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E-Book

Der natürliche Kompass

Mit allen Sinnen unterwegs

AutorTristan Gooley
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783492952835
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Was zeigt die Krümmung eines Baumes an? Wie erkenne ich an Regenpfützen, wo Norden ist? Und was verrät der Sand unter unseren Füßen über Ebbe und Flut? Der sympathische Abenteurer Tristan Gooley zeigt, wie man sich in Landschaften und Städten, im Wald oder an der Küste orientieren kann - einzig mit den Sinnen. Ohne Landkarte oder GPS, nur mithilfe der Gestirne und Elemente. Dabei geht es nicht nur um Outdoorabenteuer oder Überlebenstraining, sondern um eine beeindruckende, einfach zu erlernende Kunst. Dieses Buch bringt uns bei, genau hinzuschauen, zu riechen, zu hören. Sowohl enthusiastische Nachahmer als auch Daheimgebliebene finden in der Mischung aus Fakten, Erfahrungsberichten, Mythen, Kulturgeschichte und Anekdoten eine spannende Lektüre.

Tristan Gooley, geboren 1973, studierte über zehn Jahre die natürliche Navigation und erprobte sie auf seinen Abenteuerreisen und Bergbesteigungen. Als einziger Mensch überquerte er den Atlantik im Soloflug sowie im Einhandsegler. Er ist Mitglied der Royal Geographical Society sowie des Royal Institute of Navigation und leitet Kurse in »natürlicher Orientierung«. Tristan Gooley lebt mit seiner Familie in West Sussex.

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Leseprobe
VORWORT Zwei Reisen   Die Idee zu diesem Buch kam mir vor vielen Jahren, sie entsprang dem Bedürfnis nach einer Rettungsaktion. Eine ganz grundlegende Fähigkeit der Menschen war im Begriff, an eine effiziente und allgegenwärtige Technologie verloren zu gehen, die unsere räumliche Orientierung zu beherrschen begann. Ich träumte davon, all die Methoden natürlicher Navigation aufzuzeichnen, bevor sie irgendwann vollständig vergessen wären. Dieser Wunsch wurde im Lauf der Jahre immer drängender, zumal die moderne Welt die Möglichkeiten dieser seltenen Fertigkeit auch vollkommen unterschätzte. Niemand schien die früheren Überlebensstrategien als Kunst auch für unsere Zeit zu betrachten, für mich aber sind sie das: eine Kunst, die am schönsten und wirkungsvollsten ist, wenn sie als etwas Auserlesenes und Tiefgründiges gesehen wird und nicht nur als ein Kapitel der Geschichte oder als eine Reihe von Tricks, die moderne Überlebenskünstler anwenden. Als ich zehn war, machten wir im Sommer Urlaub in Bembrigde auf der Isle of Wight. Nach einem fünftägigen Segelkurs auf einer Holzjolle fragte der Segellehrer meinen Kumpel und mich, als wir die Jolle startklar machten : » Wo wollt ihr denn heute hinsegeln ? « Lässig sprachen wir über die möglichen Ziele, als sei dies die normalste Sache der Welt. Dann ließen wir beiden Jungs unsere Mirror zu Wasser, setzten Segel und nahmen Kurs auf einen nahe gelegenen Strand zum Picknick. Ich erinnere mich noch, wie wir dabei in unserer Phantasie durch die Hochsee schipperten - das Boot mit den Betreuern segelte rücksichtsvoll außer Sichtweite. Ich war erst zehn Jahre alt und hatte mir schon die Fähigkeit erworben, zu segeln, wohin ich wollte - nicht wohin die Lehrer mich schickten, nicht wohin meine Eltern wollten, sondern wohin mich selbst es zog. Ganz schön verwegen ! Mit der Zeit wurden meine Reisen anspruchsvoller, und mit Mitte zwanzig hatte ich eine gewisse Erfahrung im Wandern, Segeln und Fliegen von Leichtflugzeugen. Mich faszinierte nicht so sehr die körperliche Betätigung, sondern die Wissenschaft und die Kunstfertigkeit, von A nach B zu kommen, das Know-how, mit dem ich Reisen planen und durchführen konnte. Und ich entdeckte, dass diese wunderbare Kunst einen Namen hat : Navigation. Um mich darin zu üben, beschloss ich, den Atlantik erst im Alleinflug, dann einhand mit dem Boot zu überqueren. Ganze sieben Jahre später - ich war währenddessen zweimal Vater geworden, und der Arbeitsdruck war immens - war es so weit: Prinz Philip verlieh mir am 1. Januar 2008 vor der Royal Geographical Society den Royal Institute of Navigation's Award. In diesem Buch geht es um eine andere Reise ; sie fand im Schatten meiner von den Medien begleiteten Atlantiküberquerungen statt - und ist auch die weitaus interessantere. Während ich nachts Bücher über Luftrecht und Funkverkehr las, musste ich leider feststellen, dass diese formalen und technischen Details nur wenig mit der Leidenschaft zu tun hatten, die mich seit meiner frühen Kindheit fesselte. Es war frustrierend. Ich reiste schon immer gern, lange bevor ich begriff, dass sich in dem Wort » Navigation« meine unterschiedlichen Interessen vereinen könnten. Aufregend war für mich die Verbundenheit mit der Natur, die ich auf Reisen empfand, der Kontakt mit der Welt um mich herum. Ich begann mich so umfassend wie möglich über instrumentenlose Navigation zu informieren - die Fähigkeit, eine Art » natürlichen Kompass« zu verwenden. Und die Frustration verschwand, während sich dieses neue Interesse immer intensiver entwickelte. Während ich mir die Fertigkeiten aneignete, um die erträumten Reisen zu unternehmen, musste ich eine andere Welt betreten, eine Welt, die von meinen romantischen Vorstellungen und Sehnsüchten so weit entfernt war, wie man sich nur denken kann: Monitore, Bürokram, Checklisten, unzählige Abkürzungen. Ich lernte, was GPS ist, AIS, ILS, ADF, NDB, VHF, DME, UHF, SSB, VOR, ASI, VSI ... Die Liste nimmt kein Ende. Klar, ich musste diese Welt begreifen, aber leben wollte ich darin nicht. Vielmehr kam es mir darauf an, für die Zukunft die natürlichen Faktoren des Reisens zu verstehen. Als ich mich dann mit natürlicher Navigation und Orientierung befasste, stieg in mir ein regelrechtes Hochgefühl auf. Eine Welt, die sich nicht wesentlich verändert hatte, wurde lebendig mit der Frage : » Wohin blicke ich?« Sie war für mich wie ein Schlüssel, mit dem ich mir die Natur erschließen konnte. Bald stellte ich fest, dass nicht die Antwort ausschlaggebend ist, sondern wie wir diese Antwort finden - oder unter Umständen auch nicht finden. Aus diesem Grund will ich mit dem vorliegenden Buch auch mehr anstoßen, als nur eine Antwort auf jene Frage zu geben. Es besteht ein Unterschied zwischen dem Finden und dem Kennen des Wegs. Es ist möglich, jemandem in nur wenigen Minuten beizubringen, wie er sich bis auf einen Kompassgrad genau orientieren kann. Dann hat er das Know-how, um sich ohne Karte, Kompass oder Navigationsgerät auf den Weg zu machen, mehr aber auch nicht. Er schlägt vielleicht die richtige Richtung ein, seiner Reise fehlt aber trotzdem noch das gewisse Etwas. In den folgenden Kapiteln will ich zeigen, wie man sich an naturgegebenen Hinweisen orientieren kann, vorrangig aber will ich dem Leser die Schönheit und das Potenzial der natürlichen Orientierung vor Augen führen. Sie kann ebenso eine mentale wie auch eine physische Reise sein - genau das macht sie zu einer hohen Kunst. Die Art und Weise, wie wir unsere Sinne und unseren Verstand nutzen, um die Frage » Wohin blicke ich?« zu beantworten, vermag Gedanken, Assoziationen und Vorstellungen zu wecken, die so aufregend sind wie die Reise selbst. Sie, liebe Leser, stehen nun kurz davor, in die absolute Weltspitze der Navigatoren aufzusteigen, sich zu jenem einen Prozent hinzuzugesellen, das den natürlichen Kompass zu benutzen weiß. Willkommen in dieser so seltenen Kunst !   EINFÜHRUNG Die Kunst der Navigation und Orientierung anhand naturgegebener Faktoren   Wenn analytisches Denken, das Messer, auf die Erfahrung angewandt wird, geht dabei immer etwas zugrunde. Das ist auch recht gut bekannt, zumindest in der Kunst. Mir fällt ein, wie es Mark Twain erging, der, nachdem er das analytische Wissen erworben hatte, das man braucht, um Mississippi-Schiffer zu werden, auf einmal feststellen musste, dass der Fluss seine Schönheit verloren hatte. Irgendetwas geht immer zugrunde. Aber - und dies ist in der Kunst weniger bekannt - es wird auch immer etwas Neues geschaffen. ROBERT M. PIRSIG, Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten   Natürliche Navigation ist die Kunst, sich mithilfe der Natur zu orientieren. Sie besteht hauptsächlich in der seltenen Fähigkeit, ohne Instrumente und Geräte, nur anhand natürlicher Anhaltspunkte wie Sonne, Mond, Sterne, Land, Meer, Wetter, Pflanzen und Tiere seine Position und Richtung zu bestimmen - durch Beobachtungen und die Schlussfolgerungen, die man daraus zieht. Natürliche Navigation ist eine alte Kunst aus einer Zeit, als es noch gar keine andere Möglichkeit gab, sich zu orientieren. Um die Sache voll und ganz zu erfassen, muss man zurückblicken. Die ersten Wanderungen und Reisen sind noch immer geheimnisumwittert. Es gibt nur wenige handfeste Beweise, aber wir wissen, dass sie stattgefunden haben, denn die Menschen haben ihren Weg in jeden Winkel der Erde gefunden. Durch archäologische Funde können die Routen nachgezeichnet werden, die frühesten Navigationsmethoden aber bleiben weitgehend im Dunkeln. Auf einer Insel vor der Pazifikküste der USA fand man einen 13 000 Jahre alten Oberschenkelknochen, der mit seinem Besitzer vom Festland gekommen war. Das beweist, dass Menschen schon damals Bootsfahrten unternahmen, es erklärt aber nicht, wie sie ihren Weg fanden. Natürliche Selektion führte dazu, dass Tiere und Menschen, die nicht in der Lage waren, sich zu einem überlebenswichtigen Ort durchzuschlagen, nicht zum Genpool der kommenden Generation beitrugen. Und selbst wenn die Hinreise nicht gefährlich war - die Rückreise war es womöglich. Es war keine große Sache, in die Welt hinauszuziehen, aber wem die Fähigkeit fehlte, zurück zu Nahrung sowie Unterschlupf und Geborgenheit zu finden, für den konnte das Abenteuer tödlich ausgehen. Die Evolutionstheorie konzentriert sich dabei meistens auf den physischen Aspekt. Als Regel gilt generell: Je schneller das Tier, desto besser seine Chancen. Doch wenn es beim »großen Rennen«, dem Kampf ums Überleben, in die falsche Richtung läuft, scheidet es schnell aus - wie auch bei jeder anderen Reise. Heute wissen wir, dass wir zum Teil deswegen existieren, weil unsere Vorfahren sich orientieren konnten, auch wenn uns noch nicht so richtig bekannt ist, wie sie das überhaupt angestellt haben. Reisen früherer Zeiten vermögen die der Moderne zu bereichern, weil die Menschen damals ihre Umwelt besser zu lesen verstanden als die meisten heutigen Globetrotter. Von den Alten können wir viel lernen - aber es ist in keinem Buch niedergeschrieben. Einige Puzzleteilchen wurden mündlich überliefert oder aus frühen Steinbildern gedeutet. Die Mythen einer bestimmten Kultur setzten ihre Angehörigen jeweils miteinander und mit der sie umgebenden Welt sowie mit ihrer Vergangenheit in Beziehung. Man sollte diese Geschichten nicht ganz außer Acht lassen - selbst wenn sie nur im übertragenen Sinn zu verstehen sind, so musste der Erzähler doch einen gewissen Grad an Wirklichkeit einfließen lassen, um sein Publikum zu überzeugen. Dazu war es unter anderem notwendig, den Rahmen seiner Geschichte möglichst detailliert und authentisch zu gestalten. Die Erzählung selbst mochte seiner Phantasie entsprungen sein, aber sie spielte in der Welt seiner Zuhörer. Der ägyptische Gott Horus hilft uns nicht direkt bei der Orientierung, aber die Mythen, die ihn umgeben, gewähren uns einen Einblick in die Himmelswahrnehmung der alten Ägypter : Horus nahm die Gestalt eines Falken an, seine Augen waren Sonne und Mond. Sein linkes, das Mondauge, war verletzt, manchmal war er auf diesem Auge blind; doch auch wenn er sehen konnte, war sein Mondauge immer schwächer als das rechte, das Sonnenauge. Die Ägypter kannten also die Mondphasen - vom unsichtbaren Neumond hin zum Vollmond und zurück. Die Sonne hingegen hat keine Phasen. Mythen wurden aber nicht geschaffen, um dem modernen Reisenden zur Seite zu stehen, daher bleiben uns die Lektionen, die sie lehren könnten, oft verborgen. Die Mythen um Perseus sagen uns heutzutage vielleicht eher wenig, doch wenn man weiß, dass der griechische Held die äthiopische Königstochter Andromeda vor einem Seeungeheuer gerettet hat, kann man den Nachthimmel besser lesen - die Sternbilder Perseus und Andromeda stehen nämlich nebeneinander. Religiöse Texte sind eine weitere Quelle aus dem Altertum. Je nach Sichtweise spiegeln sie die Realität wider oder versuchen diese zu erklären, aber so oder so liefern sie wertvolle Informationen über frühe Weltsichten, Reisen und Navigationsmethoden. Im Koran (Sure 16, Verse 12-16 ) werden Sonne, Mond, Sterne, Schatten, Flüsse, Pfade und Wegzeichen als Orientierungshilfen erwähnt. In einem dieser Verse heißt es bekräftigend: » Siehe, hierin ist wahrlich ein Zeichen für einsichtige Leute. « Die Geschichtsschreibung der Navigation will hauptsächlich eine Antwort auf die Frage finden : » Wie haben sich Menschen orientiert?« Aber vielleicht sollte man als Erstes besser fragen: » Warum?« Da Navigation zu den praktischen Aspekten des Reisens zählt, ist jeder Anlass, sich zu orientieren, untrennbar mit den Reisemotiven verbunden.   WOZU DIENT NAVIGATION ÜBERHAUPT ?   Mitte der zweiten Hälfte des zehnten Jahrhunderts floh der legendäre Wikinger Erik der Rote nach einem Mord, den sein Vater begangen hatte, mit seinen Eltern aus Norwegen. Sie überlebten die Fahrt über den kalten Nordatlantik und ließen sich auf Island nieder. Doch dort wurde auch Erik wegen Mordes verurteilt und aus dem Land verbannt. Er zog weiter, dieses Mal nach Grönland. Den Namen »grünes Land« wählte er, um isländische Kolonisten für ein Gebiet anzuwerben, das alles andere als grün war. Fünfundzwanzig Schiffe setzten in Island Segel, um Erik an die neuen Ufer zu folgen. Die Besatzungen und Passagiere von elf Schiffen konnten sich allerdings nicht selbst von der euphemistischen Benennung Grönlands überzeugen, sie schafften es nicht übers Meer. Aber der Rest der Flotte kolonisierte die grönländische Südspitze, und Erik der Rote ging in die Geschichte ein als Entdecker dieses Landes und als großer Seefahrer, der den Europäern diese Route erschlossen hat. Gewalt - in weit größerem Ausmaß als bei Erik - war schon immer ein Auslöser für große Reisen und Pionierleistungen in der Navigation. Kriege und Eroberungen trieben ganze Völkerscharen zu epischen Unternehmungen an. Hinter vielen großen Expeditionen stand der Hunger nach neuem Land, angefangen bei dem an verschiedenen Stellen in der Bibel erwähnten Pharao Necho II. - er wollte um 600 v. Chr. Kanäle durch sein Reich ziehen und betrieb außerdem die Erstumsegelung Afrikas von Osten nach Westen - bis hin zu den Europäern, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert auf die Jagd nach afrikanischen Kolonien machten. Die frühen Wanderungen waren wahrscheinlich oft dem Hunger und dem Kampf ums Überleben geschuldet. Wenn die Ressourcen eines Gebietes erschöpft sind, muss sich das hungernde Volk entscheiden, ob es weiterzieht oder bleibt und stirbt. Aus der Geschichte der Menschheit spricht jedoch ein Appetit, der nur schwer zu stillen ist. Heutzutage nimmt ein Navigator im Kampf gegen den Hunger eine Karte, geht an Bord einer Hercules und transportiert Hilfsgüter in den Sudan. Eine ganz andere Art Hunger bekämpft jener, der auf der Brücke eines Containerschiffs im chinesischen Hafen Ningbo die Karte konsultiert und dann mit einer Ladung Plastikspielzeug Kurs auf die USA nimmt. Nach einer unserer vielen selbstgefälligen Meinungen gehört der Wunsch, zu reisen, um eine intellektuelle Neugier zu befriedigen, angeblich in unsere Zeit. Doch schon der athenische Staatsmann und Dichter Solon reiste um 600 v. Chr. vom Fernweh getrieben nach Ägypten, und der römische Dichter und Astrologe Marcus Manilius, der um die Wende des ersten vor- und des ersten nachchristlichen Jahrhunderts lebte, gab seinem Erstaunen darüber Ausdruck, dass die Leute eher reisten, um Kunst und Tempel zu sehen, als den Ätna in seiner Naturgewalt zu bewundern. Auch Impulsivität, Spontaneität und Abenteuerlust haben beim Reisen schon immer eine Rolle gespielt. Die großartigen natürlichen Navigatoren des mikronesischen Atolls Puluwat hatten die Angewohnheit, sich zu betrinken und dann auf die benachbarte unbewohnte Insel Pikelot zu segeln: »Ein Minimum an Ausrüstung und ein Maximum an Lebensmitteln werden eingeladen, dann segeln sie singend und grölend los, kreuzen durch die Lagune und hinaus auf die offene See, während die Frauen und andere nüchterne Seelen am Strand stehen und ihnen missbilligend nachblicken«, schreibt der Anthropologe Thomas Gladwin. Der Grund für solche Reisen mag zum Teil eine zeitweilige Flucht vor Verantwortung sein. Wer könnte aufrichtig behaupten, er hätte noch nie den Wunsch gehabt, seine Siebensachen zu packen und einfach » abzuhauen « ? Gewisse andere Reisegelüste werden nicht unbedingt bei einer Abendgesellschaft ausgeplaudert, obwohl sie bekannt sind: Wir machen uns auch für Sex auf die Socken. Lange bevor die Pazifikfahrer des 18. Jahrhunderts mit Geschichten über schöne Frauen und deren Freizügigkeit zurückkamen, versprachen neue Gegenden auch sexuelle Abenteuer. Das historische Verständnis dieser Thematik hat wegen seiner Phallozentrik zwar etwas Schlagseite, aber es war nie vollkommen einseitig. Die sumerische Liebesgöttin Inanna besah sich ihre Vulva und war ergötzt von der Macht ihres Schoßes. Mit einem Boot begab sie sich auf einen Plünderungszug, auf dem sie Sex als Waffe einsetzte. Sie machte den Erdgott Enki - den Herrn über Wasser und Weisheit, dessen Geschlechtstrieb so groß war wie seine Zurückhaltung beim Bierkonsum gering - betrunken, liebte ihn, bis er völlig erschöpft war, und machte sich davon. In ihrem Boot türmte sich genau die Beute, auf die sie aus gewesen war. Nicht zum letzten Mal sollte sich so eine Taktik als wirksam erweisen ... Wir reisen aber nicht nur, um zu entkommen, zu konsumieren und zu kopulieren, sondern auch um nachzudenken und kreativ zu sein. Jean-Jacques Rousseau schrieb in Bekenntnisse : » Wenn ich mich nicht bewege, kann ich kaum denken. « Navigation ist ein Aspekt des Unterwegsseins, aber unsere Chancen, uns eine Reise umfänglich zunutze zu machen, steigen, wenn wir unsere Gründe dafür hinterfragen. Ob wir nun von Hunger, Durst, Habgier, Liebe, Sex, Krieg, von philosophischen oder kulturellen Motiven oder vom Wunsch getrieben sind, das Meer zu riechen - diese Gründe werden sehr wahrscheinlich darüber bestimmen, wie wir die Welt betrachten und was wir daraus für Schlüsse ziehen.   DIE STILLE REVOLUTION   Die Navigation durchlief einen tief greifenden Wandel. In der Kunst der Wanderschaft gab es eine stille technische Revolution. Einfache Instrumente wie das Kamal - eine Holzplatte mit einer langen Schnur zur Winkelbestimmung - wurden von den Arabern schon vor über tausend Jahren erfunden. Das Kamal war der Vorläufer des Sextanten, mit dem ein Winkel ziemlich genau berechnet werden kann. Eine der frühesten Erwähnungen des Kompasses findet sich Anfang des 13. Jahrhunderts in Guyot de Provins' Spottgedicht Bible. Dort lässt sich der Beginn einer Entwicklung nachvollziehen, durch die ein Mensch, der die bis dato wertvollen Kenntnisse über die Sterne, die Sonne, den Mond und das Meer hatte, von einem »hässlichen bräunlichen Gestein, dem sich Eisen willig zugesellt« aus dem Feld geschlagen wurde. Und nun wird die Überlegenheit des Kompasses vom unaufhaltsamen Aufstieg der Satellitennavigation infrage gestellt. Das Verständnis der bahnbrechenden Veränderung in der Beziehung zwischen Navigator und Natur, die mit der Erfindung immer feinerer, immer exakterer Instrumente eingeleitet wurde, ist hilfreich, wenn wir die Rolle der Orientierung für das Reisen untersuchen. Das Ausmaß dieser Revolution zeigt sich im veränderten gesellschaftlichen Status des Navigators. Seine Stellung in seinem Umfeld sagt sehr viel über die Beziehung dieses Umfelds zur Umwelt aus. In vielen Kulturen gibt es einen Zusammenhang zwischen männlicher Reife und der Fähigkeit, den Weg zu finden. Der Evolutionsbiologe Robin Baker ( 1981 ) schildert, wie junge Aborigines als Initiationsritus auf eine längere Reise gehen müssen. Der Erwerb von Kenntnissen zur räumlichen Orientierung gilt als Metapher für den Erwerb von Lebenstüchtigkeit und wird durch dieses Ritual charakterisiert. Im Pazifik wurde Navigatoren traditionell ein höherer Status zuerkannt, sie standen nicht weit unter den Priestern. Ihr Wissen wurde von den Vätern an die Söhne weitergegeben und eifersüchtig gehütet.
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