2. Vorlesung
Die goldenen Jahre: Psychoanalyse und Hollywood (1945–1965)
Um 1930 war die Psychoanalyse in Europa von den Exponenten der Hochkultur wie Thomas Mann, Arnold Zweig etc. akzeptiert, Freud erhielt in Frankfurt den Goethepreis. Die Begeisterung der Surrealisten für seine Werke hielt Freud allerdings für ein Missverständnis: Speziell André Breton, der im Ersten Surrealistischen Manifest 1924 die „Allmacht des Traums“39 beschwor, war gerade vom Irrationalen des Traumes fasziniert und nicht von dessen rationaler Deutung. Daher finden sich in den surrealistischen Avantgardefilmen auch beeindruckende Traumbilder – aber im Sinne der Selbstanalyse ihrer Schöpfer kommen diese Filme ohne Analytiker aus! Dies gilt ebenso für die Alptraumdarstellung in Luis Buñuels UN CHIEN ANDALOU wie für die amerikanischen Filmsurrealisten wie Maya Deren (MESHES OF AN AFTERNOON) oder Kenneth Anger (FIREWORKS).
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurden die „entarteten“ Künstler ebenso verfolgt wie die Psychoanalytiker, ihre Werke verboten wie Freuds Bücher. Die meisten, die noch fliehen konnten, gingen nach Amerika. Dort gab es 1947 noch einen surrealistischen „Episoden-Traum-Film“: Der emigrierte Dadaist Hans Richter schuf die Rahmenhandlung, heute legendäre Künstler steuerten je eine Traumepisode bei: Max Ernst, Fernand Léger, Man Ray, Marcel Duchamp und Alexander Calder! Das Ergebnis war ein Farbfilm in voller Spielfilmlänge mit dem schönen Titel DREAMS THAT MONEY CAN BUY. Aber auch dieser Film blieb ein Avantgardeprodukt für eine kleine Minderheit amerikanischer „High-brows“.
Zur gleichen Zeit aber war in den USA Freuds Lehre bereits tief in die Populärkultur eingedrungen, spätestens seit Erfindung des Tonfilms auch in den Mainstream-Hollywood-Film als florierendes Medium der Massenunterhaltung. Oft war die Figur des Therapeuten im Film einfach nur ein willkommenes dramaturgisches Mittel, ein Kunstgriff zur Erzählung einer Rückblende – analog zur neutralen und oft farblosen Figur des „Vertrauten“ oder „Beichtvaters“ als Erzähler im Roman des neunzehnten Jahrhunderts.
Der amerikanische Schriftsteller Henry James fand in einem Essay dafür 1919 den Ausdruck „Ficelle“: Ficelle nennt man auf Französisch den Faden, an dem der Marionettenspieler seine Puppe hält und führt. Die Ficelle ist also eine erzähltechnische „Sprechpuppe“, die dazu dient, dem Leser beziehungsweise dem Zuschauer im Kino möglichst viele Informationen über das Innenleben, die Phantasien etc. der Hauptfigur zu liefern. Der Psychotherapeut war für diese dramaturgische Aufgabe ideal: Er musste nicht sprechen, konnte sogar unsichtbar bleiben und war die ideale Begründung dafür, dass die Hauptperson ihre innersten Gefühle, Ängste und Hoffnungen äußern oder auch die Therapiesituation als Rahmen für Rückblenden nutzen konnte.
Ein späteres von vielen Beispielen für diesen dramaturgischen Mechanismus ist LEAVING LAS VEGAS. Der gesamte Film ist eine einzige Rückblende, der von der Hauptdarstellerin nach dem tragischen Ende ihrer Liebesgeschichte einem Therapeuten erzählt wird, den man im Film nie sieht …
Schon 1923 sieht man in FLAMING YOUTH von Cecil B. de Mille die Darstellerin der emanzipierten jungen Frau vertieft in die Lektüre eines Buchs von Freud.40 Es gab immer wieder parodistische Bezüge auf Freud in Musical-Songs wie z. B. 1933 – immerhin von George und Ira Gershwin:
Doctor Freud and Jung and Adler,
Adler and Jung and Freud,
six psychoanalysts we!
Just let us make one diagnosis –
we’ll know what loss is! 41
Allgemein bekannt war die Karikatur des „Viennese quack“ (= Quacksalber), des aus Wien emigrierten Psychoanalytikers mit Brille, Bart und starkem Akzent. Angeblich waren die Honorare umso höher, je heftiger der Akzent war …
In den 1930er- und 40er-Jahren war es in Hollywood für Filmmenschen ebenso schick, in Psychoanalyse zu sein, wie es heute die Beschäftigung mit Zen-Buddhismus oder der Kabbala ist. Die Gründe für den Siegeszug der Psychoanalyse in Amerika sind sicher komplex: Der Soziologe Eli Zaretsky beschrieb die Psychoanalyse (verstanden in einer sehr pragmatisch-technokratischen Form der „Persönlichkeitsentwicklung“) als ideale innerpsychische Ergänzung in einer von Massenproduktion und Massenkonsum geprägten Zeit:
„… man streifte der eisernen Faust der Rationalisierung den Samthandschuh des Massenkonsums über. […] Die Psychoanalyse eröffnete einen Zugang zur inneren Welt und setzte das primär prozesshafte Denken frei, ohne das Rationalisierungen äußerlich blieben. Auf der anderen Seite trug sie dazu bei, dass das persönliche Leben und die Sexualität im System von Planung und Ordnung einbezogen werden konnten.“ 42
Die von Zaretsky beschriebene „Einbeziehung“ leistete auf der akademischen Ebene die Ich-Psychologie: Der Wechsel des Fokus vom Es auf das Ich und seine „autonomen Anteile“ in den Schriften von Hartmann, Kris und Loewenstein schuf die Basis für die Hegemonie der Psychoanalyse an den amerikanischen Universitäten bis weit in die 1960er-Jahre hinein. Die Popularisierung und Trivialisierung analytischer Konzepte zum „Pursuit of happiness“ sowohl in Zeitungskolumnen, in der Ratgeberliteratur als auch in Hollywood ging noch viel weiter – und viel weiter weg von Freuds Intentionen: In seiner programmatischen Rede vor Kollegen „Wege der psychoanalytischen Therapie“ hatte Freud kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs realistisch-resignativ bemerkt:
„Gegen das Übermaß von neurotischem Elend, das es in der Welt gibt und vielleicht nicht zu geben braucht, kommt das, was wir davon wegschaffen können, quantitativ kaum in Betracht […] Für die breiten Volksschichten, die ungeheuer schwer unter den Neurosen leiden, können wir derzeit nichts tun.“43
Eine solche Position wäre in den USA als elitär und antidemokratisch eingeschätzt worden und hätte die Psychoanalyse marginalisiert. Erst durch die (unheilige?) Verschmelzung freudianischer Begriffe wie z. B. dem Kindheitstrauma und den unbewussten Konflikten mit dem uramerikanischen „Ethos der Selbstverbesserung“ wurde die Breitenwirkung möglich:
„Die Sprache der Psychotherapie drängte aus dem Reich der Experten hinaus – und in das Reich der Populärkultur hinein – wo sie sich mit diversen anderen Schlüsselkategorien der amerikanischen Kultur wie dem Streben nach Glück, Selbständigkeit und Selbstvertrauen sowie dem Glauben an die Perfektionierbarkeit des Selbst verbündete und verschränkte. Tatsächlich konnten die Freudschen Prämissen über das Selbst Einzug ins Herz der amerikanischen Kultur halten, nachdem seine Perspektive durch andere Theoretiker hinreichend modifiziert worden war, um Platz für die Idee der Perfektionierbarkeit des Selbst zu schaffen.“44
Eva Illouz betont in ihrer Nachzeichnung vom Siegeszug des „therapeutischen Narrativs“ die Wichtigkeit Hollywoods für die Einschreibung dieses verharmlosten psychoanalytischen Weltbildes in den amerikanischen Traum:
„Eine der wichtigsten kulturellen Stätten [...], an denen so mancher Schlüsselbegriff der Psychoanalyse sowie die therapeutische Erzählung des Selbst propagiert wurden, war Hollywood.“45
Bei einer solchen Popularisierung überrascht es uns nicht, einen Psychoanalytiker als Helden eines Musicals zu sehen. Ausgerechnet Fred Astaire spielte 1938 in CAREFREE den Seelendoktor und behandelt Ginger Rogers (alles natürlich tanzend):
Astaire: „Ich will Ihnen nur helfen, sich selbst zu finden.“
Rogers: „Wenn ich verloren gehe, werde ich Sie rufen!“
Natürlich geht es hier nicht um Therapie – Astaire ist ebenso wenig Doktor, wie Rogers therapiebedürftig ist –, aber Hollywood reagierte auf die intellektuelle Tagesmode.
Viel seriöser und zumindest in Ansätzen näher an der realen therapeutischen Arbeit wird eine Psychoanalyse 1944 in dem Film LADY IN THE DARK präsentiert: Wieder spielt Ginger Rogers die Patientin, ihr Psychoanalytiker Barry Sullivan erscheint zurückhaltend, seriös bis elegant, sowohl hilfreich als auch „abstinent“ beziehungsweise neutral bis „faceless“.46
Zu Beginn des Films sehen wir Ginger Rogers als Karrierefrau, als Herausgeberin einer Modezeitschrift – durch Verhalten und eher strenge Kleidung als „Businesswoman“ erkenntlich. Aus ihr selbst unerklärlichen Gründen ist sie ziemlich unglücklich. Im Privatleben kann sie sich nicht entscheiden, ob sie eher der Werbung eines deutlich älteren Freundes nachgeben soll, der sie (wenn er endlich geschieden ist) sofort heiraten möchte, oder doch einen deutlich jüngeren potenziellen Geliebten (einen berühmten Filmstar) erwählen soll. Mit dieser Problematik beginnt sie – vorerst sehr skeptisch – eine Analyse bei Barry Sullivan. Schon in der ersten Stunde zeigt der Film eine Ballett-Traumsequenz, in der zweiten Stunde erzählt sie den Traum von der Hochzeit mit dem älteren Geliebten. Diese Träume und Assoziationen werden im Film ebenso wie eine spätere Kindheitserinnerung als Musical-Szenen realisiert. An ihrer Arbeitsstelle wird sie von einem Angestellten belästigt, der es sichtlich...