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E-Book

Der Regenwald

Ein schwindendes Paradies

AutorCatherine Caufield
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783105619469
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Catherine Caufield reiste um den Globus, um die Vielzahl der ökonomischen, sozialen und politischen Kräfte kennenzulernen, die unbarmherzig die Wälder für die Gewinnung von Zellstoff, Furnieren, Baumaterialien und Viehweiden vernichten. Sie zeigt, daß die Entwaldung ein Problem des Unwissens, der Habgier und der Überbevölkerung ist. »Der Regenwald« ist ein Aufruf an alle diejenigen, die eine bessere Zukunft für die Menschheit suchen, die möchten, daß auch ihre Kinder noch in der Lage sein werden, die faszinierendsten Lebensgemeinschaften, die jemals unseren Planeten bewohnt haben, zu hören, zu sehen und zu erleben. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Catherine Caufield ist Journalistin und Autorin. Ihr erstes Buch, »The Emperor of the United States of America and Other Magnificent British Eccentries«, erschien 1981.

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Leseprobe

1 Eine Stadt in Brasilien


»Ich will eine Stadt verkaufen.« Seine Worte, begleitet von einer ausladenden Geste, hingen unbeholfen in der Luft. Nach einer melodramischen Pause fuhr er fort: »Ich weiß nicht, ob ich es schaffen kann, aber es ist mein Traum. Brasilien ist ein Land, wo man noch träumen kann.« Es ist die Stadt Tucuruí im Amazonas-Regenwald, die Eduardo Albuquerque Barbosa zu verkaufen träumt. Im Jahre 1977 gab es den Ort noch nicht. Das Gelände der geplanten Stadt am linken Ufer des Rio Tocantíns beheimatete nur die Pflanzen und Tiere des Waldes. Innerhalb von drei Jahren änderten Büros, Restaurants, Gaststätten, Supermärkte, Tennisplätze, asphaltierte Straßen, Häuser für 52000 Menschen die Situation grundlegend. Eletronorte, Nordbrasiliens Elektrizitätsgesellschaft, ließ Tucuruí errichten, um die Arbeiter, die Brasiliens größtes Wasserkraftwerk bauen sollten, hier unterzubringen. Das Tucuruí-Projekt ist das größte technische Bauvorhaben, das jemals in einem tropischen Regenwald verwirklicht wurde. Wenn die Bauarbeiten 1986 beendet sind, wird die Tucuruí-Talsperre der viertgrößte Damm der Erde und nur etwas kleiner als der Assuan-Staudamm sein. Tucuruí, das dann seinen Zweck erfüllt hat, wird zur Geisterstadt werden, es sei denn, Barbosas Traum würde Wirklichkeit.

Eletronorte hat auf beeindruckende Weise für Unterkunft, Verpflegung und andere Annehmlichkeiten der Arbeiter und ihrer Familien gesorgt. In mancher Hinsicht ist das Leben dort wesentlich besser als in einer gewöhnlichen brasilianischen Stadt vergleichbarer Größe. Die Elektrizitätsgesellschaft sorgt für kostenlosen Schulunterricht und medizinische Behandlung. Es gibt ein Krankenhaus mit 220 Betten, vier Operationssälen und 50 Ärzten. An 22 Schulen werden insgesamt 15000 Schüler unterrichtet, Lebensmittel müssen per Lastwagen und Flugzeug aus dem 4800 km entfernten São Paulo herbeigeschafft werden. In den drei Supermärkten der Stadt gibt es Fernseh- und Stereogeräte, Waschmaschinen, Parfum von Yves Saint Laurent, Make-up von Helena Rubinstein, eine große Auswahl an Vogelkäfigen sowie die meisten anderen mehr oder weniger unentbehrlichen Dinge des Lebens.

Eine auffallende Besonderheit Tucuruís ist der Anblick uniformierter Gruppen von Arbeitern, die Bordsteine anstreichen, die Straßen fegen und die Parkanlagen in Ordnung halten. Wo immer man auch hingeht, ganz gleich um welche Tageszeit, findet man Gruppen von Männern und Frauen bei der Arbeit. Das erste, was ich sah, als ich eines Abends um halb zehn ankam, war eine Gruppe von Männern auf der Straße, die beim Schein der Straßenlaternen den Bordstein weiß anstrichen. Ein anderes Mal sah ich eine Schar von Straßenfegerinnen in braunen Hosenanzügen und dazu passenden Hüten die Straße entlanggehen – ein Bild wie aus Kambodscha nach der Revolution. Ergebnis ist die Verwirklichung des Traumes einer typischen amerikanischen Vorstadt aus der Zeit Präsident Eisenhowers. Der Aufbau und die Unterhaltung dieses sterilen Paradieses kosten Eletronorte drei Millionen Dollar pro Monat.

Es ist schwierig, von den Größenordnungen in Tucuruí nicht beeindruckt zu sein. Der Staudamm ist über 19 Kilometer lang. Der Stausee hinter dem Damm wird mehr als 2000 km² Regenwald überschwemmen, eine Fläche annähernd so groß wie das Fürstentum Luxemburg. Die Baukosten belaufen sich auf drei Millionen Dollar pro Tag. Die Arbeiter haben bereits mehr als sechs Millionen Kubikmeter Beton gegossen; zuvor mußte Eletronorte jedoch vier Kühlanlagen bauen, so daß mitten im Amazonasregenwald bei einer Höchsttemperatur von 12 °C Beton gemischt werden konnte. Fast alles, was für den Bau des Staudamms und für die Menschen, die ihn bauen, benötigt wird, kommt mit dem Lastwagen über die staubige, von Schlaglöchern und Radspuren zerfurchte Straße aus Brasília oder wird von Belém den Rio Tocantins hinuntergeflößt. Drei bis vier Monate im Jahr ist es sowieso zu naß, um irgend etwas zu tun. Trotzdem hat Eletronorte die meisten der gravierenden logistischen Probleme beim Bau des Staudamms und der Stadt bewältigt.

Nach Meinung Barbosas versucht Eletronorte – oder zumindest die örtliche Geschäftsleitung – »eine Art inoffizieller Neuverteilung des Besitztums vorzunehmen«. Alle Wohnungen gehören der Gesellschaft und werden den Arbeitern je nach Berufsgruppe zugeteilt. Außer den großen Mietskasernen, in denen die ungelernten Arbeiter wohnen, gibt es vier verschiedene Kategorien von Häusern. Die besten (für 20 Dollar Miete monatlich) sind aus Backstein und Beton gebaut und von hohen Zäunen umgeben. Die Häuser der untersten Kategorie bestehen aus vorgefertigten Holzteilen und sind nur von kurzer Lebensdauer; sie werden von Facharbeitern bewohnt. Diese Häuser haben ein Drittel der Wohnfläche der »besten« Häuser und werden für 1,50 Dollar im Monat vermietet. Jeweils mehrere Häuser derselben Kategorie stehen gruppenweise nebeneinander. Jede solche Gruppe ist wiederum von Häusergruppen anderer Kategorien umgeben. Theoretisch soll hierdurch die Vermischung verschiedener sozialer Klassen durch gemeinsames Wohnen und Lernen gefördert werden, denn der Einzugsbereich der Schulen umfaßt jeweils die gesamte Nachbarschaft. Bei genauerer Betrachtung stellt man jedoch fest, daß sich die Anzahl der »besten« Häuser zum Gipfel des Hügels hin, auf dem das neue Tucuruí erbaut ist, vergrößert – ein deutlicher Hinweis auf die soziale Schicht der Wohnungsinhaber. Sozusagen die symbolische Krönung der Stadt, auf dem Rücken des Hügels gelegen, ist Tucuruís bestes Hotel, dessen Schwimmbecken, Tennisplätze und klimageregelte Zimmer für auswärtige Ingenieure, Spezialisten, Journalisten und andere Leute reserviert sind, die Eletronorte besonders gut aufnehmen möchte.

Im Restaurant des Hotels führte ich das erste meiner vielen Gespräche mit Barbosa, der seit 1979 in Tucuruí arbeitet. Er war als Statistiker eingestellt worden, aber seine fremdsprachlichen Kenntnisse (er spricht Englisch, Französisch, Deutsch und natürlich Portugiesisch) zusammen mit seiner Vorliebe fürs Essen und Trinken sowie für die Konversation machten ihn zum idealen Public-Relations-Mann. Er ist über einen Meter achtzig groß und macht den Eindruck eines starken, aber nicht dicken Mannes. Aufgrund seines Auftretens und seiner Erscheinung sowie seiner Angewohnheit, mich zu belehren, schätzte ich ihn auf Ende Vierzig, bis ich erfuhr, daß er erst 29 Jahre alt ist.

Barbosa beteuerte, daß die Stadt Tucuruí ein wichtiges soziales Experiment darstelle: »Wir versuchen, die Dinge auf eine neue Art und Weise zu tun. Wir müssen eine neue Nation gründen – eine Nation, die auf dem einfachen Volk aufgebaut ist.« Ich hatte Mühe, seine Vorstellungen von einer »neuen Welt« politisch richtig einzuordnen. Die Idee, sozialwissenschaftliche Experimente in einer firmeneigenen Stadt durchzuführen, die binnen dreier Jahre fast völlig verlassen sein wird, erschien mir fast wie Selbstbetrug. Barbosa nannte sich einen Sozialisten, aber er verachtete den Sozialismus der Alten Welt. Er klang etwa wie ein idealistischer Berufsoffizier, der davon überzeugt ist, daß radikale Maßnahmen nötig sind, um sein Land vor dem Ruin zu retten. »Brasilien sollte seinen eigenen Sozialismus entwickeln und die anderen Länder Südamerikas zu einem lateinamerikanischen Sozialismus führen, der auf unseren eigenen Kulturen basiert«, erklärte er und fuhr fort: »Man kann die Leute zu nichts zwingen. Die Europäer fragen mich immer, warum es hier keine Gewerkschaften gäbe. Ich sage ihnen, daß wir keine Gewerkschaften für die Arbeiter gründen können. So wird das vielleicht in den Niederlanden gemacht, aber wir glauben, daß die Initiative von den Arbeitern selbst kommen muß. Sie haben keine Gewerkschaften, weil sie deren Zweck noch nicht erkannt haben. Der erste Schritt ist, Arbeit zu haben, Gewerkschaften kommen danach.«

Das neue Tucuruí ist zehn Kilometer vom alten Ort entfernt, der am Fluß liegt. Bevor Eletronorte hierher kam, hatte das alte Tucuruí etwa 3000 Einwohner, von denen die meisten der Jagd und dem Fischfang nachgingen und somit oft abwesend waren. Jetzt gibt es 40000 Menschen im alten Tucuruí, aber immer noch keine Kanalisation. Wenn man von der neuen Stadt in die alte kommt, ist das so, als ob man eine Bücherei verläßt und in einen Karnevalszug hineingerät. Plötzlich gibt es viele Menschen auf den Straßen, und keiner trägt eine Uniform. Jedes Haus ist ein Laden, und jede Ladentür ist weit geöffnet. An den Straßen entlang sind Waren ausgestellt – Fahrradreifen, Moskitonetze, Schuhe, Aluminiumtöpfe und -pfannen, noch mehr Schuhe, Kleidung, Obst und Gemüse und wieder Schuhe. Die Hauptstraße und praktisch der ganze Rest dieser jetzt ziemlich großen Stadt scheinen ein einziger Bazar zu sein.

Viele Häuser haben Wasserränder an den Wänden, bis zu einer Höhe von anderthalb Metern. Einige Häuser stehen in einer Art See. Man versicherte mir, daß das Wasser in ein bis zwei Monaten zurückgehe. Jedes Jahr bereiten sich die Einwohner auf die Überschwemmung vor und räumen ihre Häuser. Wenn das Wasser zurückgegangen ist, ziehen sie wieder ein und sehen dabei den jährlichen Auszug als eine Art Frühjahrsputz an. Der erste Eindruck ist der fröhlichen Chaos’ und großer Armut. Dafür, daß der größte Teil dieser Behausungen in den letzten...

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