Mariologie von den Rändern: zur Einführung in den Band
In dem nachträglich erschienenen „Prolog“ zu seinen Jesus-Büchern, der den sog. Kindheitsgeschichten der Evangelien gewidmet ist, wendet sich Joseph Ratzinger auch der Frage zu, ob es sich bei der „Jungfrauengeburt“ um „Mythos oder geschichtliche Wirklichkeit“ handelt.1 Die dualistische Formulierung der Frage suggeriert einander ausschließende Alternativen und nimmt so bereits ihre Beantwortung vorweg, wie die folgenden Ausführungen zeigen: Nach einer Übersicht über religionsgeschichtliche Ableitungsversuche und einer knappen Reflexion auf mögliche Überlieferungsströme, mittels derer das Geheimnis der Jungfrauengeburt „öffentlich werden und in die gemeinsame Tradition der werdenden Christenheit eingehen konnte“ (62), bemerkt Ratzinger am Ende im Anschluss an Karl Barth, „dass es in der Geschichte Jesu zwei Punkte gibt, an denen Gottes Wirken unmittelbar in die materielle Welt eingreift: die Geburt aus der Jungfrau und die Auferstehung aus dem Grab, in dem Jesus nicht geblieben und nicht verwest ist“ (64 f.). Die beiden genannten punktuellen Eingriffe Gottes in die Welt seien „ein Skandal für den modernen Geist“ und „Prüfsteine des Glaubens“ (65).
Hier geht es keineswegs darum, die eindrücklichen, aus intensiver Reflexion und Meditation erwachsenen Erwägungen des inzwischen emeritierten Papstes einer Prüfung zu unterziehen, oder darum, das Recht solcher Fokussierungen auf die jungfräuliche Empfängnis grundsätzlich in Frage zu stellen. Allerdings sei ein Hinweis auf die Konsequenz eines derartigen Zugangs zu den biblischen Texten erlaubt, zumal das eben skizzierte Vorgehen Joseph Ratzingers doch einigermaßen repräsentativ für eine systematisch motivierte Fragestellung innerhalb dieser umstrittenen Thematik sein dürfte. Denn hier wird die „Jungfrauengeburt“ aus ihrem literarischen, narrativen und theologischen Kontext der matthäischen und der lukanischen Kindheitsgeschichten isoliert und zugleich als „Wunder“ im neuzeitlichen Sinne, das heißt als naturwissenschaftlich unerklärliches Geschehen und (damit) als unmittelbares Eingreifen Gottes in die Welt deklariert. Gleichzeitig treten gegenüber der Jungfrauengeburt andere, ebenso „wunderhafte“ Züge der biblischen Kindheitsgeschichten stark in den Hintergrund, man denke an die diversen Engelerscheinungen, das Strafwunder an Zacharias, die wunderbare Empfängnis der unfruchtbaren und – wie auch der Vater – hochbetagten Mutter Johannes’ des Täufers usw. All dies wird in systematischen Debatten um die Jungfrauengeburt meistens nicht als unmittelbares Eingreifen Gottes in die Welt qualifiziert. Die Fokussierung auf die Jungfrau Maria führt außerdem dazu, die anderen Erzählfiguren aus dem Blick zu verlieren, die zeitweise oder vollständig sexuell abstinent leben. Damit wird Maria aus dem narrativen Geflecht derjenigen Figuren herausgelöst, in das hinein sie insbesondere im lukanischen Doppelwerk verwoben ist.
Hier setzen die Beiträge dieses Bandes an, indem sie die Figur der Mutter Jesu konsequent in die verschiedenen Kontexte, in denen sie im Neuen Testament erscheint, zurückbinden. Immerhin ist es eine wichtige Aufgabe der biblischen Exegese, die immer wieder unternommenen Entkontextualisierungen durch Rekontextualisierungen auszubalancieren. Schließlich setzen die Aussagen des Glaubensbekenntnisses um das „ex Maria virgine“ die vielen, fast durchgehend narrativ strukturierten Texte des Neuen Testaments voraus,2 wollen diese Erzählungen aber keineswegs für die Erhebung punktueller Lehraussagen verzwecken, um sie damit obsolet zu machen. Als regula fidei wollen sie vielmehr die Schriftlektüre anregen, orientieren und vertiefen, indem sie eine Art Grammatik für sie formulieren.
Dabei steht die Rekonstruktion einer „historischen Maria“ nicht im Fokus des vorliegenden Bandes. Für ein solches Unternehmen gelten dieselben hermeneutischen und methodologischen Prämissen wie für die historische Jesusforschung. Damit ist in erster Linie die konsequente Rekontextualisierung der Mutter Jesu innerhalb des pluralen Judentums vor der Tempelzerstörung im Jahre 70 n. Chr. gemeint, insbesondere innerhalb des Judentums Galiläas. Dies würde außerdem implizieren, dass Maria (wieder) als Teil der galiläischen Jesusfamilie verstanden wird, die in der Evangelienüberlieferung als „Brüder (und Schwestern) Jesu“ (Mk 3,31–35; 6,3; Mt 12,46–50; 13,55 f.; Lk 8,19–21; Joh 2,12; 7,1–7) firmiert. Diese Jesusfamilie ist „nach Ostern“ Teil der sog. Jerusalemer Urgemeinde, die die neuere Forschung konsequent als Cluster innerjüdischer Gruppierungen zu beschreiben versucht, die durch Formen von „Jesus-Devotion“ (Larry W. Hurtado) vernetzt sind.3 Weithin unbestritten war offensichtlich der Anspruch des Jakobus, des ältesten „Bruders des Herrn“ (Gal 1,19; vgl. Mk 6,3; Mt 13,55), eine Erscheinung des auferstandenen Jesus erhalten zu haben, weswegen er zu den Aposteln gezählt wurde (1 Kor 15,7). Vermutlich siedelte er deswegen von Galiläa nach Jerusalem über (Gal 1,19) und wurde im Laufe der Zeit zur dominierenden Gestalt der dortigen christusglaubenden Juden (Gal 2,9), was er bis zu seinem Tod Anfang der 60er Jahre blieb. Gemeinsam mit ihm fand die Mutter Jesu offenbar Anschluss an die „Urgemeinde“, genauer an jenen Teil der christusglaubenden „Hebräer“ (Apg 6,1), der sich um die galiläische Jesusfamilie versammelte (vgl. Apg 1,14 mit 12,17). Innerhalb dieser Parameter wäre die historische Rückfrage nach der Mutter Jesu zu verorten, für die aber dieselben methodischen und theologischen Anfragen gelten wie für die „Rückfrage nach dem historischen Jesus“ auch.4
Die Beiträge des vorliegenden Bandes setzen demgegenüber beim neutestamentlichen Zeugnis selbst an. Dabei geht es uns weniger darum, ein Kaleidoskop der neutestamentlichen Portraits der Mutter Jesu darzubieten. Stattdessen nähern wir uns ihr sozusagen „von den Rändern“ her an: Ausgangspunkte sind Details, Formulierungen, Erzählfiguren, die sonst eher am Rand stehen und die bei der systematischen Fokussierung auf „wesentliche Kernaussagen“ gerne in Vergessenheit geraten. Dies sind beispielsweise die zeitweise oder dauerhaft enthaltsam lebenden Erzählfiguren des Lukasevangeliums sowie die im lukanischen Portrait Mariens assoziierten kämpferischen Frauengestalten Israels; dies sind aber auch einzelne Wendungen und Motive, die ungewohnte Aspekte an der Mutter Jesu sichtbar machen. Hinzu kommen der in der frühen Kirche ungeheuer einflussreiche Kreis der „Herrenverwandten“ sowie Marias Ehemann Joseph, nicht zuletzt aber auch die in den Kindheitsgeschichten äußerst prominent auftretenden Engel. Im Galaterbrief erscheint die Mutter des Gottessohnes als Frau des Bundesvolkes Israel, deren Sohn unter die Tora gestellt ist. Ausgehend vom rätselhaften, für die Entwicklung der Mariologie aber äußerst folgenreichen Himmelszeichen in Offb 12 stellt sich hingegen die Frage, worauf das Motiv von der „Geburt“ des Sohnes der Himmelsfrau zu beziehen ist. Aber auch die aus der Vergangenheit auf uns gekommenen künstlerischen und poetischen „Exegesen“ bilden solche Ausgangspunkte.
Den Anfang macht Michael Theobald mit einer großangelegten Studie über die beiden neutestamentlichen „Geburtsankündigungen“, in denen Engel die Geburt Jesu aus der Jungfrau verkündigen. Theobald geht in drei Anläufen vor. Zunächst wendet er sich den synoptischen Geburtsankündigungen in Mt 1,18–25 und Lk 1,26–38 selbst zu. Nach einer präzisen Beschreibung ihrer (auch alttestamentlich mehrfach belegten) Gattung erfolgt der Nachweis, dass sich beide Geburtsankündigungen auf die Septuagintafassung von Jes 7,13 f. im Kontext von Jes 7,10–17 beziehen und also aus judenchristlicher Schriftauslegung erwachsen sind. Die genauere Analyse zeigt zudem, dass wesentliche Züge der beiden Geburtsankündigungen – die Geburt aus einer Jungfrau, die davidisch-messianischen Obertöne sowie die Sündlosigkeit des angekündigten Sohnes – an Jes 7 LXX anknüpfen konnten. In einem zweiten Schritt verortet Theobald die Vorstellung jungfräulicher Geburt im hellenistischen Judentum. Hier wird Gen 21,1 f. LXX als Zeugnis der göttlich gewirkten Empfängnis Isaaks aus Sara ohne Beteiligung Abrahams verstanden. Diese Exegese lässt sich nicht nur bei Paulus nachweisen (Gal 4,21– 31; Röm 4,18–21; 9,6–9), sondern findet sich vor allem bei Philo von Alexandrien, der in De Cherubim 40–52 dieses Modell auf die anderen Patriarchen sowie auf Mose überträgt. Eine wichtige Passage bei Plutarch verstärkt die Vermutung, dass die religionsgeschichtliche Matrix dieser Vorstellung in Ägypten liegt. In einem dritten Schritt fragt Theobald nach den anthropologischen Implikationen dieses Motivkomplexes, konkret geht es um die antiken Vorstellungen von Zeugung im Ausgang von Aristoteles’ Zeugungstheorie. Abschließend flankiert Theobald diese Darlegungen mit hermeneutischen Überlegungen: Eine „naive“ Rezeption der Geburtsankündigungen erscheint angesichts unseres Abstands zur Welt der Antike unmöglich. Außerdem deuten alle Indizien darauf hin, dass die im NT nur schmal bezeugte Vorstellung einer Jungfrauengeburt Jesu nicht aus palästinensischer Familientradition, sondern aus schriftgelehrter Tätigkeit hellenistischer christusgläubiger Juden stammen dürfte. Im Sinne einer „zweiten Naivität“ geht es Theobald darum, den kerygmatischen Gehalt der Texte zu bestimmen, die eine...