Einleitung
Die Geschichte dieses Buches beginnt mit einem Messer in der Wand. Das Messer in der Wand dient Peter L. Berger und Thomas Luckmann in Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit[1] als anschauliches Beispiel für das, was sie unter »Objektivationen« verstehen. Objektivationen sind ein wichtiger theoretischer Baustein der »neuen Wissenssoziologie«. Berger und Luckmann bezeichnen damit Erzeugnisse menschlichen Handelns, die »sowohl dem Erzeuger als auch anderen Menschen als Elemente ihrer gemeinsamen Welt ›begreiflich‹ sind«[2] und auf menschliches Handeln zurückwirken. Objektivationen können vielfältige Formen annehmen: von der im Alltag entwickelten Routine, die im Sinne eines Handlungsmusters nicht nur dem Erzeuger, sondern auch anderen verfügbar ist, über einen gemeinschaftlich anerkannten sprachlichen Ausdruck, durch den sich subjektives Empfinden zeichenhaft kommunizieren lässt, bis zum wechselseitig typisierten Rollenhandeln, das für die Mitglieder einer Gesellschaft zur Institution wird. Immer, so betonen Berger und Luckmann, zeichnen sich Objektivationen dadurch aus, dass sie »begreiflich« sind – und zwar »begreiflich« in Anführungszeichen.[3] Das heißt, man kann Routinen, sprachliche Zeichen oder Institutionen zwar nicht anfassen, aber dennoch sind sie in gewissem Sinne dinghaft, denn sie überdauern als Routinen, Institutionen oder sprachliche Zeichen konkrete Handlungssituationen. Um diese »Begreiflichkeit« zu veranschaulichen, arbeiten Berger und Luckmann mit dem Beispiel des Messers in der Wand:
Nehmen wir an, ich hatte Streit mit einem Mann, der mir recht »ausdrücklich« Augenschein von seinem Zorn gab. In der folgenden Nacht erwache ich und entdecke ein Messer in der Wand über meinem Bett. Das Messer als Objekt drückt den Zorn meines Feindes aus. Es verschafft mir zu ihm als Subjekt Zugang, obwohl ich schlief, als er es warf, und obwohl ich ihn nicht sah, denn er floh nach diesem »Schein«-Treffer. Wenn ich das Objekt nun lasse, wo es ist, kann ich es am Morgen wieder anschauen, und wieder bringt es den Zorn des Mannes, der es geworfen hat, zum Ausdruck. Andere Leute können es besichtigen und denselben Eindruck bekommen. Mit anderen Worten: das Messer in meiner Wand ist ein objektiv »vorhandener« Bestandteil der Wirklichkeit geworden, die ich mit meinem Feind und anderen Leuten teile.[4]
Berger und Luckmann dient das Beispiel vom Messer in der Wand lediglich dazu, den Aspekt der »Begreiflichkeit« von Objektivationen zu verdeutlichen; für mich ist es Ausgangspunkt einer soziologischen Beschäftigung mit Dingen und Gebäuden. In theoretischer Hinsicht geht es auf den folgenden rund zweihundertfünfzig Seiten darum herauszufinden, was passiert, wenn man die Anführungszeichen um das Wort »Begreiflichkeit« streicht, wenn man Berger und Luckmann also wörtlich nimmt und explizit über materielle Objektivationen nachdenkt. Welche Rolle, so frage ich, spielen materielle Objektivationen – und im engeren Sinne Gebäude – bei der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit? Und wie entsteht daraus der sinnhafte Aufbau der gebauten Welt?
Materielle Objektivationen sind ein fester Bestandteil unserer Alltagserfahrung. Wir sind umgeben von Gebäuden und technischen Infrastrukturen, wir gehen tagtäglich mit Werkzeugen, ästhetischen Objekten und Naturdingen um, lassen unsere Blicke durch Sichtachsen, bildliche und grafische Elemente leiten oder unsere Stimmung von der Atmosphäre in Stadien und Kirchen affizieren; wir besuchen Bauwerke, die »Shoppingmall« oder »Museum« heißen, und kämpfen für den Wiederaufbau oder den Abriss von Bahnhöfen, Schlössern und Altstädten. In den letzten Jahren setzte sich in der Soziologie die Auffassung durch, dass die Omnipräsenz physischer Dinge in Sozialtheorie wie Gesellschaftsanalyse bislang zu wenig Beachtung erfahren hat.[5] Das ist sicherlich richtig, insofern gerade Gebäude selten explizit zum Gegenstand soziologischer Betrachtung gemacht werden. Hinzu kommt, dass es an theoretischer Grundlagenforschung fehlt, die es erlauben würde, zwischen unterschiedlichen soziologischen Perspektiven auf Architektur zu wählen. Das Hauptanliegen des vorliegenden Buches ist es deshalb, existierende Positionen und Ansatzpunkte zu sortieren und einen eigenen Beitrag zur architektursoziologischen Theoriedebatte zu formulieren.
Dieser eigene Beitrag ist wissenssoziologisch. Er basiert im Wesentlichen auf den Arbeiten von Alfred Schütz, Peter L. Berger und Thomas Luckmann. Während Schütz in seinem phänomenologisch fundierten Grundlagenwerk Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt[6] darlegt, wie Menschen im Umgang mit ihrer Umwelt und mit menschlichen Interaktionspartnern die Sinnstrukturen der Alltagswirklichkeit hervorbringen, interessieren sich seine Schüler Berger und Luckmann für die Mechanismen, die zu einer gesellschaftlichen Konstruktion dieser Wirklichkeit führen. Der von Berger und Luckmann begründeten »neuen Wissenssoziologie« liegt die Überzeugung zugrunde, dass »die Dinge nicht sind, was sie scheinen«,[7] sondern wozu die Gesellschaft sie für ihre Mitglieder »gemacht« hat und weiter »macht«. Daher analysieren sie die grundlegenden Prozesse, die zu einer gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit führen: Sie beschreiben Habitualisierungen und Typisierungen, das Entstehen von Institutionen, die Entwicklung von Sprache, die Herausbildung von Rollen, die gesellschaftliche Aufteilung des Wissens in Subsinnwelten und die Erfindung übergreifender Sinnsysteme, welche die institutionelle Ordnung einer Gesellschaft legitimieren. Berger und Luckmann konzipieren diese wirklichkeitsstiftenden Prozesse entlang eines tripolaren Modells, bestehend aus »Externalisierung«, »Objektivation«[8] und »Internalisierung«. Die drei Pole stehen ihnen zufolge in einem dialektischen Zusammenhang, das heißt, sie beeinflussen sich gegenseitig. Doch was verbirgt sich hinter diesen recht kryptischen Begriffen? Berger bringt es wie folgt auf den Punkt:
Externalisierung ist das ständige Strömen menschlichen Wesens in die Welt des materiellen und immateriellen Handelns von Menschen. Objektivierung ist die Gewinnung einer Wirklichkeit (durch die Produkte wiederum sowohl materiellen wie immateriellen Handelns), einer Wirklichkeit, die ihren Hervorbringern dann als Faktizität, außen und anders als sie selbst, gegenübersteht. Internalisierung ist die Wiederaneignung ebendieser Wirklichkeit seitens der Menschen, die sie noch einmal aus Strukturen der objektiven Welt in solche des subjektiven Bewußtseins umwandeln.[9]
Resümierend hält er fest: »Aufgrund von Externalisierung ist die Gesellschaft Produkt des Menschen. Aufgrund von Objektivierung wird sie Wirklichkeit sui generis. Aufgrund von Internalisierung ist der Mensch Produkt der Gesellschaft.«[10]
Dieser Grundgedanke lässt sich nun auf die Betrachtung architektonischer Objektivationen eingrenzen: Externalisierung bedeutet dann nichts anderes als das Entwerfen und Bauen von Gebäuden; diese wiederum lassen sich als materielle Objektivationen begreifen, welche über verschiedene Modi der Aneignung internalisiert werden. Zu fragen ist nach den Gemeinsamkeiten und Besonderheiten von materiellem und immateriellem Handeln (vgl. Kapitel 3), architektonischen und anderen Objektivationen (vgl. Kapitel 4) und ihrer jeweiligen Form der Aneignung (vgl. Kapitel 5). Da wir es im Falle von Gebäuden mit anfassbaren Objektivationen zu tun haben, scheint mir die Frage nach der Rolle des Körpers für alle drei Bereiche von besonderem Interesse zu sein. Während ich mich in den drei Hauptkapiteln vorwiegend mit Gebäuden beschäftige, sind die Darstellung des Forschungsstandes (vgl. Kapitel 1) und die Überlegungen zu den phänomenologischen Grundlagen einer wissenssoziologischen Perspektive auf Architektur (vgl. Kapitel 2) breiter angelegt und im Nachdenken über das Verhältnis von Sozial- und Dingwelt entstanden.
Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich die folgenden begrifflichen Festlegungen vorwegschicken: Unter »Dingen« verstehe ich alle physisch-materiellen Elemente der Alltagswirklichkeit, wobei »Artefakte« künstlich, also menschlich erzeugte »Dinge« sind.[11] »Gebäude« wiederum sind spezielle, nämlich raumumschließende Artefakte. »Gebäude« können als Teil der »gebauten Umwelt« oder als »Architektur« betrachtet werden. Die »gebaute Umwelt« ist die durch Hervorbringung von Gebäuden und örtlich fixierten Artefakten (Brücken, Türmen etc.) geformte physische Umwelt, wobei es einerlei ist, ob ihre Elemente gewollt so hergestellt wurden oder ob sie ein beiläufiges Nebenprodukt des Handelns sind. Für Letzteres wäre etwa das Wegemuster auf einer Brachfläche ein Beispiel. Es formt sich, weil Menschen immer wieder über dieselben Flächen gehen, wodurch sich Pfade und schließlich ein Wegemuster bilden. Der Begriff »Architektur« meint in diesem Buch hingegen den Teil der gebauten Umwelt, dem ein Gestaltungswille zugrunde liegt, also eine Absicht, die gebaute Umwelt zu formen. Im Fall des Wegemusters bedürfte es also mindestens einer gestaltenden Befestigung der Pfade, um im hier gemeinten Sinne von »Architektur« (in diesem Fall von »Landschaftsarchitektur«) zu sprechen. In der Regel sind es Experten, wie Architektinnen oder Ingenieure, die im Auftrag von Laien Häuser gestalten; in meinem Verständnis können dies aber auch jedermann und jedefrau sein, die beginnen, Artefakte, wie beispielsweise Gebäude, ihren Vorstellungen entsprechend zu gestalten,[12] das heißt, ich schließe »vernakulare«[13] Formen...