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E-Book

Der springende Punkt

Wach werden und glücklich sein

AutorAnthony de Mello
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783451805448
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Anthony de Mellos meisterhafte Anleitung zu einem Leben frei von Zwängen, frei von Enttäuschungen, frei von Ängsten. Wer den Mut hat, sich darauf einzulassen, wird es erleben. Mit weisheitlichen Geschichten aus der östlichen und westlichen Welt bringt er die Kernthemen des Lebens und damit Leserinnen und Leser auf den sprichwörtlich springenden Punkt.

Anthony de Mello, geb. 1931 in Bombay, studierte nach seinem Eintritt in den Jesuitenorden Philosophie, Theologie und Psychologie in Barcelona, Poona, Chicago und Rom. Bis zu seinem Tod 1987 leitete er ein Beratungs- und Ausbildungszentrum in Lonavla in Indien.

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Leseprobe

Die Maskerade der Nächstenliebe


NÄCHSTENLIEBE IST EIGENNUTZ unter dem Deckmäntelchen des Altruismus. Sie finden es sehr schwierig zu akzeptieren, dass Sie zuzeiten nicht wirklich aufrichtig versuchen, Liebe zu üben und Vertrauen zu schenken. Lassen Sie es mich einfacher sagen, so einfach wie möglich. Ja, verdeutlichen wir es so plump und extrem wie möglich, zumindest am Anfang. Es gibt zwei Arten von Egoismus. Bei der ersten habe ich Freude daran, mir selbst zu gefallen. Das nennt man im Allgemeinen Selbstbezogenheit. Bei der zweiten Art habe ich Freude daran, anderen zu gefallen. Das wäre eine raffiniertere Form des Egoismus.

Die erste Art ist leicht zu erkennen, die zweite jedoch ist verdeckt, sehr verdeckt, und deswegen gefährlicher, denn wir finden uns dabei wirklich großartig. Aber vielleicht ist es mit uns gar nicht so weit her? Sie protestieren?

Sie, meine Dame, sagen zum Beispiel, dass Sie allein leben, regelmäßig ins Gemeindezentrum gehen und viele Stunden Ihrer Zeit opfern. Aber Sie geben auch zu, dass Sie es eigentlich aus einem eigennützigen Grund tun – Sie müssen irgendwo gebraucht werden –, und Sie wissen auch, dass Sie dort gebraucht werden wollen, wo Sie glauben, ein klein wenig zum Wohl der Allgemeinheit beitragen zu können. Aber Sie nehmen zugleich für sich in Anspruch, dass man Sie braucht, und schon ist es keine Einbahnstraße mehr.

Sie sind fast aufgeklärt! Wir müssen von Ihnen lernen. Sie sagt: »Ich gebe etwas und bekomme etwas.« Sie hat recht. Ich möchte jemandem helfen. Ich gebe etwas und ich nehme etwas. Das ist gut und schön und in Ordnung. Aber es ist keine Nächstenliebe, sondern aufgeklärter Eigennutz.

Und Sie, mein Herr, weisen uns darauf hin, dass das Evangelium Jesu im Grunde eine Frohbotschaft des Eigennutzes ist. Wir erlangen das ewige Leben durch unsere Akte der Nächstenliebe. »Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz … Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben«, und so weiter. Sie weisen darauf hin, dass dies genau die Bestätigung dessen ist, was ich gesagt habe. Wenn wir auf Jesus schauen, sagen Sie weiter, sehen wir, dass seine Taten der Nächstenliebe letztlich Taten des Eigennutzes waren, um Seelen für das ewige Leben zu gewinnen. Und Sie erkennen das als die ganze Triebkraft und den Sinn des Lebens: Befriedigung des Eigennutzes durch Taten der Nächstenliebe.

Gut, aber Sie mogeln ein bisschen, weil Sie die Religion ins Spiel gebracht haben.

Das ist legitim und zulässig. Aber wie wäre es, wenn ich das Evangelium, die Bibel und Jesus erst am Ende dieser Besinnung behandeln würde. Jetzt möchte ich nur so viel sagen, um es noch komplizierter zu machen: »Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben, ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben«, und was antworten sie? »Wann? Wann haben wir das getan? Das haben wir nicht gewusst.« Sie waren unwissend!

Ich habe manchmal die schreckliche Vorstellung, dass der König sagt: »Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben«, und die Schafe zu seiner Rechten antworten: »Das stimmt Herr, das wissen wir.« »Ich habe nicht mit euch gesprochen«, wird dann der König erwidern. »Das steht so nicht im Textbuch, es wird nicht angenommen, dass ihr es gewusst habt.« Ist das nicht interessant? Aber Sie wissen es. Sie kennen die innere Befriedigung, die Taten der Nächstenliebe bereiten.

Genau das ist es also! Es ist das Gegenteil von dem, der sagt: »Was ist schon Besonderes dabei? Ich habe etwas gegeben und habe etwas bekommen. Ich kam gar nicht auf die Idee, dass ich etwas Gutes getan haben könnte. Meine linke Hand ahnte nicht, was meine rechte tat.«

Es ist doch klar: Eine gute Tat ist am besten, wenn man nicht weiß, dass man Gutes tut. Oder wie es der große Sufi sagen würde: »Ein Heiliger ist so lange heilig, bis er es weiß.« Nicht Selbstbewusstsein, sondern Selbstunbewusstsein! Manche werden damit nicht einverstanden sein und sagen: »Ist die Freude, die ich beim Geben habe, nicht das ewige Leben hier und jetzt?« – Ich weiß es nicht. Für mich ist Freude Freude, und nichts weiter. Zumindest für den Moment, bis wir später auf die Religion zu sprechen kommen. Aber es liegt mir daran, dass Sie etwas gleich von Anfang an verstehen: dass Religion nicht – ich wiederhole: nicht – unbedingt mit Spiritualität zusammenhängen muss. Lassen Sie die Religion hier noch aus dem Spiel.

Gut: Sie fragen, was mit dem Soldaten ist, der sich auf eine Handgranate warf, um andere zu schützen? Und was ist mit dem Mann in dem mit Dynamit beladenen Lastwagen, der in Beirut in ein amerikanisches Militärlager fuhr? Was ist mit ihm? »Eine größere Liebe als dieser hat niemand.« Doch die Amerikaner denken anders. Er tat es mit Absicht, und das ist das Schlimme, oder? Aber er dachte nicht so, das kann ich Ihnen versichern. Er war überzeugt, er kommt in den Himmel. Genauso dachte Ihr Soldat, der sich auf die Handgranate warf.

Ich versuche, mir eine Tat vorzustellen, bei der es nicht um das Ich geht, bei der Sie erwacht sind und bei der das, was Sie tun, durch Sie getan wird. Ihre Tat wird dann ein Geschehnis. »Lass es durch mich geschehen.« Ich schließe das nicht aus. Aber wenn Sie es tun, suche ich dabei nach dem Eigennutz. Und wenn er nur darin liegt: »Ich möchte als großer Held in Erinnerung bleiben«, oder: »Ich könnte nicht weiterleben, ohne das getan zu haben. Ich könnte niemals mit dem Gedanken leben, davongelaufen zu sein.«

Aber berücksichtigen Sie, dass ich die andere Art von Taten dabei nicht ausschließe. Ich habe nicht gesagt, dass es überhaupt keine Taten ohne Eigennutz gibt. Es gibt sie vielleicht doch. Wir werden es herausfinden müssen. Eine Mutter, die ihr Kind rettet – ihr eigenes Kind, werden Sie dann sagen. Doch wie kommt es, dass sie nicht das Kind ihrer Nachbarin rettet? Es ist ihr eigenes Kind. Es ist der Soldat, der für sein Land stirbt. Viele solcher Tode beschäftigen mich, und ich stelle mir die Frage: »Sind sie das Ergebnis einer Gehirnwäsche?« Auch Märtyrer geben mir zu denken. Ich glaube, sie unterlagen meist einer Gehirnwäsche. Islamische Märtyrer, hinduistische Märtyrer, buddhistische Märtyrer, christliche Märtyrer …

Irgendwie waren sie von dem Gedanken beherrscht, dass sie sterben müssen, dass der Tod etwas Großes ist. Sie empfinden nichts, sie tun es einfach. Aber nicht alle, hören Sie mir also gut zu. Ich sagte: nicht alle von ihnen, wenn ich auch die Möglichkeit nicht ausschließen will. Viele Kommunisten haben eine Gehirnwäsche mitgemacht (das glauben Sie gern!), und zwar so intensiv, dass sie bereit sind zu sterben. Manchmal denke ich mir, dass der gleiche Prozess zum Beispiel einen heiligen Franz Xaver, aber ebenso Terroristen hervorbringen könnte. Sie können jemanden dreißigtägige Exerzitien machen lassen und ihn am Ende ganz in der Liebe zu Christus entbrannt sehen, ohne die geringste Selbsterkenntnis gewonnen zu haben. Er könnte für andere unerträglich sein – und dabei denken, er sei ein großer Heiliger. Ich möchte den heiligen Franz Xaver nicht in falschen Verdacht bringen, er war gewiss ein großer Heiliger, wenn man auch nur schwer mit ihm zusammenleben konnte. Wissen Sie, er war ein furchtbarer Oberer, wirklich! Machen Sie mit mir dazu einen kleinen Ausflug in die Geschichte.

Ignatius, der Gründer unseres Ordens, musste sich immer einschalten, um den Schaden wieder gutzumachen, den dieser gute Mann mit seiner Intoleranz angerichtet hatte. Man muss recht intolerant sein, um das zu erreichen, was er erreicht hat. Weiter, immer weiter – egal, wie viele Menschen auf der Strecke bleiben. Einige Kritiker Franz Xavers beklagen genau das. Er pflegte Männer aus unserem Orden zu entlassen, die sich dann an Ignatius wandten, der ihnen sagte: »Komm nach Rom, wir wollen darüber sprechen.« Und Ignatius nahm sie heimlich wieder auf. Wie viel Selbsterkenntnis war hier mit im Spiel? Wie wollen wir es beurteilen, wir wissen es nicht.

Ich sage nicht, dass es so etwas wie die reine Motivation nicht gibt. Ich sage nur, dass gewöhnlich alles, was wir tun, in unserem eigenen Interesse geschieht. Alles. Wenn Sie etwas aus Liebe zu Jesus tun, ist das Eigennutz? Ja. Wenn Sie etwas aus Liebe zu irgendjemand tun, tun Sie das in Ihrem eigenen Interesse. Ich will das näher erklären.

Angenommen, Sie leben in Phoenix im Süden der USA und sorgen dafür, dass fünfhundert Kinder jeden Tag etwas zu essen haben. Bereitet Ihnen das ein gutes Gefühl? Ja, würden Sie erwarten, dass Ihnen das ein schlechtes Gefühl verschafft? Aber manchmal ist es so. Nämlich deswegen, weil es Leute gibt – und Gott sei Dank gehören Sie nicht zu ihnen –, die etwas nur tun, um kein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Das nennen sie dann Nächstenliebe. Sie handeln aber nur aus einem Schuldbewusstsein. Das ist keine Liebe. Doch Gott sei Dank, tun Sie etwas für andere, und es macht Ihnen Freude. Bestens! Sie sind ein gesundes Individuum, weil Sie eigennützig sind. Das ist ganz normal.

Fassen wir zusammen, was ich über selbstlose Nächstenliebe gesagt habe. Ich sprach davon, dass es zwei Arten von Egoismus gibt; vielleicht hätte ich sogar drei sagen sollen.

Erstens: wenn ich etwas tue, oder gar, wenn es mir Freude macht, mir selbst zu gefallen.

Zweitens: wenn es mir Freude macht, anderen zu gefallen. Seien Sie nicht stolz darauf. Meinen Sie nicht, Sie seien ein außergewöhnlicher Mensch. Keineswegs, Sie sind ganz normal, Sie haben nur einen verfeinerten Geschmack. Ihr Geschmack ist gut, und nicht Ihre Spiritualität. Als Sie noch Kind waren, mochten Sie Cola; jetzt aber, als Erwachsener, wissen Sie an einem heißen...

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