3. Kapitel: Sinn eines Treueversprechens
Treue zu sich selbst und Treue zum anderen – ein Widerspruch?
Nach dem, was wir eben gesagt haben – und zwar in beiden Fällen –, scheinen diese beiden Arten von Treue – die Treue zu sich selbst und die Treue zum anderen – miteinander in Widerspruch geraten zu sein. Auf wechselseitige Treue zu verzichten, scheint sowohl für Anne als auch für Dominik im Interesse der Treue zu sich selbst, also ihrer eigenen Individualität, ihrer Autonomie, unverzichtbar gewesen zu sein. Eine ausschließliche, eine »treue« Beziehung, hätte bei ihnen eine Entwicklungsblockade bedeutet. Dies war aber auch für Nicola und Heinz so: Die Treue zueinander war in emotionaler Hinsicht für beide zu einer Art emotionalem Gefängnis geworden, und das galt auch für Heinz, obwohl er dies nicht so spürte, weil er sich Möglichkeiten geschaffen hatte, schon vor der eigentlichen Außenbeziehung in andere Erfahrungen außerhalb der Beziehung »auszuweichen«.
Derartige Widersprüche von Treue zu sich selbst und Treue zum anderen erleben wir in den letzten Jahrzehnten viel häufiger, als dies früher der Fall war. Die Gesamtentwicklung in dieser Zeit, was Beziehungen angeht, kann man charakterisieren als eine immer stärkere Betonung der individuellen Bedürfnisse und Interessen gegenüber denen der Gemeinschaft und der Familie. Für die Menschen früherer Jahrhunderte war der Erhalt der Familiengemeinschaft überlebenswichtig. Es hing die nackte Existenz daran. Dies galt sowohl für die vorindustrielle, agrarisch-handwerkliche Gesellschaft, als auch für die erste Zeit der dann entstehenden industriellen Gesellschaft. Für die bäuerlich-handwerkliche Gesellschaft brauchte es das treue Zusammenwirken der ganzen Familie zum Überleben, und es brauchte vor allem auch einen Nachfolger des Familienoberhaupts samt tüchtiger und treuer Frau, damit der Betrieb, der die Lebensgrundlage für alle Familienangehörigen war, fortbestehen konnte. Dies galt in gewandelter Form auch in der industriellen Gesellschaft: Der Mann brauchte zu Hause eine Frau, auf die er sich ganz verlassen konnte, denn er musste ja den ganzen Tag auswärts im Betrieb arbeiten, um das Überleben der Familie zu sichern. Er war auch darum auf die Frau angewiesen, weil sie sich um die Kinder kümmerte. Es war damals sogar ein Zeichen gehobenen Lebensstandards, wenn diese nicht arbeiten »musste«, sondern der Mann genug Geld für die ganze Familie nach Hause brachte und sie deshalb bei den Kindern bleiben konnte.
Mit dem allgemein immer stärker wachsenden individuellen Bewusstsein seit Beginn der Aufklärung im 17. Jahrhundert und mit dem allmählichen Wandel von der industriellen zur post-industriellen Dienstleistungsgesellschaft schwanden allmählich diese Notwendigkeiten immer mehr: Für das wirtschaftliche Überleben war immer weniger unmittelbar die Familie bzw. der Mann allein nötig, und die Frauen wurden durch qualifizierte Ausbildung und häufigere Berufstätigkeit immer fähiger, für ihr Überleben – und wenn nötig auch für das der Kinder und der ganzen Familie – selbst zu sorgen. Die Verpflichtung, für das soziale System, dem man angehörte, und für das Überleben von Frau und Kindern zu sorgen, wurde also schwächer, das Bedürfnis hingegen, Glückserfüllung als Individuum und Person zu finden, wurde immer größer – sowohl bei den Männern, als auch bei den Frauen. Hier liegt ja auch der Ursprung der Frauenbewegung des vergangenen Jahrhunderts, in der erstmals in der Geschichte der kollektive Anspruch erhoben wurde, als Frau mit dem Mann gleichwertig zu sein und respektiert zu werden.
So erhebt sich hier natürlich auch die Frage: Gehört eine Verpflichtung zur Treue zum Partner nicht einer anderen Zeit an? Aus gesellschaftlichen Gründen hatte sie einmal einen guten, wichtigen Sinn. Denn für das Überleben der Familie war die daraus erwachsende hohe Stabilität des Familiensystems notwendig. Aber heute? Kann nicht, ja muss nicht in der heutigen Gesellschaft und angesichts des Gleichwertigkeitsanspruchs von Frauen und Männern die Treue zum Partner ein Gefängnis für Frau und Mann werden? Spürten da Anne und Dominik nicht etwas zentral Wichtiges und Richtiges? Und was wäre aus Nicola und Heinz geworden ohne den Ausbruch von Heinz? Die Antwort darauf ist uns für die beiden Paare in den vorausgehenden Überlegungen deutlich geworden.
Unsinn eines Treuegelöbnisses?
Was ist aber dann von den Eheversprechen, wie sie in den kirchlichen Trauungsritualen beider Konfessionen nach wie vor verlangt werden, zu halten? Hier wendet sich der Pfarrer zuerst an den Mann und dann mit entsprechender Umformulierung an die Frau mit folgender Frage: »N.N., ich frage Sie vor Gottes Angesicht: Nehmen Sie Ihre Braut an als Ihre Frau und versprechen Sie, ihr die Treue zu halten in guten und bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit, und sie zu lieben, zu achten und zu ehren bis der Tod euch scheidet? Dann sprechen Sie: Ja!« Daraufhin muss der Mann – und nach ihm die Frau – mit einem eindeutigen »Ja!« antworten, damit die Ehe geschlossen ist, die nach katholischem Verständnis sogar als Sakrament gilt und darum unauflöslich ist.
Im evangelischen Verständnis der Ehe gibt es zwar hier eine gewisse Relativierung: Luther erklärte die Ehe im Gegensatz zum »heiligen« Sakrament im katholischen Verständnis zu einem »weltlich Ding«, und darum gibt es in der evangelischen Tradition auch keine »Unauflöslichkeit«. Die Brautleute fügen ihrem »Ja« zum Treuegelöbnis im evangelischen Ritus außerdem die Formel »Mit der Hilfe Gottes« hinzu und machen damit deutlich, dass die Einhaltung des Versprechens nicht allein in ihren Kräften liegt. Andererseits aber wird die Absolutheit des Versprechens sogar noch verstärkt dadurch, dass es seit einigen Jahren üblich geworden ist, dass Braut und Bräutigam ihre Verpflichtung nicht nur durch ein kurzes »Ja« zum Ausdruck bringen, sondern diese (wie auch im katholischen Ritus) noch ausdrücklicher und deutlicher machen, indem sie die ganze Trauungsformel als direkte Anrede an den Partner/die Partnerin sprechen: »N.N., vor Gottes Angesicht nehme ich dich an als meine Frau/meinen Mann und verspreche dir …«
Wie kann man sich aber zu Beginn eines gemeinsamen Lebens und im Vorhinein in dieser Weise festlegen – zumal ja nach katholischem Verständnis eine Wiederheirat nach einer Trennung sogar für unmöglich erklärt wird? Der bekannte Spruch mahnt ja wohl zur Vorsicht: »Drum prüfe, wer sich ewig bindet …« Aber: Auch wenn sich jemand, der sich in diesem Sinn »ewig bindet«, noch so sorgfältig »prüft«, kann es dann nicht ganz ähnlich sein wie bei Anne und Dominik, dass die beiden, die sich da aneinander binden, noch ganz unreif-kindlich voneinander abhängig sind, und gerade Untreue nötig ist, um sich davon »freizustrampeln«? Oder dass sie wie Nicola und Heinz in eine Stagnation geraten, aus der die Untreue eines der beiden ein nötiger oder jedenfalls einzig wirksamer Befreiungsschlag wird?
Wenn für das Zustandekommen einer Ehe im christlichen Sinn ein Treueversprechen »für immer und ewig« verlangt ist, wird dann daraus nicht ein »Gesetz«, eine »Vorschrift«, die eingehalten werden muss, ganz gleich, ob die Ehe noch von der Liebe der beiden gefüllt und getragen ist? Kann man ein solch »unbedingtes« Treueversprechen am Anfang einer Ehe verlangen? Werden dadurch Menschen nicht unter Umständen an unerträgliche Lebensumstände und Entwicklungen gefesselt, wenn sie dieses Versprechen ernst meinen? Und wird dadurch nicht die ganze Angelegenheit auf die Ebene der Moral verschoben, die dann völlig zudeckt, wie konstruktiv oder destruktiv die beiden Partner ihre Beziehung gestalten?
Ich bin überzeugt, dass Überlegungen oder Ahnungen in diese Richtung ein wichtiger Grund sind, dass immer mehr Menschen den Schritt zur ausdrücklichen Eheschließung vermeiden, und zwar nicht nur zu deren kirchlicher Form, sondern auch zur standesamtlichen: Die Eheschließung ist in der Vorstellung der Menschen so oder so mit der Festlegung auf lebenslange Treue verbunden. Für die heutige Ehe, und damit auch für die gelebte Treue, ist aber doch ausschlaggebend, dass die persönliche, wechselseitige Liebe noch lebendig ist, und nicht mehr die Überlebensnotwendigkeit des Familiensystems wie in früheren Jahrhunderten. Man kann doch die Liebe nicht »gesetzlich« und per Vorschrift am Leben halten! Kann man sie also durch ein Treuegelöbnis »bis der Tod euch scheidet« festschreiben? Man kann es nicht, das sehen wir an den vielen Tausenden von jährlichen Trennungen in allen Industrienationen des Westens. Hat also ein Treueversprechen für eine dauerhafte Liebe von Partnern heute überhaupt noch einen Sinn? Und wenn ja: Welchen Sinn könnte es haben?
Vom Sinn eines Treueversprechens
Ich glaube, dass es an der Zeit ist, das Treuegelöbnis neu und anders zu verstehen – und es wohl auch im Trauungsritual der Kirchen anders zu formulieren. Darum vertrete ich in diesem Buch die folgende Auffassung: Dass die Partner bei dem Entschluss, als Paar ihr Leben auch im Alltag miteinander zu teilen, einander die Treue versprechen, hat nach wie vor seinen Sinn, ja es ist sogar notwendig, damit Beziehung, damit Familie gelingt. Allerdings nicht im Sinne der Unterordnung unter ein Gesetz, sondern im Sinn einer ernsthaften Absicht: »Weil ich dich liebe und mich von dir geliebt fühle, lasse ich mich ganz auf diese Beziehung ein, und das heißt auch, dass ich dir treu bleiben will, auch im intimen und sexuellen Bereich!« Das heißt aber zugleich auch: Ein »gesetzlich« verstandenes Treueversprechen am Anfang einer Ehe ist unsinnig. Es kommt in jedem...