26.10., Kathmandu
Die erste Nacht habe ich hinter mir, mein neuer Schlafsack hielt Tiefsttemperaturen um die neunzehn Grad souverän stand. Ich hoffe das Beste für die Zukunft.
Nach einem Pot nepalesischem Tee mit reichlich Gewürznelken, Kardamon und Zimt schlendere ich zum Durbar Square, seines Zeichens eine der Hauptsehenswürdigkeiten der Stadt mit seinen hinduistischen Tempeln und Pagoden, Plätzen und Palästen und schon Neunzehnhundertneunundsiebzig aufgenommen in das Unesco-Weltkulturerbe. Die Tauben kacken trotzdem alles voll und sorgen so noch zusätzlich für Lokalkolorit. Für den Eintritt bezahle ich an einer Straßenecke dreihundert Rupees, umgerechnet fünf Euro, um mich kurz darauf in einer Oase der Ruhe wiederzufinden. Kein motorisierter Verkehr mehr, hervorragend. Dichtes Gedränge herrscht trotzdem, man schiebt sich und mich vorbei an verfallenen, alten Häusern mit filigran geschnitzten Fensterläden, dazwischen hocken hässliche Betonbauten. Vor kleinen Altären huldigen die Leute dem Elefantengott Hanuman, dem hinduistischen Oberchecker Shiva oder auch der blutrünstigen Kali, mehr als drei Viertel der knapp dreißig Millionen Nepalesen gehören dem Hinduismus an.
In der auch in den offiziellen Stadtplänen als solcher geführten Freakstreet hängen die letzten der in den Sechzigerjahren zugezogenen Hippies ab, die für die Namensgebung dieser Straße verantwortlich zeichnen. Hennagefärbte Bärte, Lederbänder und grober Silberschmuck, dreckige Schlaghosen und Joints. Geraucht zu Ehren der Götter, obwohl das Gras hier zur Eindämmung der Sinn suchenden Massen schon vor vielen Jahren verboten wurde.
Ziel- und orientierungslos schlendere ich durch die krummen, engen Gassen. In der Altstadt preisen Fleischhauer ungekühlte Fleischklumpen an, während die hinter dem Dunst nur schwach glimmende Sonne schon untergeht. Vereinzelt geht die Straßenbeleuchtung an und dann wieder aus. Die häufigen Stromausfälle haben scheinbar System und alle außer mir wissen, wann der Saft wieder fließen wird. Verlöschen des Nächtens die Lichter der Stadt, wird´s so richtig finster. Stirnlampen werfen dann verrauchte Lichtkegel in die Dunkelheit und Butterlampen flackern in den Fenstern.
Und das ist dann auch schon wieder genug Stadt für eine Weile. Morgen gehe ich wandern, der Langtang Trek lockt. Der Marsch zum Mount Everest-Basecamp schied ob vermehrtem Yeti- und Touristenaufkommen aus, ich veranschlage zehn bis vierzehn Tage für den Trip. „Hörst du nicht den Ruf der Berge, sie rufen, sie rufen dich…“, trällere ich, während ich am Zimmer alles Entbehrliche aus meinem Rucksack ausmustere. Letztendlich bleiben noch immer gute zehn Kilo übrig. Als erste Maßnahme dezimiere ich den für klimatische und seelische Notfälle vorgesehenen Alk um die Hälfte, außerdem schneide ich mir zwecks Reduzierung der Gesamtlast die Nägel. Ein Besuch beim Frisör steht auch noch aus, jedes Gramm zählt. Da mich dieser Trek in ungeahnte Höhen führen wird, habe ich mir außerdem eine Schlagobersflasche zugelegt, um mich mittels regelmäßiger Lachgaseinspritzung fit zu halten. Morgen früh werde ich den Bus nach Syabrubesi nehmen, den Ausgangspunkt für den Marsch. Die hundertsiebzehn Kilometer dorthin wird er laut Aushang mit lächerlicher Geschwindigkeit in neun Stunden bewältigen. Ich kann also locker nebenher mitrobben, sollte ich während der Fahrt schon Lust auf Bewegung verspüren.
27.10., Syabrubesi
Den Haarschnitt gestern musste ich um zwei Stunden verschieben, Powercut. Eine fremde Klinge an meiner Kehle bei Kerzenschein muss nicht sein. Dann aber wurde mir Service vom Feinsten für gerade einmal siebzig Cent zuteil, inklusive Abklopfen der Birne und einer Gesichtsmassage. Der Typ knetete meine Wangen und Ohren durch und zog dann meine Mundwinkel rauf und runter, während ich mich total unseriös abpecken musste, ich konnte nicht anders. Zum Abschluss verteilte er noch reichlich bunte und duftende Cremes auf meinem glänzenden Haupt, als strahlender Metrosexueller verließ ich das Etablissement.
Heute hüpfe ich schon im Morgengrauen aus den Federn, gerade als der erste Hahn sein Ei legt. Nach zermürbenden Verhandlungen bringt mich letztendlich ein Taxi zum Dreifachen des empfohlenen Richtpreises zum Busbahnhof. Theorie und Praxis entfernen sich hier oft weit voneinander, damit muss man leben. Das Terminal ist ein verdrecktes Eck, wo ein paar schrottreife Busse herumstehen und in Tücher gehüllte Menschen bedächtig Tee schlürfen, während die Stadt langsam erwacht. Ein wohl noch schlaftrunkener Hund wird von einem Motorrad mit Rammschutz angefahren und zwar so heftig, dass er sich noch stehend zweimal um die eigene Achse dreht. Der arme Hund müsste jetzt mindestens tot sein, sucht aber nach ein paar Schrecksekunden noch jaulend das Weite.
Ich finde meinen Bus und da ich der erste bin, wähle ich den komfortabelsten und meiner Meinung nach sichersten Platz aus, nämlich den direkt hinter dem Fahrer. Einen alten Knacker, der ein paar Minuten später meinen Sattel beansprucht, wedle ich hochherzig weg wie einen frischen Furz. First come, first serve. Leider sind die Sitze aber durchnummeriert und entsprechend reserviert, deswegen hatte es auch keiner eilig außer mir. Der Schaffner verweist mich nach hinten auf die billigen Ränge und der Pensi grinst schadenfroh. Wissen schafft Vorsprung. Oberhalb der Hinterachse finde ich mich wieder, dort, wo in unseren Breiten maximal der Feuerlöscher verstaut wird. Meine Kniescheiben lösen sich folglich zu Brei auf, während einer der schrecklichsten Fahrten meines doch nicht mehr so jungen Lebens. Aber schön der Reihe nach.
Binnen weniger Minuten füllt sich der Bus bis auf den letzten Winkel mit Fahrgästen, darunter Frauen in bunten Saris, viele Kinder und plärrende Säuglinge, die mir bisweilen formlos von ihren Müttern überantwortet werden. Aus Spaß wurde Ernst, Ernst ist heute ein Jahr alt. Wobei der Nachwuchs hier selten Ernst heißt, eher Bhupal oder Mrigesh. Ein paar Landbewohner steigen auch noch zu, die böckeln hardcore nach Stall und altem Schweiß. Stefsechef treibt es die Tränen in die verschlafenen Augen, ärger als bei uns im O-Wagen. Jeder latscht mit einer beeindruckenden Selbstverständlichkeit auf meinem Rucksack herum, es geht auch nicht anders. Der Mittelgang ist schon einen guten Meter hoch vollgeräumt mit Waren aller Art, als wir uns endlich in Bewegung setzen. Bleibt der Bus wieder irgendwo stehen, stürmen ihn sofort Händler und verkaufen lautstark Wasser, Nüsse, Zeitungen und Obst.
Langsam zuckeln wir raus aus Kathmandu. Die Leute sind auf eine angenehme Art neugierig, aber nicht aufdringlich. Ein kurzer Blickkontakt, ein Lächeln, mein Sitznachbar übt sich in belangloser Konversation. Wir schrauben uns in luftige Höhen und umrunden das Kathmandutal, um nach neun Stunden am Gegenhang anzukommen. Die weißen Berggipfel dahinter sehe ich schon nach kurzer Zeit. Wir passieren Wasserfälle, überqueren breite Flüsse auf dauerprovisorischen Brücken, neben dem Weg liegen Felsen so groß wie Häuser. Schnell füllt sich auch noch das Dach des Busses und wer aussteigen will, drischt beherzt aufs Blech unter ihm. Ein armes Schwein kotzt sich da oben an und der Grind rinnt die Seitenscheiben runter, halleluja. Nach ein paar Stunden ist´s vorbei mit Asphalt, ab jetzt holpern wir über Stock und über Stein. Es staubt gewaltig. Die Schlauen besitzen einen Mundschutz, die anderen knirschen mit den Zähnen. Ich bin keiner von den Schlauen.
Die Straßenverhältnisse werden von Minute zu Minute schlechter und ich bin knapp davor, mir in die Hose zu machen. Bei abschüssiger Fahrbahn oder Unebenheiten droht das Ding den Steilhang runterzukippen, zwischen uns und dem gähnenden Abgrund ist nichts, absolut nichts. Alle sind jetzt still, der Fahrer dreht das übersteuerte Gedudel aus den Lautsprechern auch noch ab. Die Anspannung ist fast mit Händen zu greifen. Im und auf dem Bus befinden sich insgesamt rund achtzig Leute und jedem geht der Reis. Wir fahren mittlerweile selten schneller als zehn Stundenkilometer und das ist vollkommen ausreichend. Hinten hüpft der Bus bei jeder Rinne gute zwanzig Zentimeter und ich mit ihm. Warum Fahrer, Passagiere oder Maschine nicht nach schon einem Trip den Geist aufgeben, wird wohl ein kosmisches Rätsel bleiben. Einen Patschen am inneren Zwillingsreifen beheben der Schaffner und ein paar Tatkräftige in fünfzehn Minuten, reine Routine.
Während einer Pause beim Gasthaus am Ende der Welt bestelle ich mir das erste Dal Bhat von vielen. Diese frugale Nationalspeise setzt sich zusammen aus Reis, Linsen und diversem Currygemüse, meistens sind das Kichererbsen und Kartoffeln. Besteck ist nicht vorgesehen und der Hunger ist groß. Der Benimmführer empfiehlt folgenden Ablauf: Alles portionsweise miteinander vermischen, Greifen einer Ladung mit allen fünf Fingern, Schaufel formen, mit dem Daumen die Nahrung elegant in den Mund schieben. Mit rechts, wohlgemerkt, mit der Linken macht man was anderes. Die Finger muss man nicht nach jedem Hub abschlecken, die dürfen...