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Der Philosoph des Freikletterns

Die Geschichte von Paul Preuß

AutorReinhold Messner
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783492956949
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Paul Preuß hat die Geschichte des Alpinismus geprägt wie kaum ein anderer. Vor genau 100 Jahren entfachte sein Aufsatz »Künstliche Hilfsmittel auf Hochtouren« einen Streit innerhalb der Bergsteigerelite, der noch heute nachklingt. Mit seinem Eintreten für den reinen Kletterstil ohne Haken wurde er zum »Erfinder des Freikletterns« und untermauerte seine Thesen durch visionäre Alleingänge in den Alpen. Reinhold Messner stellt uns den »komplettesten Bergsteiger der Alpen« vor und schildert, warum seine Ideen bis heute nichts von ihrer Sprengkraft eingebüßt haben.

Reinhold Messner, Grenzgänger, Autor und Bergbauer, wurde 1944 in Südtirol geboren und wuchs in einem Bauerndorf auf. Bereits 1949 ging er zum ersten Mal in Begleitung seines Vaters auf einen Dreitausender. Nach seinem Technik-Studium arbeitete er kurze Zeit als Mittelschullehrer, ehe er sich ganz dem Bergsteigen verschrieb. Seit 1969 hat er mehr als hundert Reisen in die Gebirge und Wüsten dieser Erde unternommen. Dabei gelangen ihm zahlreiche Erstbegehungen und Achttausenderbesteigungen sowie eine Längsdurchquerung Grönlands. Reinhold Messner war nie um Rekorde bemüht, ihm geht es um das Ausgesetztsein in möglichst unberührten Naturlandschaften und das Unterwegssein mit einem Minimum an Ausrüstung. Er hielt Vorträge in ganz Europa, den USA, Japan, Australien, Südamerika, drehte Dokumentarfilme und veröffentlichte Artikel, u.a. in »Stern«, »Spiegel«, »GEO«, »Epoca«, »Espresso«, »National Geographic«. Seine Buchveröffentlichungen wurden in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Von 1999 bis 2004 saß er für eine Legislaturperiode als Parteiloser für die Grünen im Europaparlament. Mittlerweile widmet Messner sich vor allem den Messner Mountain Museen (MMM) an sechs verschiedenen Standorten in den Alpen, seinen Film- und Buchprojekten sowie der Messner Mountain Heritage, die sich dem Narrativ des traditionellen Bergsteigens verpflichtet. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt den Schlüsselgeschichten des Alpinismus. Zuletzt erschienen u.a. der SPIEGEL-Bestseller »Sinnbilder: Verzicht als Inspiration für ein gelingendes Leben« (mit Diane Messner) sowie »Gebrauchsanweisung für Südtirol«.

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Leseprobe

Paul Preuß – sein Leben

1786, am 8. August, besteigen Michel Paccard, ein Arzt, und Jacques Balmat, ein Kleinhäusler aus Chamonix, den Montblanc, den höchsten Berg der Alpen.

Fast genau 100 Jahre später, am 19. August 1886, wird in Altaussee im Salzkammergut Paul Preuß geboren. Seine Mutter, geborene Caroline Lauchheim, Elsässerin, hatte 1871 Straßburg verlassen, um bei Baron von Rosenberg als Hauslehrerin tätig zu werden.

Im Schloss Ebenzweier am Traunsee im Salzkammergut verbrachten die Rosenbergs den Sommer. Dort trafen sich Caroline Lauchheim und Eduard Preuß, der den beiden Kindern der Familie Rosenberg zweimal in der Woche Musikunterricht gab.

»Wir wissen, dass Eduard Preuß Blumen liebte, dass er Grund um das Haus ankaufte und einen Garten mit relativ seltenen Bäumen, mit einer Unzahl von Rosenstöcken anlegte. Er unternahm häufig Wanderungen.«

Edi Schaar

Die Familie Preuß stammte aus Fünfkirchen in Ungarn, und Eduard, 1847 als zweiter Sohn geboren, kam nach Wien, um Musik zu studieren. Die Sommermonate, Ende Mai bis Anfang Oktober, verbrachte Eduard Preuß wie viele andere Wiener in Aussee in der Steiermark. Er und Caroline Lauchheim trafen sich nun regelmäßig im Schloss Ebenzweier, besuchten sich gegenseitig.

Am 12. September 1882 heirateten sie. Caroline war knapp 25 Jahre alt, Eduard 36. Im Winter lebte das junge Paar in Wien, zuerst Franz-Joseph-Kai 25, dann 39, den Sommer verbrachte es in Aussee, wo 1883 die erste Tochter, Sophie, zur Welt kam. 1884 wurde in Wien Mina geboren, das zweite Mädchen. Im Mai 1886 zog die Familie Preuß in ein eigenes kleines Sommerhaus nach Altaussee, wo am 19. August, um 1.30 Uhr, Paul geboren wurde. Der Alpinismus, damals gerade 100 Jahre alt, steckte in einer ersten Umbruchphase. Die meisten der großen Alpengipfel waren »erobert«, da und dort schon schwierigere Routen gefunden.

Noch aber ging es nicht um die elegante Linienführung einer Erstbegehung, nicht um die Kunst des Kletterns, nicht um den Stil. Die Zeit der führerlosen Alpinisten war gerade erst angebrochen und hatte, 1885, bereits ihren kühnsten Vertreter verloren: Dr. Emil Zsigmondy war 24-jährig an der Südwand der Meije in den französischen Alpen abgestürzt.

Im August 1886, gerade als Paul Preuß geboren wurde, bezwangen Winkler und Zott die Cima della Madonna in der Pala-Gruppe/Dolomiten, und ein Jahr später, 1887, wagte derselbe Georg Winkler den Soloaufstieg auf den kühnsten der Vajolettürme im Rosengarten, der heute Winklerturm heißt. 1886, im Geburtsjahr von Paul Preuß, ist John Ball, Gründer des britischen Alpine Club, 68 Jahre alt. John Tyndall, Alpinist und Wissenschaftler ist 66; Eduard Whymper, der Erstbesteiger des Matterhorns, 46; Douglas Freshfield 41; Albert Frederik Mummery, der mit seinem Ruf nach »fair means« als Vorläufer von Paul Preuß gesehen werden kann, 30.

Jünger sind die großen deutschsprachigen Persönlichkeiten des Alpinismus. Der Dolomiten-Erschließer Paul Grohmann ist 48; der unermüdliche Ludwig Purtscheller 37 wie der Alpenmaler E.T. Compton; Julius Kugy 28; Karl Blodig, der später von Preuß schwärmen sollte (»Nie hätte ich gedacht, dass ein Mensch so geschickt sein könne«), 27 und Eugen Guido Lammer 24.

Paul Preuß verbrachte die Sommermonate mit seinen Eltern und den beiden Schwestern in Altaussee, spielte mit den anderen Kindern und begleitete seinen Vater, der ein begeisterter Hobbybotaniker war, oft auf Spaziergängen.

Der sechsjährige Paul war grazil, fast schwächlich; einen Winter und einen Frühling verbrachte er zwischen Bett und Rollstuhl, da er durch eine Infektion (polioähnlicher Virus) teilweise gelähmt war.

Wieder genesen, gaben Gymnastik und Spaziergänge dem Kind Kraft und Geschicklichkeit zurück. In dieser Zeit begeisterte sich Paul Preuß für die Bergblumen, er spielte Schach, mit der Mutter sprach er Französisch.

Paul Preuß war zehn Jahre alt, als 1896 sein Vater starb. Die Mutter heiratete nicht wieder. Paul setzte sein Wandern fort, zuerst mit den beiden Schwestern, später mit Spielkameraden, oft allein. Er hatte immer einen Spiegel und eine Trillerpfeife in der Tasche, und wenn er auf einem Gipfel stand, pfiff er oder spielte mit den Sonnenstrahlen.

Mit elf Jahren begann Paul, richtig bergzusteigen, und innerhalb von fünf Jahren mag er auf 300 Gipfeln gestanden haben. Sicher hat er in diesen Jahren den Grundstock für sein späteres Können gelegt. Er war völlig frei; ohne Aufsicht kletterte er in den Bergen herum, der Abgrund wurde ihm etwas Selbstverständliches.

Jugend

Wir wissen nichts Genaues über diese wilden Jahre, ein Bergtagebuch hat Paul Preuß erst 1910 zu schreiben begonnen. Nur was die Schwestern erzählten und was mir Emmy Eisenberg, spätere Hartwich-Brioschi, in Briefen schrieb, kann ich aus dieser Zeit wiedergeben.

Diese Emmy – sie ist vor wenigen Jahren verstorben – war die ideale Tourengefährtin für Paul Preuß. Leicht wie eine Feder, stieg sie ihm überallhin nach und beklagte sich nie. Emmy Eisenberg entstammte einer vornehmen Wiener Familie. Sie war bekannt für ihre eigenwillige und moderne Lebenshaltung. Sie darf als große Freundin des jungen Preuß verstanden werden. »Die Gipfel«, sagte sie, »sind die einzigen sichtbaren Ideale, die man schnell erreichen kann.«

Elegant wie Emmy Eisenberg war auch Paul Preuß. Er gehörte nicht zu den verwilderten Typen in den Bergen, die glaubten, durch Schlampigkeit ihre Überlegenheit ausdrücken zu müssen. Meistens kletterte er ohne Kopfbedeckung, dafür trug er eine Seidenkrawatte – je nach Jahreszeit weiß, blau oder violett. Im Fels bevorzugte er eine einfache Steirische Tracht und ließ sich die Kleidung nach seinen Vorstellungen umändern. Praktisch und elegant musste sie sein.

In seinem Zimmer im Häuschen in Altaussee, wo er bei Regenwetter schrieb, las und Karten studierte, herrschte eine bestimmte Ordnung, auch wenn Rucksäcke, Kletterpatschen, Seile neben Routenskizzen, Rezensionen und Büchern Platz haben mussten. Er wollte sich mit seinen »besten Sachen« umgeben. Da standen auch die Fotografien von Georg Winkler und Emil Zsigmondy, zwei Bergsteiger, die er besonders verehrte, und ein Schrank, an dem er trainierte. Dazu stellte er zwei Gläser umgekehrt auf den oberen Rand des Schrankes und machte an ihnen Klimmzüge. Ein Kunststück, das niemand nachmachen konnte, das dem Freikletterer aber seine Überlegenheit im brüchigen Fels gab. Trotzdem, seine Hände waren feingliedrig wie die eines Künstlers.

Er balancierte auf dem Stiegengeländer auf und ab, konnte mit beiden Händen einarmig Klimmzüge machen und sprang, kleine Felsvorsprünge ausnutzend, über reißende Bergbäche.

Mit einer Begehung der Planspitze-Nordwand im Gesäuse über die Pichl-Route – es war am 11. Juli 1908 – begann die sportliche Phase im Bergsteigerleben von Paul Preuß. Er hatte die Tour allein, mit einem Biwak auf dem Hochtor, ausgeführt und beurteilte sie selbst als seine erste Bergfahrt mit sportlichem Wert. Sie sollte seine Entwicklung wesentlich beeinflussen. Paul Preuß sah das Klettern als eine natürliche Fähigkeit des Menschen an, und er wollte diese Einstellung kompromisslos leben. Die Berge waren ihm nicht Feind, sie waren ihm Medium, ein Maß für die Kräfte und Fähigkeiten des Menschen, sowie Abgrund nach innen.

Dieses Selbstverständnis ist es, das in all seinen Schriften, in der Tourenwahl, in seiner Persönlichkeit klar wird. Preuß war der bedeutendste Alpinist seiner Zeit: wegen seiner Aussagen, seiner Einflüsse, seiner Ideen – und ob der Zahl und der Qualität seiner Besteigungen. Das Preuß-Tagebuch beginnt 1910 und endet mit dem 16. Juni 1913. Da fast ausschließlich technische Daten darin enthalten sind, beschränke ich mich darauf, im Anhang eine Tourenübersicht zu veröffentlichen. Seine Aufsätze, seine Streitschriften, seine Tourenschilderungen, die er für Zeitschriften verfasst hat, habe ich in den Mittelteil dieses Buches gestellt, weil sie der Person des Paul Preuß als Mensch, Bergsteiger und Visionär am ehesten gerecht werden, weil im Grunde nur sie das richtige Licht auf sein Wesen und sein Können werfen.

Wie viel Energie dieser Mann hatte, wie viel Begeisterung auch, wird nur verständlich, wenn man bedenkt, wie viele Touren er in kürzester Zeit bewältigen konnte. So stieg er vom 4. bis 8. Juni 1911, in fünf Tagen also, im Gebiet des Zuckerhütl in den Stubaier Alpen mit Skiern auf 22 verschiedene Gipfel. Vom 20. Juli bis 3. August desselben Jahres gelangen ihm in der Brenta-Gruppe in den Südwestlichen Dolomiten neun große Touren, darunter zwei bedeutende Erstbegehungen. Anschließend war er in der Langkofel- und Rosengarten-Gruppe, wo er in zwei Wochen gleich 30 Gipfel bestieg, einige Neutouren inklusive. 16 Gipfel, alle mehr als 3000 Meter hoch, bestieg er vom 27. Februar bis 6. März 1912 im Großglocknergebiet.

Mit 20 Jahren hatte Paul Preuß extrem zu klettern begonnen, und seine Touren wurden von nun an von Jahr zu Jahr schwieriger und zahlreicher. Von den Felswänden rund um Altaussee – Trisselwand, Sandling – ging er ins Tote Gebirge und ins Gesäuse. Von Wien aus fuhr er Wochenende für Wochenende in die Rax, zum Schneeberg oder zum Semmering. Bald schon dehnte er seine Bergabenteuer in die Julischen Alpen, in die...

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