EINLEITUNG
Über mich
„El gaucho soy yo!“: „Ich bin der Gaucho!“ – von jener Einstellung benötigt der Tango-Mann zumindest ein kleines Stück, und so soll dieses am Anfang stehen (dann haben wir’s hinter uns – und meine Kritiker tun sich mit der Suche nach „Selbstbeweihräucherung“ nicht so schwer…).
Als Kleinkind war das mit dem argentinischen Cowboy bei mir eher nicht absehbar: Meine Mutter hätte wohl lieber eine Tochter gehabt, so dass ihr mein anfängliches Aussehen (moppelig mit blonder Lockenpracht) ziemlich entgegenkam und sie dieses mit geblümten Strampelhosen und Haarschleifchen noch auf die Spitze trieb. Es wurde nicht besser, als mein Breitenwachstum im Alter von fünf Jahren in eine extreme Längenzunahme überging, weshalb ich hinfort als „empfindlich“ galt und zunächst für eine Saison von der Einschulung zurückgestellt sowie in den ersten zwei Grundschuljahren vom Sport befreit wurde.
So jedenfalls konnte man mich beim „Turnen“, wie der Sportunterricht zu meiner Zeit hieß, ab der 3. Klasse als hoch aufgeschossenes, blasses „Klappergestell“ besichtigen, das schon wegen des mehrjährigen Bewegungsdefizits nicht mal einen Purzelbaum beherrschte und auf Grund einer veritablen Höhenangst weder Leiter noch Kletterstange bezwang. Automatisch wird man zur beliebten Zielscheibe entsprechender Machosprüche, bei denen sich Klassenkameraden und Sportlehrer niveaumäßig durchaus die Hand reichen. Tiefenpsychologen könnten daraus wohl meine lebenslange Abneigung gegen Bewegungsinstruktoren aller Art ableiten…
Dummer(?)weise führte meine intellektuelle Entwicklung ins andere Extrem, was mich nun endgültig zum blutleeren, eierköpfigen „Streber“ stilisierte, der meist die beste Note bei Prüfungen produzierte. Der „Anerkennung“ meiner Klassenkameraden suchte ich dann bei Schulschluss durch rasche Flucht zu entgehen (immerhin eine sportive Aktion)… Dazu kam, dass ich in einem „Problemviertel“ aufwuchs, wo auf der Straße nicht das bessere Argument, sondern ausschließlich die dickere Faust galt. Nach heutiger Anschauung war ich ein ständig gemobbtes, sozial unterprivilegiertes Kind der Vorstadt mit (sudetendeutschem) Migrationshintergrund, welches niemals das Abitur oder gar ein Hochschulstudium absolvieren würde – also zum Tango geboren…
Der Wechsel auf das Gymnasium brachte für mich eine deutliche Besserung, da dort zunehmend die geistige Leistung vor der körperlichen rangierte und es pro Klasse ziemlich viele „Streber“ gab. Dennoch waren die Sportstunden weiterhin eine existentielle Qual, und ein guter Tag war nur einer ohne Reck, Barren und Bocksprung. Immerhin konnte ich der Leichtathletik, zumal dem mit meinen langen Beinen kompatiblen Weitsprung, etwas abgewinnen, und Mannschaftssportarten wie Handball machten sogar gelegentlich Spaß.
Außerdem kam auf mich als nunmehr Sechzehnjährigen etwas zu, was mir bislang dank fehlender schulischer und familiärer Koedukation völlig fremd war: Mädchen – also Wesen von einem anderen Stern! Der erste Tanzkurs stand an.
Sich Ende der 60-er Jahre einem solchen „bürgerlichen Ritual“ zu unterziehen war nicht selbstverständlich. Ein Grund, warum wir es dennoch taten, war sicher, dass vor kurzer Zeit ein junger, ambitionierter Tanzlehrer eine neue Schule eröffnet hatte. Die erste Stunde werde ich nie vergessen, jedenfalls einen bestimmten Moment: Wir lernten den Grundschritt im Langsamen Walzer, zunächst die „Damen bzw. Herren“ allein. Schließlich sollten sich diese säuberlich getrennt an den beiden Längsseiten der Größe nach aufstellen und, nach entsprechender Instruktion, durfte jeder Tänzer die ihm der Körperlänge nach zukommende Tänzerin auffordern. Ich habe keine Ahnung mehr, wer damals die „Glückliche“ war – aber zu den von Hugo Strassers Klarinette geführten Klängen von „Wunderful dancing“ erlebte ich, wie ein deutlich zarterer und weicherer Körper meine Bewegungen aufnahm und tatsächlich mitmachte. Wow! Kein Turnlehrer oder Sporttrainer hatte dies bisher bei mir hinbekommen – es war meine erste physische Aktion, die bei meiner Umwelt eine positive Reaktion hervorrief! Auch als nach jedem Tanz die Partnerinnen wechselten, blieb es dabei: Die gezeigten Schritte erschienen mir natürlich, fast selbstverständlich, und ich bekam fallweise schon ein wenig von der Schwerelosigkeit dieser langsam fließenden Musik hin. Anschließend schwebte ich zum Bus, weiter ging es im Dreivierteltakt zu Fuß nach Hause. Für die nächste Zeit existierten pro Woche eigentlich nur neunzig lebenswerte Minuten: die der folgenden Tanzstunde!
Bald kamen weitere „Pflichttermine“ hinzu: der schuleigene Tanztee am Sonntagnachmittag, die Tanzparty am Samstagabend. Während ein Großteil der Klasse nach dem Abschlussball und diversen weiblichen Eroberungen das Tanzen als Mittel zum Zweck nicht mehr benötigte, gab es für einen „harten Kern“ von uns bald in 50 Kilometern Umkreis keine Tanzgelegenheit, die wir nicht auf ihre Vereinbarkeit mit dem Erlernten getestet hätten – bei der damaligen Dominanz der „Beatmusik“ kein besonders ertragreiches Projekt! Dennoch reichte es, um jede Woche zwei- bis dreimal das Tanzbein zu schwingen. Die Anmeldung zum Fortgeschrittenenkurs war eine reine Formalität…
Einer unvermeidlichen Begleiterscheinung im „Labyrinth der Schritte“ war ich bereits begegnet: Man verwechselt körperliche Nähe und Harmonie mit Verliebtheit. Nach dem geradezu stereotypen Verlauf der ersten Tanzstundenromanze (sie entschied sich für einen anderen, der außer Schwofen auch noch Tennis konnte) war mir trotz der spätpubertären Hormonstürme klar: Das Tanzen ist nicht der Weg, sondern das Ziel! Es war eine tolle Zeit: Ich forderte jede auf, die nicht schnell genug auf dem Baum war – wobei den meisten Mädels diese Flucht gar nicht in den Sinn kam!
Je besser man tanzt, umso größer ist die Monopolisierungsgefahr: Schritt für Schritt wechselten meine Kollegen vom Singledasein zur Paarbindung, und nach geraumer Zeit war auch ich dran: Eine junge Dame erschien bei einer Schnupperparty der Tanzschule und stürzte sich, da sie sonst kaum einen Tänzer kannte, sofort auf mich. Obwohl sie noch keinen Kurs besucht hatte, ließ sie sich mit beeindruckender Intuition führen, stieg gleich mit mir bei den Fortgeschrittenen ein, und auch bei der Bronzemedaille war sie meine Partnerin. Der Rest nahm den üblichen Verlauf – bekanntlich erhält ein Mann früher oder später die weibliche Botschaft, dass er nunmehr in einer Beziehung lebe…
Irgendwie entschwand die „tänzerische Unschuld“: Die Bewegung zur Musik war nicht mehr Selbstzweck, sondern Teil der Paarbindung. Wenn man ein anderes Mädchen auffordern wollte, begannen die Vorüberlegungen: Wie würde die eigene Freundin reagieren, wie der Partner der Betreffenden? Und durch das viele Üben schwebte mehr die bessere Technik als die Seele übers Parkett…
Dazu kam ein Moment, den ich heute als Scheideweg meiner tänzerischen Karriere sehe: Ich wäre gerne in den Leistungssport eingestiegen, die Haltung meiner Freundin dagegen war (in gewohnter Weise) kategorisch: Tanzkurse ja – Turniertanz nein! Heute ist mir klar, dass diese entschlossene Position weniger auf fester Überzeugung denn auf mangelndem Selbstbewusstsein basierte. Wie hätte es sich damals entwickelt, falls ich gesagt hätte: „Gut, wir können weiter befreundet sein, aber du musst dann akzeptieren, wenn ich mir für diesen Sport eine andere Partnerin suche.“ Ich meine, sie hätte ihre Entscheidung revidiert! Und wie wäre in diesem Fall mein Leben verlaufen – hätte ich beim Wetttanzen die Erfüllung gefunden oder wären mir dadurch die Schattenseiten dieser „normierten Bewegung“ viel schneller klar geworden?
Doch standen zunächst einmal andere Themen auf der Tagesordnung: Abitur, Zivildienst, kirchliches und politisches Engagement, Studium. Wenn es irgendwie ging, besuchten wir zwar noch die Abschlussbälle, trafen uns mit den Ehemaligen am „Reservistentisch“ – aber es war nicht mehr der Schmelz von früher, zumal wir zum „jungen Gemüse“, das nun die Tanzfläche bevölkerte, keinen Kontakt mehr fanden. Die Gespräche befassten sich zunehmend mit den harten Tatsachen wie Ausbildung und Beruf, man drehte sich strikt paarweise im Kreis – es wehte ein früher Hauch von Klassentreffen… Am Studienort unternahmen wir noch zwei tänzerische Vorstöße: Einen „Fortschrittskurs für Paare“ einer renommierten Tanzschule, bei dem sich saturierte Eheleute vorwiegend zum Ratschen trafen, und eine kurze Mitgliedschaft in einem Tanzsportclub, in dem man uns zunächst zum Turniertanz dressieren wollte und dann (nach dem Widerstand meiner Freundin) nicht mehr beachtete.
Nie werde ich die ältere, sehr resolute Trainerin vergessen, die mich beim Standardtango zum Vorwärtseinsatz der Körpermitte animieren wollte, indem sie mir bei jedem ungeraden Taktschlag ihren knochigen Zeigefinger ins Kreuz rammte – aus meiner heutigen Sicht nicht die schlechteste Idee…
Referendarzeit, Heirat, erste Stelle, neue Wohnung, das Leben nun in „geordneten“ Bahnen! Es blieb bei gelegentlichen Ballbesuchen – einer wird mir allerdings in Erinnerung bleiben: Olympiahalle München, internationales Tanzturnier, es spielte Hugo Strasser, und für eine Runde war ich mit einer Berufskollegin auf der Fläche. Vertraut der Klang eines Langsamen Walzers mit dieser unvergleichlichen Klarinettenführung – und da war es wieder, dieses Schweben, verbunden mit der Zartheit aus den ersten Tanzstunden! In Karins Erinnerung blieb eine Tanzfigur, die sie...