Einführung
Der Sinn des Lebens ist Alfred Adlers letztes größeres Werk. Es erschien 1933, gut 20 Jahre nach der ersten umfassenden Darlegung seiner Erkenntnisse in der Schrift Über den nervösen Charakter[1] aus dem Jahre 1912, die bis 1928 vier Auflagen erlebt hatte. Die Stationen seines Weges sind durch die folgenden Werke gekennzeichnet: Zunächst zwei Sammelbände, in denen Aufsätze und Vorträge aus längeren Zeiträumen zusammengefaßt sind. Der erste, Heilen und Bilden[2], 1914 mit Carl Furtmüller und zahlreichen weiteren Mitarbeitern herausgegeben, umfaßt die Vorgeschichte von 1904 bis 1913 – in späteren Ausgaben mit einigen Zusätzen aus den zwanziger Jahren –; die zweite, Praxis und Theorie der Individualpsychologie[3] (1920) den Zeitraum von 1913 bis zum Erscheinungsjahr. Es folgen, neben zahlreichen Aufsätzen, die vor allem in der Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie erschienen sind, 1927 die Vorträge über Menschenkenntnis[4], 1929 die Vorlesungen für Lehrer und Erzieher über Individualpsychologie in der Schule[5], 1930 Das Problem der Homosexualität und sexueller Perversionen[6] und Die Technik der Individualpsychologie[7], mit dem Untertitel »Die Seele des schwer erziehbaren Schulkindes«.
Der Ausdruck »Sinn des Lebens« hat, wie nicht anders zu erwarten, bei Adler zwei verschiedene Bedeutungen.
Er meint erstens den Sinn, den ein bestimmter Mensch in seinem Leben sucht und findet und der aufs engste zusammenhängt mit der »Meinung«, die er von sich, von der Welt, von den Mitmenschen und vom Leben hat. Diese Meinung kann sich nur auf die besondere Erlebniswelt dieses einzelnen beziehen. Sie ist, mit allem, was aus ihr folgt, eine echte Schöpfung des Kindes aufgrund der Art und Weise, wie es in dieser Welt empfangen wurde. Sie ist angelegt in einem Alter, in dem das Kind die Sprache noch nicht genügend beherrscht. Daher ist sie auch später aus Selbstbekenntnissen nicht zu entnehmen, und nur mittelbar aus Worten und Gedanken über die Welt und die Menschen. Mit einiger Sicherheit kann sie aber vom Erfahrenen aus dem »Lebensstil« des fraglichen Menschen erschlossen oder »erraten« werden, das heißt aus der Art, wie er sich in bestimmten Lagen benimmt, wie er sich bestimmten Menschen, Aufgaben, Schwierigkeiten des Lebens und Zumutungen seiner Umgebung gegenüber verhält.
Zweitens aber kann unter dem »Sinn des Lebens« auch sein »wahrer«, »außerhalb unserer Erfahrung liegender« Sinn verstanden werden. Er kann auch von demjenigen verfehlt werden, der fest überzeugt ist, zu wissen, worauf es im Leben ankommt, und der, sofern er das erreicht, in seinem Leben einen Sinn entdeckt oder verwirklicht zu haben glaubt. Der »wahre« Sinn des Lebens zeigt sich darin, »daß er diejenigen ins Unrecht setzt, die zu ihm in auffallendem Widerspruch stehen«. Er »zeigt sich in dem Widerstand, der sich dem unrichtig handelnden Individuum entgegenstemmt«. Er zeigt sich kurz darin, daß derjenige, der sich von ihm allzu weit entfernt, je nach seiner Veranlagung, seiner Vergangenheit und seiner gegenwärtigen Lage, neurotisch, psychotisch, pervers, süchtig oder kriminell wird.
Schon von der »lebenden Materie« vermutet Adler in den Überlegungen dieser Schrift, sie sei »einmal in Bewegung gesetzt, stets darauf aus« gewesen, von einer »Minussituation« in eine »Plussituation« zu gelangen. Und er wiederholt diesen Gedanken in den verschiedensten Wendungen: Das Lebende strebe von »unten« nach »oben«, von der »Minusseite des Lebens« auf seine »Plusseite«, von »Unsicherheit« nach »Sicherheit«, von Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit nach »Bewältigung«, nach »Überwindung«, von »Unterlegenheit« nach »Überlegenheit«.
Er geht jetzt so weit, zu behaupten, »Mensch sein heißt: sich minderwertig fühlen«, und zu erklären, daß dem Menschen »als Segen ein starkes Minderwertigkeitsgefühl mitgegeben ist, das nach einer Plussituation drängt, nach Sicherung, nach Überwindung« – nach der Überwindung eben dieses schmerzlichen Gefühls, »das mindestens so lange währt, als eine Aufgabe, ein Bedürfnis, eine Spannung nicht gelöst ist«. Die Auflehnung gegen dieses Gefühl der Minderwertigkeit ist die Grundlage der Menschheitsentwicklung und wird glücklicherweise in jedem Kind aufs neue erweckt. Der Lebenslauf des einzelnen ist, ebenso wie die geschichtliche Bewegung der Menschheit, als die Geschichte des Minderwertigkeitsgefühls und der Versuche seiner Überwindung anzusehen. »Grundsatz des Lebens ist [demnach] Überwindung.« »Ihr dient … das Streben nach Vollkommenheit.« Die Richtung der gesuchten Überwindung ist freilich ebenso tausendfach verschieden wie das Ziel der gesuchten Vollkommenheit. Aber immer wieder heißt es: »Das Ziel der menschlichen Seele ist Überwindung, Vollkommenheit, Sicherheit, Überlegenheit.« »Das Streben nach Vollkommenheit zieht uns hinan.«
Entscheidend für die Ausbildung des Lebensstils ist nun aber, was ein gegebener Mensch unter »oben«, unter »überlegen«, »sicher« und »vollkommen« versteht. Und dies hängt wieder von der »Meinung« ab, die er sich am Beginn seines Lebens, oder besser, seines Bewußtwerdens, von der Welt gebildet hat.
Adler bringt eine Reihe von Beispielen für solche privaten Meinungen über die Welt: Ein ängstliches Kind meint, es könne nicht ohne die Mutter sein. Ein Mann mit Platzangst meint, vor dem Hause schwanke der Boden. Ein Einbrecher meint, Berufsarbeit sei schwerer als Einbruch.
Wie die daraus folgenden und sinngemäß angestrebten »Vollkommenheiten« aussehen, wird nicht systematisch abgehandelt, und das soll auch hier nicht nachgeholt werden. Nur in losem Zusammenhang mit den »Meinungen« folgen Beispiele von »angestrebter Vollendung« oder »Vollkommenheit«.
Da gibt es eine vermeintliche Vollkommenheit, die »im Triumph über die anderen« besteht, ergänzt durch das erfolgreiche Bestreben, »andere um ihren Triumph zu bringen«.
Es gibt Leute, denen der Sinn des Lebens nur dann erfüllt erscheint, wenn sie jemand, oder möglichst viele, beherrschen können, wenn sie sie, ohne Rücksicht auf Verluste, ihre Macht fühlen lassen und ihnen fortgesetzt beweisen können, »wer Herr im Hause ist«. Ein neuerer Grenzfall, den Adler offenbar nicht mehr miterlebt hat, ist das erhebende Gefühl, für völlig fremde Menschen »Schicksal« zu spielen, wie es etwa jener Unbekannte tat, der eines Nachts zwei Schrotschüsse in ein geschlossenes Zelt abgab, wodurch er ein junges Ehepaar, mit dem er nie etwas zu tun gehabt hatte, fürs Leben zu Krüppeln machte. – Ein Sonderfall sind die Menschen, die alle engeren Beziehungen zu Frauen aufs heftigste ablehnen, da solche Beziehungen ihnen nur in zwei Formen möglich erscheinen: sie zu beherrschen, oder von ihnen beherrscht zu werden. Wenn sie sich das erste nicht zutrauen, wohl aber die Beherrschung von männlichen Wesen, und wenn für sie zugleich überhaupt das Herrschen der Inbegriff der Vollendung ist, so sind sie für die Homosexualität haargenau vorbestimmt. Es gibt Menschen, für die die erstrebte Vollkommenheit darin besteht, in allem, was sie unternehmen, allen anderen überlegen zu sein. Sie lassen niemanden gelten, sie sind die schärfsten Kritiker an den anderen, und würden bestimmt alles besser machen. Aber da jede Konkurrenz das Risiko enthält, nicht den ersten Platz zu gewinnen, und sie es schon als Katastrophe und unerträgliche Niederlage empfinden, auch nur auf den zweiten Platz verwiesen zu werden, erfinden sie, ohne sich wirklich über die Gründe ihres Handelns klarzusein, alle möglichen Tricks (oder »Arrangements«), um dem Wettbewerb auszuweichen, schieben aber ihre Behinderung höheren Mächten zu. Da sie schließlich jedes Unternehmen nur noch als Prüfung verstehen können und wegen der genannten Gefahr es auf die Entscheidung nicht ankommen lassen dürfen, gelingt es ihnen nicht mehr, vom Planen zum Tun überzugehen; sie können sich nicht endgültig entschließen; beginnen sie doch mit der Ausführung, so werfen sie sich selbst Knüppel zwischen die Beine: Sie verschlafen ihre Verabredungen, sie versäumen den Zug, manchmal sogar wörtlich. Das ist die von Adler so genannte »zögernde Attitüde«. In anderen Fällen treten sie den »Rückzug« auf andere Weise an. Sie schränken ihre Tätigkeit auf immer engere Bereiche ein, in denen sie noch hoffen können, ohne Risiko Erster (oder Herrscher) bleiben zu können. Eine von Adler besonders eingehend behandelte private »Vollkommenheit«, weniger des Subjekts selbst als seines Daseins, besteht darin, das ganze Leben lang Gegenstand der Fürsorge der gesamten Umgebung zu sein; die anderen, zum Beispiel den Ehemann, die Ehefrau, die Familie als ergebene Bedienstete zu haben, die man mit allen möglichen »Fleißaufgaben« in Atem hält.
Vielen genügt es auch, im Brennpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, beachtet, bewundert, beneidet, beklatscht zu werden. Ihre »fiktive Welt« ist ein Theater, in dem sie allein im Licht auf der Bühne stehen, während alle anderen sich im abgedunkelten Zuschauerraum befinden. Notfalls suchen sie ihre Freunde unter den geistig Armen und Minderbemittelten, deren Bewunderung ihnen sicher ist. Wenn es nicht gelingt,...