Vorwort
Dieses Buch ist kein Roman, obwohl es wie ein spannender Roman gelesen werden kann. Es ist ein Dokument. Alle darin vorkommenden Personen sind authentisch, genauso authentisch wie die Erlebnisse des Verfassers: die Situationen, in denen er sich befand, und die Vorfälle, an denen er teilnahm. Er war knapp einundzwanzig Jahre alt, als er am 14. Juni 1940 aus dem Gestapo-Gefängnis in Tarnow mit dem ersten Transport der politischen Häftlinge in das KZ-Lager Auschwitz kam. Es waren insgesamt 728 Häftlinge. Hier wurden ihre Namen in Nummern geändert. Von nun an sollten sie nur noch Sachen sein, Eigentum der SS, eingetragen in die Lagerkartei mit den Nummern 31 bis 759.
Wieslaw Kielar erhielt die Nummer 290, und so begann ein Lebensabschnitt, der fast fünf Jahre dauern sollte und der mit dem Namen KZ-Lager Auschwitz und mit der Geschichte dieses Lagers untrennbar verbunden war.
Das Datum, an dem diese Gruppe politischer Häftlinge aus Polen eingeliefert wurde, wird von der Geschichte als die Inbetriebnahme, als der Beginn des Lagers Auschwitz bezeichnet. Damit fängt das erste Blatt seiner tragischen Kapitel an. Drei Wochen vorher hatte man bereits 30 deutsche Kriminelle aus dem KZ Sachsenhausen dorthin gebracht, die von dem späteren sogenannten »Henker von Auschwitz«, dem Rapportführer Gerhard Palitzsch persönlich ausgewählt worden waren. Sie erhielten die Nummern 1 bis 30 und bildeten zusammen mit einer damals noch kleinen, kaum mehr als hundert Mann zählenden SS-Besatzung im wesentlichen das System der organisatorischen Struktur des Lagers, seines Terrors und seiner Gewalt. Diese Kriminellen wurden eifrige Helfer der SS-Männer, und zwar in den Funktionen als Blockälteste und Aufseher. Das Leben der 728 Häftlinge aus dem ersten Transport war nicht nur von der SS, sondern auch von den kriminellen Häftlingen abhängig. »Von diesem Augenblick an waren wir zu lebenslänglichem Aufenthalt im KZ Auschwitz verurteilte Nummern geworden«, schreibt der Autor Wieslaw Kielar einige Jahre nach dem Kriege, »und was ein Konzentrationslager bedeutete, das sollten wir bald erfahren.«
Als mir der Verlag den Vorschlag machte, das Manuskript der Erinnerungen von Wieslaw Kielar zu lesen und das Vorwort zu einer Buchausgabe zu schreiben, dachte ich lange über den Sinn und die Notwendigkeit dieser Verlagsidee nach.
Über das KZ Auschwitz gibt es bereits eine umfangreiche Literatur. Nicht nur streng authentische Erinnerungen und Tagebücher, sondern auch literarische Werke von großem künstlerischem Wert. Es gibt auch historische Werke und Monographien, Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung. Hinzu kommen die Gerichtsakten der Prozesse vor dem Höchsten Nationaltribunal gegen den Kommandanten des KZ Auschwitz Rudolf Höß (Warschau 1946) und gegen 40 Angehörige der SS-Besatzung, die von diesem Tribunal in Krakau (1947) verurteilt wurden, sowie das Material der drei Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main in den Jahren 1963 bis 1968.
Es ist in Anbetracht dessen nicht verwunderlich, daß ich mir beim Lesen des Manuskripts von Kielar zuerst überlegte, ob denn überhaupt noch ein Interesse an weiterer Literatur über das Lager Auschwitz vorliege. Die sogenannte Kriegsliteratur ist reichhaltig, und hinzu kommt, daß uns immer mehr Jahre von der damaligen Zeit trennen, Jahre, die reich an Erlebnissen sind und den Graben zwischen Vergangenheit und Gegenwart noch mehr verbreitern.
Ich selbst habe ebenfalls das Drama Auschwitz miterlebt, wie der Verfasser. Ich überlegte mir, für wen er dieses Buch wohl geschrieben hat: Für die Generation, für die der Krieg zu einem wichtigen Teil ihrer eigenen Biographie geworden ist oder ganz besonders für die ehemaligen Häftlinge von Auschwitz, die auf den Blättern dieses Buches viele bekannte Namen finden werden von solchen, die heute noch leben oder inzwischen gestorben sind.
Oder ist dieses Buch für die Jungen geschrieben, deren Vorstellungen von Auschwitz vor einer Barriere halten, die nicht zu überwinden ist?
Vielleicht aber war das Schreiben des Manuskripts auch nur eine ganz natürliche menschliche Reaktion, um die Last jener Jahre von sich abzuschütteln. Niemand wird später in der Lage sein, die vollständige Wahrheit über Auschwitz zu sagen, wenn die letzten Zeugen abgetreten sein werden. Diese Wahrheit ist nicht vorstellbar, sie sprengt die Vorstellungskraft jedes Menschen, der dieses nicht selbst erlebt hat.
Für Menschen, die das Glück hatten, erst nach dem Kriege geboren zu werden, und für solche, die später leben werden, wird das Konzentrationslager Auschwitz mit der Zeit immer mehr ein fernes Symbol sein, tragisch, aber ohne menschliche Nähe, tot wie eine Grabplatte, die die erschreckenden, gigantischen Ausmaße dieses Friedhofs zudeckt.
Jene vier Millionen Menschen[1], die dort ermordet wurden, die man in Rauch und Asche verwandelte, sind für die Mehrheit der heute lebenden Menschen nur eine tote Zahl, ein relativ leerer Begriff.
Die Phantasie wird weder dadurch geweckt, daß es sich um vier Millionen Individuen handelte, die zum Teil bereits geformt waren, und um andere, deren Leben sich erst zu formen begann, noch daß diese Zahl vier Millionen menschliche Einzelschicksale enthielt, mit ganz individuellen Freuden und Tragödien, Lebensplänen und Hoffnungen, Gefühlen und Konflikten, die alle der physischen Vernichtung preisgegeben waren.
Und das ist eine der grundlegenden, der grausamsten Wahrheiten über Auschwitz. Das Zeugnis Kielars ruft uns jetzt nach mehr als dreißig Jahren diese Wahrheiten zurück, und es erscheint mir deshalb als ein Ereignis von besonderem Gewicht.
Der Verfasser war unmittelbarer Zeuge des Verbrechens von Auschwitz, und zwar von Anfang an, von dessen erstem Akt an bis zum Schluß – alle Etappen hindurch. Da er diesen autobiographischen Roman in der Breite eines Panoramas anlegt, füllt er die heute leeren Baracken und Straßen der Lager Auschwitz und Birkenau mit jenen Menschen, die in diesen Löchern lebten und wußten, daß sie unausweichlich zum Tode verurteilt waren, den sie früher oder später erleiden mußten. Am häufigsten gab es einen schlimmen Tod, und je schlimmer er war, in desto gemeinerer Form trat er auf. Überall gab es diesen Tod, jeden Tag und jede Nacht, fast zu jeder Stunde. Er wurde so sehr zu einer allgemeinen und gewöhnlichen Erscheinung, daß man sich an ihn gewöhnen konnte.
Bereits am Anfang seines Buches schreibt Kielar: »Zum erstenmal in meinem Leben sah ich das Sterben, ich habe mir niemals vorgestellt, daß man so lange sterben kann.«
Der Tod eines Mithäftlings, den er am dritten Tage seines Aufenthalts im Lager gesehen hatte, der Tod eines mißhandelten und von den Aufsehern – auch Häftlinge – ermordeten Menschen war für den Verfasser eine große Erschütterung. Dieses Sterben blieb fest in seiner Erinnerung haften. Er hat es mit einem ungewöhnlichen Realismus beschrieben. Als der Körper des mißhandelten alten Mannes unbeweglich geworden ist, sagt der Verfasser, der genau wie jener andere gemartert worden war: »Ich bin aber unverletzt und lebe. Und ich will leben.«
Ich glaube, daß diese Erfahrung von Kielar, die bei ihm ein solches Bekenntnis provoziert hat, ihre eigene Sprache spricht. Ich sehe darin eine Art Schlüssel zu seiner Auschwitzer Biographie. Niemals später, auf den weiteren Seiten seiner Erinnerungen, kommt es zu einer solchen Konfrontation mit dem Tode, obwohl es ihn, diesen Tod, mit jedem Monat, mit jedem Jahr, immer wieder und in einem immer größeren Ausmaße gab: bei den anfangs seltenen Exekutionen in der Sandgrube hinter der Küche bis zur Massenabschlachtung auf dem Hof des Blocks 11, über die Phenolspritzen ins Herz bis zu der Gaskammer in Birkenau, die innerhalb eines Tages Tausende von Menschen auslöschte. Außerdem gab es zu jeder Stunde ein langsames Sterben an Hunger, körperlicher Auszehrung oder an fehlender psychischer Widerstandskraft. Kielar aber will überleben, allem, was ihn umgibt und was ihn bedroht zum Trotz. Er beobachtet den sich immer mehr verdichtenden Alptraum aus einer gewissen Entfernung. Das Grauenvolle wird zu einer alltäglichen Wirklichkeit, zu etwas so Einfachem und Allgemeinem, daß alle kleinen Erlebnisse und Begebenheiten des Tages im Vergleich dazu viel wichtiger sind. Also ist der immerwährende Kampf um das bedrohte Leben, um das Essen oder den Schutz vor der Kälte, auch ein Abwenden der Gedanken von der Wirklichkeit. Wie charakteristisch ist diese Szene, die sich im Keller, in der Leichenhalle abspielt, wo die Leichen der Erschossenen und Toten vor dem Abtransport in das Krematorium gelagert waren! Hierher pflegte Kielar zu einem »gemütlichen Plausch« zu kommen, wie er es selbst bezeichnete.
»Gienek Obojski hatte von irgendwo her Rohkartoffeln organisiert. Im Keller stand ein Koksöfchen (ein ›Kokser‹). Auf dem Ofen brieten wir Kartoffelpuffer. Wir saßen damals auf den ›Särgen‹ um das glühende Öfchen herum, die Kartoffelpuffer brutzelten, ihr angenehmer Geruch reizte verlockend die Nase und tötete den widerlichen Gestank des Chlors, mit dem die dort gelagerten Leichen bestreut wurden. Wir waren mit den Leichen bereits so vertraut, daß sie auf uns gar keinen Eindruck machten. Ich spielte oft Mundharmonika, und Ali sang. Es herrschte eine nette Stimmung wie bei einem Pfadfinderfeuer …«
Es ist sicher eine schockierende Szene, dafür aber...