Körper, Geist und Seele
Es existiert eine Anekdote aus dem antiken Griechenland, mit der sich die modernen Prinzipien des Konditionstrainings und der Wettkampfvorbereitung gut veranschaulichen lassen. Sie handelt von einem Olympioniken namens Milo. Anders als heutige Sportler verwendete Milo im Training weder Metallgewichte, noch hatte er spezielle Geräte zur Verfügung. Stattdessen legte Milo mit einem kleinen Kalb in seinen Armen jeden Tag eine bestimmte Strecke zurück. Das Kalb wuchs zu einem Bullen heran, und Milo trainierte weiter. Am ersten Tag der Olympischen Spiele ging Milo dann die Laufbahn mit einem mittlerweile ausgewachsenen Bullen auf den Armen ab. Diese Anekdote kann uns auch heute noch einiges lehren.
Erstens: Jedes Training sollte progressiv aufgebaut sein. Milo begann sein Training ja auch nicht gleich mit einem ausgewachsenen Bullen. Seine Trainingsintensität nahm in dem Maße zu, wie das Kalb heranwuchs. Ich bin mir sicher, dass auch Milo an manchem Tag müde war oder das Gefühl hatte, er hätte härter trainieren können. Trotzdem wuchs mit jedem Trainingstag auch die Belastbarkeit seines Körpers. Er durchlief die notwendige körperliche Anpassung, um am Ende seines Trainingszyklus, bei seinem olympischen Debüt, eine großartige Leistung zu vollbringen.
Zweitens: Training muss zielorientiert, das heißt entweder auf ein Datum oder eine Veranstaltung ausgerichtet sein. Milo plante sein Training, um bei den Olympischen Spielen seinen Höhepunkt zu erreichen. Vielleicht suchte er sogar ein Kalb aus, das just zu diesem Zeitpunkt voll ausgewachsen sein würde. Damit bewies er Voraussicht und Zielstrebigkeit. Denn selbst das beste Trainingsprogramm hat wenig Wert, wenn der Leistungshöhepunkt nicht zum Zeitpunkt des Wettkampfs erreicht wird. Deshalb greifen Trainer üblicherweise auf das Instrument Periodisierung zurück, um ihre Trainingsprogramme auf einen Zeitpunkt oder einen bestimmten Wettkampf in der Zukunft auszurichten. Das Training wird gewöhnlich in Zyklen eingeteilt, die der Saisonplanung des jeweiligen Sports folgen. Normalerweise gibt es eine Saisonpause = Übergangsperiode, eine Vorbereitungsperiode und die Wettkampfperiode selbst. Durch periodisiertes Training erreichen körperliche Leistungsfähigkeit und sportliche Fertigkeiten dann ihr Maximum, wenn sie am meisten benötigt werden, nämlich zu den Saisonhöhepunkten, den Wettkämpfen. Man kann zwar sein ganzes Leben lang eine gute Kondition aufrechterhalten, niemand kann jedoch pausenlos in körperlicher oder geistiger Höchstform bleiben. Betrachten Sie das Training also als einen Kreislauf aus Aufbau, Wettkampf und Neuaufbau.
Drittens: Ein gutes Training erfordert Weitsicht. Milo besaß diese Weitsicht und war zudem realistisch in seiner Trainingsplanung. Deshalb begann er mit einem Kalb, nicht mit einem Bullen. Einen Bullen hochzuheben ist ja fast unvorstellbar, mit ihm eine Strecke abzulaufen noch mehr. Andererseits ist es durchaus vorstellbar, ein Kalb zu tragen. Am ersten Trainingstag war Milo weder körperlich noch geistig in der Lage, einen Bullen zu stemmen, aber er war zuversichtlich und extrem zielorientiert. Beim täglichen Training dachte er auch nicht an das Gewicht des Bullen oder die Länge der zurückzulegenden Strecke. Er konzentrierte sich einfach auf das Kalb, das eigentlich genauso aussah wie am Tag zuvor und das auch am nächsten Tag wieder genauso aussehen würde. Das Training machte ihm keine Angst, es wurde vielmehr einfach ein Teil seiner täglichen Routine.
Damit wird klar: Training beinhaltet eine körperliche Belastung, die über einen bestimmten Zeitraum geleistet werden muss, um Wachstum, Entwicklung und Leistungsverbesserung in Hinblick auf die Erfüllung einer Aufgabe zu ermöglichen (progressives Training). Dazu ist Planung erforderlich: Sie müssen wissen, wann Ihre Höchstleistung erforderlich sein wird und wie Sie sie erreichen können (Periodisierung). Dabei ist die Psychologie ebenso wichtig wie die Physiologie: Welchen Stellenwert nimmt das Training in Ihrem Leben ein? Was sind Sie bereit, im Rahmen Ihres Programms zu leisten (Vision und Weitsicht)? Diese Punkte sind genauso wichtig wie die Übungen selbst. Sie müssen Vertrauen in Ihr Trainingsprogramm haben. Man glaubt nur, was man sieht; das Ergebnis des Trainings können Sie jedoch erst erkennen, wenn Sie zuvor Vorbereitung, Zeit und Aufwand effektiv eingesetzt haben. Es stellt sich also die Frage: Muss man sehen, um zu glauben, oder muss man erst glauben, um zu sehen? Nehmen Sie sich ein Beispiel an Milo. An erster Stelle stand sein Glaube an das Ziel, und dann vollbrachte er etwas, das niemand zuvor gesehen hatte.
Erkenne dich selbst!
Inschrift am Apollo-Tempel in Delphi aus dem
6. Jahrhundert v. Chr.
Der menschliche Körper
Im Sport dreht sich alles um die Bewegungen unseres Körpers. Um den größten Nutzen für Ihr Training aus den folgenden Kapiteln herauszuholen, ist ein generelles Verständnis der Funktionsweise des menschlichen Körpers und seiner Systeme erforderlich. Grundlage aller Tests und Übungen in diesem Buch ist die Art und Weise, wie der Körper Bewegungen auslöst, wahrnimmt und optimiert. Das Verständnis der Funktionsweise des eigenen Körpers erklärt dem Sportler Sinn und Zweck dieser Tests und Übungen.
Der häufigste Trainingsfehler, der mir im Profi- wie aber auch im Amateursport aufgefallen ist, hat mit der Schwerpunktsetzung zu tun. Meist wissen die Sportler mehr über ihre Trainingsprogramme als über ihren eigenen Körper und ihre Bewegungsabläufe. Im medizinischen Bereich würde das einem Patienten entspre-chen, der mehr über Medikamente weiß als über die Krankheit, die sie heilen oder behandeln sollen.
Viele der im Sport gebräuchlichen Bewertungs-tools und -tests haben keine direkte Auswir-kung auf die Trainingsprogramme. Mit den gewonnenen Daten werden zwar Profile für jeden Athleten erstellt, sie werden aber nicht dazu herangezogen, das Programm leistungsfördernd und individuell an den jeweiligen Athleten anzupassen. Ein Sportler, der seine individuellen Testergebnisse weder kennt noch versteht, hat keine Möglichkeit, seine Fortschritte zu überprüfen und sein Trainingsprogramm dementsprechend zu überarbeiten.
In den nun folgenden Kapiteln werde ich Ihnen eine neue Methode erklären, mit der Sie die Informationen aus den Tests optimal für Ihr Konditionstraining verwenden können. Die Untersuchungsergebnisse sind so zusammengestellt, dass der betreffende Sportler auch versteht, was die Ergebnisse bedeuten und welche Schwächen sie offenbaren. In den einzelnen Blöcken (Teil II bis IV) werden dann Trainingsprogramme vorgestellt, die sich auf die Tests in demselben Block beziehen. Kurz – die Lösung wird direkt nach der Diagnose des Problems geliefert.
Motorik – die Lehre von der Bewegung
In der Computerfachsprache wird ein großer Unterschied zwischen Hardware und Software gemacht. Anhand dieser Unterteilung kann man ebenfalls verdeutlichen, wie der Körper Bewegungen auslöst, wahrnimmt und perfektioniert. Der Begriff Hardware bezieht sich auf die Komponenten der realen Maschine; Software hingegen bezeichnet die Programme (Befehle oder Anweisungen), die es der Maschine ermöglichen, die von ihr geforderte Aufgabe zu erfüllen. Wenn wir über den menschlichen Körper sprechen, einschließlich seiner Muskeln, Gelenke, Bänder und aller anderen Körperteile, so sprechen wir quasi von der Hardware des Körpers. Diskutieren wir die Motorik oder Motorische Programme, so befinden wir uns auf dem Gebiet der Software des Körpers.
Mit dem Begriff Motorische Programme beschreibt man »Methoden«, die das Gehirn einsetzt, um Bewegungsinformationen möglichst sparsam und flexibel zu speichern. Wenn Sie zum Beispiel Rad fahren, einen Golfschläger schwingen oder einen Freiwurf beim Basketball ausführen, dann entwickeln Sie hierfür ein Motorisches Programm, mit dem Sie diese Tätigkeit beliebig oft reproduzieren können, ohne jedes Mal die Bewegung an sich erneut erlernen zu müssen.
Das Motorische Programm ist für den Köper eine Möglichkeit, Energie und Speicherplatz zu sparen. Das Gehirn entwickelt dazu eine spezifisch programmierte Abfolge von Bewegungen, speziell ausgerichtet auf den jeweiligen Körper und die bezweckte Tätigkeit. Damit wird erreicht, dass nicht jedes Mal, sobald eine Bewegung ausgeführt werden soll, alle Einzelkomponenten dieser Bewegung neu kombiniert werden müssen. Beispiel: Immer wenn Sie auf die Driving Range gehen, können Sie im Gehirn die »Datei« über den Golfschlag öffnen, ohne die komplexe Schlagbewegung aus ihren Einzelbewegungen zusammensetzen zu müssen. Je öfter ein Motorisches Programm angewendet wird, desto effizienter wird es und umso besser ist das Feintuning der Bewegung. Profisportler entwerfen Motorische Programme, die so hoch entwickelt sind, dass sie sie auch unter wechselnden Bedingungen und hochgradigem physischen wie auch mentalen Stress noch effektiv abrufen können.
Das Gehirn setzt ein Motorisches Programm, zum Beispiel für einen Golfschlag, aus einer Abfolge von Einzelbewegungen zusammen, wodurch der Sportler effizienter auf diese Bewegungsabfolge zugreifen kann.
Also alles eine Frage der Übung? Nicht notwendigerweise. Wird ein Bewegungsablauf in schlechter formaler Technik trainiert, so wird diese schlechte Ausführungsform mit dem Motorischen Programm abgespeichert. Übung allein führt nicht zur Perfektion;...