eine Übersetzungs- und Entdeckungshilfe für die authentische Botschaft und die Person Jesu ist dieses Buch auch ein Begleiter auf der eigenen Suche nach Verwurzelung in dem, was unser Leben übersteigt. 'Jesus war in allen seinen Worten und Taten immer in Verbindung mit dem Vater. Wenn er zu den Menschen spricht, wenn er sie berührt und heilt, dann geschieht das immer aus der tiefen mystischen Erfahrung Gottes heraus. Monika Renz beschreibt im Dialog mit der Tiefenpsychologie diese Tiefenerfahrung Jesu als den Grund seiner Person. So eröffnet sie dem Leser, der Leserin einen neuen Zugang zu Jesus. Die Beschäftigung mit Jesus will auch uns zu einer mystischen Erfahrung von Einssein mit uns selbst und mit dem göttlichen Urgrund führen, einen Zugang, der für unsere Erfahrung von Brüchigkeit heilsam ist.' (P. Anselm Grün OSB)

Monika Renz, Dr. phil. Dr. theol., Musik- und Psychotherapeutin, Psychoonkologin am Kantonsspital St. Gallen. Aufgrund ihrer praktischen Erfahrung und ihrer Forschungstätigkeit in den Bereichen Sterben, Spiritualität und tiefenpsychologische Exegese gilt sie als Pionierin der Spiritual-Care-Bewegung. Ihre Veröffentlichungen finden international Beachtung.

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Leseprobe

1 Religion – tiefste menschliche Sehnsucht


1.1 Das Christentum in der Krise – eine Analyse


Der Name Jesus ist im Abendland blutleer geworden. Er vermag kaum mehr, Grundstein einer christlichen Kultur und Religion zu sein. Das Christentum steckt seit Jahrzehnten in einer Krise, die sich als immer noch tiefer und weitreichender entpuppt: von der Kirchenkrise zur Glaubenskrise zur spirituellen Krise. Vordergründig werden die leeren Kirchen, die fehlende Glaubwürdigkeit von Amtsinhabern und die mangelnde Dialogbereitschaft innerhalb kirchlicher Hierarchien beanstandet. Zudem beklagt man die abnehmende Bekenntniskraft: Darf ein Pfarrer noch Pfarrer sein oder ist er nur noch Sozialarbeiter? Soll eine politische Partei das ›C‹ für ›christlich‹ noch in ihrem Namen tragen? Kann Theologie, können Einzelne noch selbstbewusst das zentral Christliche umkreisen, ohne darin als fundamentalistisch abgestempelt zu werden? Die Kraft eines christlichen Lebens aus dem Glauben wird oft schon gar nicht mehr erprobt. Man versucht es nicht mehr mit Jesus. Unglaubwürdige Kirchen und Verfehlungen von Seelsorgern sind längst zur Ausrede und zum Argument gegen die christliche Religion geworden. Doch all dies erfasst die Tiefe der heutigen Krise nicht.

Ein anderes, sich schon lange abzeichnendes Gesicht der Krise ist die fehlende innere Ausrichtung von Religion. Über Jahrhunderte verstand sich Kirche vor allem als exoterisch (????????), was auch »äußerer«, »draußen« heißt. Die Kirchen waren nach außen gerichtet. Sie machten sich stark in Lehre und Verkündigung und verbaten sich und ihrem Kirchenvolk die persönliche Gotteserfahrung. So verständlich der historische Hintergrund dieser erfahrungsscheuen Kirchenentwicklung ist (Bekämpfung der Gnosis4), so ist sie doch problematisch, einseitig institutionssichernd: Die eigentliche Mitte christlicher Existenz – Jesus Christus – wurde nur noch über das Hören-Sagen (Hiob 42.5) gelehrt und nicht mehr gespürt, nicht erfahren. Und die moderne Gegenbewegung der Esoterik, die dem Wortsinn nach auf das Innere, Hintere, Geheime verweist (????????/ esoterisch), ist ihrerseits zum Sammelsurium spiritueller, ja spiritistischer Glaubenslehren und damit auch zum Schimpfwort geworden. In esoterischen Anschauungen, die sich teils auf frühchristlich gnostische Bewegungen berufen, ist menschlichen Selbsterlösungsphantasien und der ihnen innewohnenden Selbstüberschätzung Vorschub geleistet. In der Esoterik geht es zwar um Erfahrung, aber nicht mehr um Jesus Christus. Der nicht mehr ›not-wendige‹ und damit auch nicht mehr erfahrene Christus ist längst zum Argument gegen Christus geworden.

Die schwerwiegendste Krise des westlichen Christentums scheint mir aber eine spirituelle zu sein. Sie manifestiert sich in einer um sich greifenden spirituellen Beliebigkeit, einer Art Mc-Donald’s-Religion, in der – wie F. Steffensky (2012) treffend formulierte (DRS 2, Sternstunde Religion, 9.2. 2012) – »schlussendlich alles gleich schmeckt«. So stößt derzeit der aus dem östlichen Kontext übernommene Begriff Achtsamkeit auf ein so hohes Ausmaß von Begeisterung, dass es scheint, als sei er selber zur Religion geworden. Achtsamkeit ist zwar wichtig, fördert Toleranz, Körperwahrnehmung und Bewusstwerdung, ist aber nicht Inhalt von Religion. Religiöse Beliebigkeit bringt emotionale, geistige und sogar kulturelle Verflachung mit sich, in der sich der Kern aller Religion, auch des Christlichen, verflüchtigt. Jesus als Erlöser und seine Botschaft vom Reich Gottes sind dann selbst für Christen gar nicht mehr nötig. Das Bewusstsein um die jüdisch-christlichen Wurzeln unserer abendländischen Kultur und ihrer Geistesgeschichte sowie das entsprechende kulturelle Wissen sind im Begriff sich aufzulösen. Eine Diskussion darüber findet kaum noch statt. Neue Generationen wachsen nicht nur ohne Sakramente und kirchlich-religiöse Symbole auf, sondern auch ohne Bibel und ohne das jüdisch-christliche Weltbild, ohne Jesus, ohne den »Gott der Väter«, ohne ehrfurchtauslösende Erfahrungen von Religion überhaupt. Nicht nur das Judentum, auch das Christentum wird dort, wo es noch lebt, mehr und mehr zur Ghettoreligion, derweil rundherum Bewusstwerdung, Differenzierung und Verbindlichkeit im Geistig-Religiösen immer weniger erstrebenswert erscheinen. Immer mehr Menschen stellen die großen Fragen nach dem letzten Sinn, nach Immanenz und Transzendenz gar nicht mehr und eignen sich eine Spiritualität an, die das Diesseits verklärt und dazu anleitet, ›mystisch eins zu werden mit dem, was ist‹ (Striet 2012, S. 157).

Seit Jahrzehnten ist zu beobachten, dass viele im Christentum großgewordene Menschen auf andere Religionen zugehen. Auch das finde ich nicht unproblematisch. Das Studium der anderen Kulturen lehrt uns zwar, wie verschieden Menschen sein können. Es führt in den nötigen Respekt vor dem Anderen ein. Aber als Anderes, Fremdes, kann dieses letztlich nicht Ersatz sein für das abhanden gekommene Eigene. Ich gehe davon aus, dass Religion grundsätzlich auf menschliche Sehnsüchte antwortet. Die Entwicklung einer Kultur und Religion sehe ich als wechselseitigen Prozess. Religion wird immer auch zur Antwort auf kulturspezifische Prägungen wie etwa eine ausgeprägte, also solche aber nicht bewusste Urangst, auf die Not der Gottferne und die westliche Angst-, Begehrens- und Machtstruktur (vgl. Renz 2008). In anderen kulturellen Kontexten kann Religion etwa Reaktion auf die täuschende Vielfältigkeit von Erscheinungen und auf Entwicklungshemmung sein. Insgesamt können Mangelerscheinungen im Eigenen nicht durch Fremdes kompensiert werden. Das Andere bleibt stets das Andere, mitunter Fremde, und es möchte auch nicht aus (säkularisiert) christlicher Perspektive heraus definiert werden. Wenn ich etwa am Sterbebett eines Buddhisten bin, der in Tibet aufgewachsen ist, so kommt mir eine Atmosphäre entgegen, die völlig anders als das ist, was ehemalige Christen mit dem Buddhismus gemacht haben. Dasselbe gilt für sterbende Sufisten, Juden, Muslime. Ihre Religion und Atmosphäre entzieht sich westlich säkularisierter Wertung. Sie kann nur aus sich selbst heraus begriffen werden, muss zuerst für sich selbst die Frage nach ihrer Heilsamkeit prüfen, bevor ein interreligiöser Dialog wirklich fruchtbar ist (vgl. Renz 2008, S. 301–312). Bei Religion geht es nicht um verabsolutierte Wahrheit, wohl aber um Heilung aus Prägung. Dann aber muss vorgängig geklärt werden: auf welche Prägung, auf welche kulturellen und kontextuellen Vorgaben antwortet ein religiöses Programm? Anthropologische Vorgaben und Religion gehen Hand in Hand.

Auch die vielfältigen Versuche, Ansätze verschiedener Religionen, Meditationsschulen und spiritueller Wege untereinander zu verbinden (etwa Herzensgebet mit Zen), sind nicht immer Resultat jenes reifen Dialoges von Ich zu Du, in dem auch Spannungen aufrechterhalten werden können. Viel häufiger beobachte ich, dass mit selbstgeschnürten Spiritualitätspaketen im Grunde ein Defizit im Eigenen sowie irrationale Allergien (gegen Kirche, Gott, den eigenen Vater, gegen Verbindlichkeit) verdeckt werden. Viele Versuche, Religionen zu verbinden, unterliegen trotz bester Absicht der Gefahr der Verwässerung und auch der menschlichen Selbstüberschätzung. Als könnte man binnen einer Generation in freiem Ermessen neu zusammensetzen, was über Jahrtausende an Kulturgut und existentiellen Antworten auf letzte Fragen gewachsen ist.

Die spirituelle Krise zeigt sich im westeuropäischen Christentum auch in der Flachheit ihrer Kulte und Riten. Tiefste Sehnsüchte des Menschen – die Feier des Heiligen oder das Eintauchen in eine letzte Geborgenheit – werden kaum mehr berührt. Abgesehen von der Eucharistie- oder Abendmahlfeier gibt es keine kulturstiftenden Vorgaben. Im Unterschied zu anderen Kulturen und deren tradierten Riten sowie Praktiken der Meditation, fehlen uns Leitplanken eines geistlichen Weges. Aktivismus und Unverbindlichkeit haben die dem Geheimnis entsprechende Ehrfurcht, die Stille sowie die Feier abgelöst. Besteht die Gefahr einer Profanierung, ja Entheiligung des Heiligen?

Zwar kennt unser Kulturkreis die Exerzitien und Kontemplation (vgl. Rutishauser 2011), das Herzensgebet, die Liedkultur von Taizé oder der Gospels. Doch genügen solche Aufbrüche nicht, um über das ansonsten verblassende Christentum hinwegzusehen. Selbst zentrale liturgische Riten wie Eucharistie- und Abendmahlfeier, die ohne viel Worte und ›action‹ Resonanz in der menschlichen Seele auslösen könn(t)en, werden heute in ihrem Potenzial für seelische Wandlungsprozesse nicht mehr erkannt. Versuche, Kulte und Rituale vom Ich her zu erfinden, sind zum Scheitern verurteilt, denn Kulte sind aus der Tiefe der kulturellen Entwicklung äußerst langsam gewachsen und umkreisen, was einer Kultur heilig ist. Kulte greifen dort, wo sie solcher Tiefe entspringen und darin vom Unbewussten des Menschen intuitiv verstanden werden. Doch wer versteht heute noch? Das Vermächtnis, das Jesus uns hinterlassen hat, klingt zwar noch immer in den heiligen Texten nach. In der Verkündigung wird es zu verstehen, im Ritus zu umkreisen versucht. Religio/Religate heißt dem Wort nach Rückbindung, aber auch Wiederlesen, und was Liturgie vollzieht, ist Erinnerung. Nur woran? Noch bevor Jesu Spur in der menschlichen Seele offenkundig wird, ist diese im Begriff, verloren zu gehen. Die Spur ist wie verschüttet. Menschen, die als Kinder in innerer Beziehung zu Jesus standen, sind oft noch immer fasziniert, doch meist ohne zu verstehen. Andere sind unberührt. Immer mehr...

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