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E-Book

Der Outlaw

Eine isländische Jugend am Rande der Gesellschaft

AutorJon Gnarr
VerlagTropen
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl287 Seiten
ISBN9783608100884
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Als der vierzehnjährige Jón ins Flugzeug nach Ísafjörður steigt, ahnt er noch nichts von dem, was ihn erwartet. Die wohl schmerzhafteste Phase seines Lebens nimmt ihren Anfang ... Jón Gnarrs Geschichte zeigt eindrucksvoll, wie aus einem vermeintlich schwer erziehbaren Jugendlichen der Bürgermeister seiner Heimatstadt Reykjavík werden konnte. In seiner Autobiographie beschreibt Jón Gnarr die späten Jahre seiner düsteren Teenagerzeit. Am nordwestlichen Rande Islands verbringt er zwei Jahre in einem Internat für schwer erziehbare Jugendliche. Von der Außenwelt abgeschnitten und missverstanden, gerät er in ein System institutionalisierten Unrechts, dem er schutzlos ausgeliefert ist. Der heranwachsende Jón versucht, dem Elend mit Punk-Musik zu entfliehen. Doch in seiner tiefen Verzweiflung entdeckt er auch die Ideale, für die er später so vehement eintreten wird: Er bekämpft Ungerechtigkeiten, wendet sich gegen jede Form von Gewalt und entdeckt die Ideen des Anarchismus für sich. Jón Gnarr erzählt mitreißend und einnehmend, wie er dem Internatsalltag unerbittlich trotzt und es ihm mit viel Mut und Willenskraft gelingt, sein Leben zurückzuerobern.

Jón Gnarr wurde 1967 in Reykjavík (Island) als Sohn eines Polizeibeamten geboren. Mit 19 Jahren schrieb er seinen ersten Roman. Bekannt wurde er als Bassist einer Punkrockband; er wirkte in mehreren Filmen und Talkshows mit. Bei der Kommunalwahl 2010 erzielte seine Partei »Besti flokkurinn« die meisten Stimmen, und er wurde neuer Oberbürgermeister. Dieses Amt bekleidete er bis zum Sommer 2014. Er selbst bezeichnet sich weiterhin als Anarchist.

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Leseprobe

Die Maschine startete vom Inlandflughafen in Reykjavík. Es war das zweite Mal, dass ich in einem Flugzeug saß. Ich war zwar einmal mit meinen Eltern nach Norwegen gereist, aber bisher weder auf dem Reykjavíker Flughafen gewesen, noch innerhalb Islands geflogen. Überhaupt hatte ich nur eine sehr begrenzte Vorstellung von Island und war mir nicht darüber im Klaren, wie das Land aussah. Mit meinen Eltern war ich schon mal aus der Stadt hinausgefahren und hatte die Landschaft ziemlich eintönig gefunden und nicht gewusst, wo wir uns befanden. Island war mir im Grunde fremd. Ich erkannte das Land zwar auf einer Abbildung, begriff aber nicht richtig, wo welcher Ort lag. Obwohl ich bereits in Akureyri gewesen war, hätte ich die Stadt unmöglich auf einer Islandkarte finden können. Jetzt war ich auf dem Weg nach Ísafjörður, einem Ort, über den ich rein gar nichts wusste und den ich mir nur schwer vorstellen konnte. Ich dachte, er müsse so ähnlich sein wie Búðardalur, und ging davon aus, dass es dort furchtbar kalt wäre. Und dass in den Gärten Ampfer wachsen müsste.

In dem Flugzeug saßen die unterschiedlichsten Leute, Erwachsene und Kinder. Ich kannte niemanden. Neben mir saß eine ältere Frau.

– Was machst du denn in Ísafjörður?

– Ich fahre nach Núpur.

– Ach, in die Bezirksschule?

– Jaaa …

Núpur im Dýrafjörður? Wo lag das eigentlich? Ich hatte keinen blassen Schimmer, was eine Bezirks- oder Internatsschule war, und hatte noch nie eine gesehen. Aber ich hatte Geschichten von Schülern gehört, die auf der Bezirksschule in Laugarvatn gewesen waren, und da ging es anscheinend sehr lustig zu, es glich wohl einer Mischung aus Schule und Kommune. Man hatte ziemlich viele Freiheiten, alle waren miteinander befreundet, und man konnte sich leicht Brennivín besorgen. Ich hoffte, dass es in Núpur im Dýrafjörður auch so sein würde. Núpur galt als Verwahrungsort für schwer erziehbare Jugendliche, eine Art Heim für Problemfälle. Ich wusste nicht genau, ob ich ein schwer erziehbarer Jugendlicher war, jedenfalls war ich bestimmt nicht weit davon entfernt. Schwer Erziehbare verhielten sich so wie ich. Und auch wenn wir selbst uns nicht als Problemfälle ansahen, taten das die anderen. Núpur im Dýrafjörður … Schon der Name klang altmodisch, fast fremdländisch.

Ich fand es sehr spannend, über Island zu fliegen und es aus der Luft zu betrachten. An diesem Tag war der Himmel klar, sodass ich das Land gut sehen konnte. Schneebedeckte Gipfel, Fjorde und schwarze Flecken, wahrscheinlich Lavawüste … oder Hochland. Ich war noch nie im Hochland gewesen, hatte aber schon in den Nachrichten gehört, dass sich Menschen dort verirrt hatten. Das Hochland war ein gefährlicher Ort. Besonders im Winter.

Dann landeten wir in Ísafjörður. Es war alles so, wie ich es mir ausgemalt hatte, wie Búðardalur, nur mitten im Schnee. Ísafjörður war ein kleiner Fischerort, eingerahmt von hohen Bergen. An den Hauswänden türmten sich mannshohe Schneewehen auf. Ich starrte auf die Berge. Sie wirkten Furcht einflößend, weil sie so steil aufragten, mit Schnee bepackt, aus dem einzelne Felsen und Geröllfelder hervorlugten. Den Ort empfand ich als ungemütlich und als krassen Gegensatz zu dem, was die Frau im Flugzeug über ihn gesagt hatte: ein malerisches Städtchen und ein wundervoller Ort. Sie hatte es sogar noch auf die Spitze getrieben und Ísafjörður als schönsten Platz auf der Welt bezeichnet. Ich hatte hingegen den Eindruck, in der Hölle gelandet zu sein. Für mich war das eindeutig der hässlichste Ort, in dem ich je gewesen war. Hässlich, kalt und im Schnee versunken.

Als die Passagiere aus dem Flugzeug stiegen, war es windstill, aber frostig. Wie üblich trug ich ein T-Shirt, Jeans und Lederjacke. Ich zog den Reißverschluss der Jacke hoch, verschränkte die Arme und schlenderte mit ein paar anderen Schülern in das Flughafengebäude. Wir warfen uns schüchterne Blicke zu, als plötzlich ein Mann kam und rief:

– Alle, die nach Núpur im Dýrafjörður wollen, in den Bus!

Der Mann war ein richtiger Bauerntrottel. Ich hatte solche Typen vom Land schon öfter gesehen. Sie trugen keine normalen Männersachen, sondern alberne Klamotten, eine ländliche Version von Männerkleidung. Die Hosen passten ihnen nicht richtig und waren immer etwas zu weit, und sie trugen keine normalen Schuhe wie die Männer in Reykjavík, sondern Gummischuhe. Dieser Mann trug Stiefel. In Reykjavík trug kein Mann Stiefel, es sei denn, er renovierte gerade sein Haus oder ging auf Angeltour. Wir Schüler rotteten uns zusammen, holten unsere Taschen und liefen zum Bus. Ich musterte die anderen heimlich und checkte ab, ob Punks dabei waren. Offenbar war ich der einzige Punk in der Gruppe. Die meisten waren Normalos, und Sport-Asse gab es anscheinend auch nicht, da keiner Sportklamotten anhatte. Ein paar trugen Lederjacken und waren demnach Metaller, sowohl Jungs als auch Mädchen. Neben den Lederjacken waren sie leicht an ihren AC / DC-Buttons zu erkennen. Metaller hörten AC / DC, Saxon und Iron Maiden. Einer der Jungen hatte ein Bild von Eddie hinten auf seiner Jacke. Eddie war eine Art Monster und das Maskottchen der Band. Ich fand Heavy Metal todlangweilig, dabei kannte ich ein paar Metaller, die eigentlich ganz okay waren. Sie trugen Lederjacken und waren sogar ein bisschen punkig, mit Nietenarmbändern am Handgelenk und Buttons auf den Jacken. Aber die Musik war furchtbar. Heavy Metal bestand hauptsächlich aus Gitarrensoli und nichtssagenden Texten mit eingängigen Refrains, zu denen die Fans headbangten. In meinen Augen war Heavy Metal nur schlechter Punk. Manche Leute dachten sogar, Metal-Bands wären eine Art Punk-Bands, und ich musste oft erklären, warum dem nicht so war. Einige Schüler trugen einen Rolling-Stones-Button, der aussah wie eine riesige Zunge, die ich noch nie gesehen hatte und irgendwie hippiemäßig fand. Die Stones waren doch alte Knacker, die von nichts anderem sangen als Mädchen.

Der Einzige aus der Gruppe, den ich kannte, war Schläger-Gaddi. Unsere Wege hatten sich in der Réttarholt-Schule gekreuzt, wo er mir einmal geholfen hatte, einen Jungen zu verprügeln, der mich gehänselt hatte. Außerdem waren wir eine Zeit lang zusammen bei den Pfadfindern gewesen, aber ich kannte ihn nicht besonders gut. Eigentlich kannte ihn niemand. Er machte sich nicht viel aus anderen, und es war ziemlich schwer, sich mit ihm zu unterhalten. Gaddi interessierte sich für nichts, weder für eine spezielle Musikrichtung noch für Fußball. Er wurde Schläger-Gaddi genannt, weil er ständig in Prügeleien verwickelt war, und ich hatte gehört, er solle nach Núpur geschickt werden, weil er seine Mutter zusammengeschlagen hätte. Wer schlug denn seine Mutter? Ob er ihr einfach eine reingehauen hatte? Das war für mich unvorstellbar. Mein Freund Siggi Punk war auch unverschämt zu seiner Mutter, motzte sie an, sie solle das Maul halten, und schrie »Lass mich in Ruhe, du scheiß Alte«, aber er hätte seine Mutter niemals geschlagen. Gaddi war schlank, unglaublich reaktionsschnell und hatte einen fahrigen Blick. Er erinnerte mich an einen Cowboy aus einem Western. Clint Eastwood. Wortkarg, unberechenbar und keine Skrupel vor Gewalt. Wovor ich eine Scheißangst hatte. Außer Gaddi kannte ich niemanden. Ein paar andere Schüler kannten sich bereits, saßen zusammen im Bus und unterhielten sich.

Der Bus fuhr los, und wir rollten durch den Ort, an einem Kiosk vorbei, der Hamraborg hieß. Davor hingen ein paar Jugendliche herum, und ich fragte mich, ob man im Hamraborg wohl Punk-Poster bekäme. Vielleicht könnte man von Núpur zum Kiosk laufen und Punk-Poster kaufen. Das wäre super. Der Bus hielt an einer Tankstelle, und während der Fahrer tankte, schauten wir uns verstohlen um. Ich verhielt mich möglichst unauffällig, nickte nur Gaddi zu, der meinen Gruß auf die gleiche Weise erwiderte. Wir schienen alle im selben Alter zu sein. Einige waren vielleicht ein bisschen älter, aber bestimmt nicht mehr als ein, zwei Jahre. Ich konnte auch ein paar potenzielle Idioten ausmachen, die mich bestimmt schikanieren würden. Ísafjörður schien doch kein ganz so gottverdammtes Kaff zu sein, wie ich mir vorgestellt hatte. Ich sah ein Restaurant namens Mánabar und Leute, die keine Bauernkluft trugen, sondern modischer gekleidet waren. Außerdem liefen im Ort keine Schafe herum – oder waren die im Winter im Stall? Ich musterte die Leute, die zwischen den Schneewehen...

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