SPIEGEL-TITEL 44/2016
Der erste Rebell der Neuzeit
Der 31. Oktober 1517 gilt als Beginn der Reformation. Mit seinen 95 Thesen, seiner Frömmigkeit und seinem Hass hat Martin Luther Deutschland geprägt wie kein anderer. Von Georg Diez
Der eine Mann schaut mutig in die Welt, fast wie ein Krieger. Sein Blick offen und selbstbewusst, Gott ist auf seiner Seite. Er weiß, es gibt kein Zurück.
Der andere Mann dagegen schaut müde. Er ist mächtig, das sieht man an seiner Gestalt, an seiner Pose. Er ist sich immer noch sicher, dass Gott auf seiner Seite steht. Aber er weiß auch, wie viele Opfer die Kämpfe gekostet haben, die er ausgelöst hat, und er weiß wohl auch, wie viele Opfer es noch geben wird.
Das eine Bild zeigt Luther als hageren Mönch, mit Tonsur und Kutte. Es ist das Jahr 1520, in dem einige seiner wichtigsten Schriften erscheinen. Es ist das Jahr, in dem Luther zu dem Luther wird, den wir zu kennen glauben.
Das andere Bild zeigt Luther als Würdenträger mit feistem Gesicht. Seine Ängste, die immer stark waren, werden fast übermächtig in dieser Zeit. Er rechnet mit dem Ende, der Apokalypse. Es ist das Jahr 1541, in dem die Türken die Städte Buda und Pest erobern. Für Luther sind die Türken, wie er schreibt, „des Teuffels diener, das hat keinen Zweifel“.
In den Jahren, die zwischen den beiden Bildern liegen, die Lucas Cranach der Ältere von Martin Luther machte, war die Welt eine andere geworden. Sie war brüchiger geworden, komplizierter, größer, moderner. Schon in den Jahrzehnten zuvor hatte sie große Fortschritte gemacht. Johannes Gutenberg hatte um 1450 die Druckerpresse mit beweglichen Metalllettern erfunden und damit eine mediale Revolution hervorgerufen, die Luthers Wirkung erst möglich machte. Christoph Kolumbus hatte 1492 Amerika entdeckt und eine frühe Globalisierung in Gang gesetzt. In Italien arbeiteten Künstler und Gelehrte der Renaissance wie Leonardo da Vinci daran, den Menschen ins Zentrum des Denkens zu stellen, was Luther auf seine Weise bekämpfte. Und Luthers Zeitgenosse Nikolaus Kopernikus stellte fest, dass sich die Erde um sich selbst und um die Sonne dreht. Es waren bewegte, verwirrende Zeiten, für alle.
Der Mensch wurde sich seiner Möglichkeiten bewusst, der Weg der Freiheit zeichnete sich ab – das alles steigerte die Angst derjenigen, die diesen Weg nicht mitgehen wollten. Es war ein Zeitalter im Umbruch, ganz ähnlich wie heute. Die technischen, naturwissenschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen erzeugten einen Druck, dem das gesellschaftliche Gefüge nicht länger standhalten konnte. Und Martin Luther war mittendrin, er war der Mann auf der Schwelle, er war es, der das Alte mit dem Neuen verband, auf eine so einmalige Art, dass er noch heute als Modell dienen kann, der erste Rebell der Neuzeit.
Er war der Mann, der die Kirche nicht spalten wollte und schon gar nicht die Welt, denn Welt und Kirche waren eins im Mittelalter – aber der Bruch, der von ihm ausging, setzte die Kräfte frei, die Europa in die Neuzeit vorantrieben.
Er formulierte den Zweifel an Teilen der herrschenden Lehre, und weil der Zweifel dem Menschen eigen ist, stärkte er den Einzelnen gegenüber der Institution, das war sein Widerstand. Er bot dem Papst die Stirn und dem Kaiser und der Korruption, die die weltliche und die geistliche Macht verband, er war ein moralischer Krieger, und etwas von diesem Fanatismus ist bis heute geblieben.
Er wollte die Kirche retten, die er teilte, das ist der Widerspruch Luthers, der aus einem tiefen Glauben heraus handelte, weil er sah, dass dieser Glaube in Rom verraten wurde. Die Reformation also, die „Wiederherstellung“ oder „Erneuerung“, das ist die eigentliche Bedeutung dieses Wortes, war tatsächlich eine Revolution. Die Folge von Luthers Tat waren neue Institutionen, er veränderte die konfessionelle Landkarte in Deutschland, er setzte einen Prozess in Gang, der das Denken, den Glauben und die abendländische Kirche grundlegend umstürzte.
Ein halbes Jahrtausend danach sind die Folgen noch immer spürbar, kulturell und politisch, sie betreffen Alltag wie Kunst, Essen wie Musik. Luther wurde zum Erfinder der Deutschen. Wie so oft in der Geschichte ist es schwierig, Folge, Wirkungen und Zufall auseinanderzuhalten – aber etwas war in ihm, Luther, diesem groben, genialen, ehrgeizigen, volksnahen Mönch und Professor, das ihn zum wütenden Weltenstürzer werden ließ.
Weil auch das deutsche Reich in einer Krise war, agierte er in einem hochpolitischen Umfeld, er baute seine Macht auf die Unterstützung einiger Fürsten, die ihn beschützten, weil sie ihre Macht gegenüber dem deutschen Kaiser stärken wollten, die ihm 1518 die Flucht ermöglichten und ihn 1521 sich auf der Wartburg verstecken halfen. Er war und ist für viele eine deutsche Sehnsuchts- und Schicksalsgestalt und eine Figur auf dem Schachbrett der europäischen Geschichte – jede Zeit sieht einen anderen Luther, jeder hat seinen eigenen Luther.
Dabei ist dieser Mann immer noch nah, in seinen Widersprüchen, in seinem Wollen, in seinen eigenen Worten. Er ist der Mann zwischen Mittelalter und Neuzeit.
Martin Luder, mit diesem Namen wurde er geboren, am 10. November 1483 in Eisleben, der erste oder zweite Sohn, ganz sicher ist das nicht, von insgesamt wohl neun Kindern – mitten im damals boomenden mitteldeutschen Bergbaugebiet, wo der Vater vom Bergmann zum Hüttenpächter aufstieg. Seine Familie war den Zwängen der Herkunft enthoben und doch dem Druck der Erwartungen verpflichtet. Sie war nicht arm und nicht bäuerlich, wie es manche Lutherlegende wollte, sondern Teil des im 16. Jahrhundert entstehenden Bürgertums und durchaus wohlhabend – Martin sollte den Aufstieg fortsetzen, er sollte Jura studieren, das war der Plan des Vaters.
Hans Luder hieß der Vater, streng guckt er auf dem Bild, das Cranach auch von ihm gemalt hat, breite Stirn, wuchtige Nase, der Blick in die Ferne – seine Frau Margarete dagegen, hager, fast bäuerlich karg in ihrem Aussehen, hat ihren Blick nach innen gewendet.
Der Vater ließ den Sohn in verschiedenen Dom- und Pfarrschulen erziehen – schon äußerlich unterschied sich der junge Martin damals von seinen Altersgenossen durch die Uniform, die er trug, die Uniform des Lateinschülers. Die Erziehung war streng und auf Strafen und Ordnung angelegt. Der junge Luther galt als zurückhaltend und auch etwas eingeschüchtert von dem harten Regiment, aber seine intellektuelle Begabung war früh deutlich.
1501 begann er sein Studium in Erfurt, einer der bedeutendsten Universitäten des Landes. Das vom Vater gewünschte Jurastudium im Jahr 1505 aber dauerte nur wenige Wochen, bis zu einem Ereignis, das durch Luther selbst zur Legende geworden ist.
Es war ein Gewitter, das alles veränderte, am 2. Juli 1505, in der Nähe des Dorfes Stotternheim. In Todesangst übergab Luther sein Leben Gott: „Hilff du, S. Anna, ich wil ein monch werden“, so schilderte er es später selbst. Die eigentümliche Wechselwirkung von Altem und Neuem, die Luthers Wesen und Werk prägte, wird hier deutlich – er wendet sich zurück, zum Aberglauben, zum Mittelalter, und forciert gerade dadurch den Gang in die Neuzeit.
Noch im selben Monat trat er gegen den Willen des Vaters ins Kloster der Augustinereremiten in Erfurt ein, wo es zu dieser Zeit Diskussionen über den Zusammenschluss verschiedener Konvente des Ordens gab. Luther wurde von diesen Diskussionen geprägt, er wurde hier zum Diakon und Priester und schließlich zum Professor in Wittenberg, wo es erst seit ein paar Jahren eine Universität gab. Er war der Mann des Neuen.
Unter dem Einfluss seines Mentors Johannes von Staupitz formte er in dieser Zeit sein theologisches Weltbild: Gottes Barmherzigkeit, so erkannte er, offenbart sich in Christus – der leidende Jesus, das war seine theologische Revolution, ist ein Zeichen der Hoffnung und des Heils. Es war die antike Tradition, die Luther dabei vor allem in seinem Denken beeinflusste, die Gnadentheologie des lateinischen Kirchenlehrers Augustinus, der im 4. und 5. Jahrhundert nach Christus gelebt hatte und eine entscheidende Figur im Übergang von der Antike zum Mittelalter war.
All das blieb die spirituelle Grundlage der theologischen Schlachten, die Luther später focht. Seine frühen Schriften als Theologieprofessor zeugen davon. In dieser Zeit, zwischen 1512 und 1518, formte sich sein Glaubensfundament. Er formulierte Revolutionäres und orientierte sich an der Vergangenheit.
Zum Werkzeug wurde ihm die Bibel selbst, er las sie immer wieder und neu – der Rückgriff auf die Quellen, auf die Ursprünge des Glaubens, eröffnete ihm einen Weg in die Zukunft. Die römische Kirche hatte sich von den Gläubigen getrennt, sie war ein System, das für sich selbst existierte – und die Angst ausnutzte und die Not der Gläubigen ausbeutete. Das war die spirituelle und institutionelle Krise, in die Luther seine Botschaft setzte – es gab eine Elite, die die Bibel lesen konnte, weil sie noch nicht verbreitet war, und es gab das Volk, das ausgeschlossen war.
Der Zeitgeist stand auf Umsturz. Das Neue war bereits in der Welt, in Gestalt der technischen, philosophischen und wirtschaftlichen Neuerungen, aber die alte Frömmigkeit und Heiligenverehrung hatte noch die Macht. Ein Riss ging durch die Welt. Angst prägte die Menschen des späten Mittelalters, die Angst vor allem vor dem Jenseits und vor den Qualen der Hölle – und die Kirche bot Ablassbriefe an, die das Heil im nächsten Leben an das Geld...