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Der Mythos der Nation im Transnationalen Raum

Türkische Graue Wölfe in Deutschland

AutorEmre Arslan
VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl264 Seiten
ISBN9783531918679
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis46,99 EUR


Emre Arslan ist Lehrbeauftragter an der Fakultät für Soziologie an der Universität Bielefeld.

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Leseprobe
2. Türkische Migranten in Deutschland (S. 21)

Die Situation der Ülkücü-Bewegung als eine ultranationalistische Gruppierung erscheint sehr paradox. Wie andere Ultranationalisten verherrlichen die Ülkücüs die eigene Nation und den eigenen Staat. Daher muss die Ülkücü-Politik dem türkischen Nationalstaat eine verstärkte Aufmerksamkeit entgegenbringen.

Obwohl die meisten Ülkücüs in Deutschland leben wollen, ist Deutschland nicht das erste Ziel oder der erste Raum für ihre Politik. Sie leben in einem Territorium, das aus ihrer politischen Perspektive wesentlich unwichtiger ist. Anders gesagt ist das Zentrum ihrer politischen Weltanschauung ein anderes Territorium als das, in dem sie leben.

Obwohl sich auch andere türkische politische Organisationen in Deutschland zur Türkei hinwenden, befinden sich die Ülkücüs in einer besonderen Situation: Für andere Ideologien wie den Sozialismus, den Liberalismus und sogar dem Islamismus gibt es keine ontologischen oder wesentlichen Hindernisse, um ihre politische Zielrichtung nach Deutschland hin zu orientieren.

Die Ultranationalisten hingegen müssen bereits aufgrund ihrer Definition13 ein bestimmtes nationalstaatliches Territorium als ihren Raum idealisieren und sich selbst gleichwohl in anderen nationalstaatlichen Territorien als Fremde fühlen. Die Migranten, die ursprünglich aus der Türkei kommen, bilden auch politisch gesehen eine heterogene Gruppe.

Im Gegensatz zu anderen Migrantenorganisationen können die Organisationen, die als ihren wichtigsten Identitätsfaktor den türkischen Nationalismus bestimmen, sich selbst nicht mit Deutschland identifizieren. Wenn türkische Nationalisten in Deutschland hauptsächlich der ersten Generation angehören würden, könnte man dieses Phänomen als rein nostalgische Bindung zum Ursprungsland bezeichnen.

Die hier geborenen Jugendlichen bilden jedoch den größten Teil der Anhänger der türkischen ultranationalistischen Organisationen in Deutschland. Diese Tatsache bedeutet, dass ein Teil der Jugendlichen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, sich mit Deutschland nicht identifizieren können oder wollen.

Die Existenz einer hohen Anzahl von Jugendlichen bei den Grauen Wölfen in Deutschland ist ein Zeichen dafür, dass die deutsche Gesellschaft einige Faktoren produziert, die den türkischen Ultranationalismus in Deutschland verlockend machen. Um die genauen Ursachen zu veranschaulichen, beschäftigt sich dieses Kapitel mit der geschichtlichen, soziologischen und politischen Situation der türkischen Migranten in Deutschland.

2.1 Geschichtliche Hindergründe der Migration aus der Türkei

Wegen der großen Bevölkerungsbewegungen von Deutschen in andere Länder, v. a. nach Amerika, im 18. und 19. Jahrhundert wurde Deutschland lange Zeit als ein wichtiges Auswanderungsland bezeichnet. In Wirklichkeit war Deutschland seit seiner Nationalstaatsgründung 1871 immer gleichzeitig ein Einwanderungsland (Terkessidis, 2000:10).

In den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurden zahlreiche Migranten – insbesondere aus Polen – entweder als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft oder als Industriearbeiter im Bergbau oder im Baugewerbe beschäftigt (Herbert, 2003: 14-79). Nach dem zweiten Weltkrieg wurde diese Eigenschaft von Deutschland deutlicher: Millionen Arbeiter aus unterschiedlichen Ländern wurden mit zeitlich beschränktem Vertrag von Deutschland rekrutiert.

Um den temporären Charakter der Arbeitsmigration zu betonen, wurden diese Arbeiter als „Gastarbeiter“ bezeichnet (Melotti, 1997: 81). Obwohl 1954 in Deutschland über eine Million, bzw. 7 % Arbeitslose gemeldet hatte, verhandelte damalige Bundeswirtschaftsminister mit dem italienischen Außenminister über die Zulassung der italienischen Arbeiter in Deutschland. Der Grund dafür waren die ungleichmäßige Entwicklung des Arbeitsmarktes und die Prognosen des weiteren Wirtschaftswachstums (Herbert, 2003: 202).

1955 lag die durchschnittliche Arbeitslosigkeit bspw. in Baden-Wüttenberg bei 2,2 % und in Nordrhein-Westfalen bei 2.9 %. Die stärkere Einbeziehung von Frauen in dem Arbeitsmarkt war von deutscher Politik und Wirtschaft aus „familienpolitischen“ Gründen unerwünscht. „Die problemlos mobilisierbaren deutschen Arbeitskräfte waren in den wirtschaftlich starken Regionen nahezu vollständig beschäftigt“ (Herbert, 2003: 204).
Inhaltsverzeichnis
Danksagung5
Inhalt6
1. Einleitung9
1.1 Globalisierung und Nationalismuswelle9
1.2 Ziel und Fragestellung der Arbeit12
1.3 Aufbau der Arbeit15
2. Türkische Migranten in Deutschland19
2.1 Geschichtliche Hindergründe der Migration aus der Türkei20
2.2 Strukturelle Diskriminierung und Rassismus in Deutschland25
2.3 Diskurse über Multikulturalismus und Integration30
2.4 Ethnisierung gesellschaftlicher Probleme in Deutschland34
3. Wissenschaftliche Einbettung und Methoden der Arbeit37
3.1 Wissenschaftlicher Diskurs über Graue Wölfe in Deutschland37
3.2 Ideologie der Grauen Wölfe45
3.3 Methoden der Arbeit57
4. Mythos und Nation in der Moderne63
4.1 Mythos in der Vormoderne und Moderne64
4.2 Mythos als Metapher und Rohstoffreservoir73
4.3 Die Konstruktion eines Mythos der Nation79
4.4 Staat, Nation und Mythos86
5. Der Grundmythos der Ülkücüs: Die Herrschernation91
5.1 Der Graue Wolf: Ein mächtiger Jäger92
5.2 Ergenekon als Vorbereitung und Zentrum für die Macht100
5.3 Die Symbolik der Drei Halbmonde: Macht durch Islam107
5.4 Basbug als mächtiger Befehlshaber110
5.5 Töre als Sonderethos für die Herrschenden114
5.6 Turan und „Roter Apfel“ als imperialer Traum118
5.7 Schlussfolgerung: Der Grundmythos der Herrschernation121
6. Vereine zwischen Islam und Nation124
6.1 Türkische Föderation und natürliche Lobby des türkischen Staats125
6.2 AT B und die Grenzen der nationalen Mythen130
6.3 ATB und der Verein als sichere Insel in der Fremde134
6.4 Mythos, Erinnerungskultur und Festtagsgedächtnis138
6.5 Transnationale Übergänge der Ülkücü-Organisationen142
6.6 Schlussfolgerungen148
7. Mythen und Weltbild eines Nationalisten150
7.1 Werdegang eines Ultranationalisten151
7.2 Sicheres Gefühl und feste Identität im Verein160
7.3 Pendel zwischen „Heimat“ und „Vaterland“167
7.4 Ultranationalistische Mythen und Alltagsgedächtnis170
7.5 Schlussfolgerungen175
8. Gruppe als moralisches Subjekt177
8.1 Mythen und Grenzen des Nationalstolzes178
8.2 Natürliche Hierarchien und Männlichkeitsideal184
8.3 Suche nach Sauberkeit189
8.4 Gewalt im Alltagsleben und kollektive Verantwortung193
8.5 Schlussfolgerungen197
9. Nationales Wesen im transnationalen Raum199
9.1 „Nationales Wesen“ im Weltbild der Ülkücüs201
9.2 Mythen und Herrschaftsvorstellungen208
9.3 „Globalisierung der Türken“213
9.4 Neonazis und Türkische Ultranationalisten217
9.5 Staatsmacht und Selbstbewusstsein221
9.6 Schlussfolgerungen226
10. Fazit228
10.1 Momente des Werdegangs zum türkischen Ultranationalisten in Deutschland228
10.2 Stärke und Schwäche der politischen Mythen234
10.3 Graue Wölfe in der Türkei und in Deutschland: ein Vergleich236
10.4 Grenzen des Nationenmythos im Transnationalen Raum237
Verzeichnis der Abkürzung und türkischen Begriffe239
Literaturverzeichnis245

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