DIE VORBEREITUNG
Ho’omoe wai kahi ke kao’o
Laßt uns alle miteinander reisen
wie Wasser, das in eine Richtung fließt
Dies ist ein Buch über Schamanismus, besonders über die hawaiianische Tradition des Schamanentums und über das Wesen des »Stadt-Schamanen«. Damit Sie den größtmöglichen Nutzen aus diesem Buch ziehen können, möchte ich gleich zu Beginn definieren, wovon wir sprechen werden.
Nach dem französischen Historiker Mircea Eliade ist die Praxis des Schamanismus überall auf der Welt anzutreffen, unter anderem in Asien, Nord- und Südamerika sowie im pazifischen Raum. Das Wort Schamane stammt aus der tungusischen Sprache Sibiriens und ist heute eine bei Wissenschaftlern und Laien gleichermaßen gängige Bezeichnung für Personen, die den Schamanismus ausüben. Die meisten Kulturen haben für solche Menschen einen Begriff aus ihrer eigenen Sprache; das Hawaiianische beispielsweise nennt den Schamanen kupua.
Es gibt die unterschiedlichsten Vorstellungen darüber, was ein Schamane ist und tut; wie Eliade neige ich jedoch zu einer genauen Definition. Nicht jeder Medizinmann ist ein Schamane, aber ein Schamane kann ein Medizinmann sein. Nicht jeder Stammespriester ist ein Schamane, aber ein Schamane kann ein Stammespriester sein. Nicht jeder mediale Heiler ist ein Schamane, aber ein Schamane kann ein medialer Heiler sein. Zum Zwecke dieses Buches und meiner Lehren definiere ich einen Schamanen als einen Heiler von Beziehungen: zwischen Geist und Körper, zwischen Menschen, zwischen Menschen und ihren Lebensumständen, zwischen Mensch und Natur sowie zwischen Materie und Geist.
Bei der Ausübung seiner Heilkunst hat der Schamane eine ganz andere Sicht der Wirklichkeit als die meisten Menschen unserer Zeit, und es ist gerade diese einzigartige Perspektive (die im weiteren Verlauf dieses Buches umfassend behandelt werden soll), was den Schamanen von anderen Heilern abhebt. Sie ermöglicht ihm einige durchaus ungewöhnliche Behandlungsmethoden, die man gemeinhin mit dem Schamanismus assoziiert, zum Beispiel Formveränderung, Kommunikation mit Pflanzen und Tieren und Reisen in die »Unterwelt«. Wenn manche dieser Dinge eigenartig klingen, so lassen Sie sich dadurch nicht beirren. Sie werden noch feststellen, daß viele – wenn nicht die meisten – dieser Praktiken auf eigentümliche Weise vertraut anmuten. Die Schamanen nämlich begründen ihre Kunst auf dem natürlichen Erleben des Menschen. Bald werden Sie merken, daß Sie bereits mehr über den Schamanismus wissen, als Sie dachten.
Hawaiianischer Schamanismus
Der Schamanismus ist eine eigene Form des Heilens, und das hawaiianische Schamanentum ist eine eigene Form des Schamanismus. Unabhängig von seinem Kulturkreis, ist die herausragende Eigenschaft des Schamanen die Tendenz zum Engagement, zur schöpferischen Aktivität. Wissen und Verstehen sind nicht genug, auch passives Akzeptieren allein besitzt keinen Reiz. Der Schamane stürzt sich mit Herz und Seele ins Leben und erfüllt die Rolle des Mitschöpfers. Es gibt Gemüter, die sich damit bescheiden, Gestalt und Lage eines gefällten Baumes zu bewundern. Der Schamane dagegen gleicht eher dem Bildhauer, der den Baum mustert und erfaßt ist von dem Verlangen, ihn zum Abbild seiner inneren Vorstellung zu verwandeln ... oder in ein nützliches Werkzeug. Er hat Achtung und Bewunderung für den Baum, wie er ist, aber zugleich auch den Impuls, sich mit ihm zu verbinden und etwas Neues hervorzubringen. Dieser Aktivismus äußert sich in der wichtigsten Aufgabe eines Schamanen: in der Tätigkeit des Heilers. Unabhängig von Kultur, geographischer oder gesellschaftlicher Umgebung besteht die Aufgabe des Schamanen im Heilen von Geist, Körper und Lebensumständen. In der Tat ist es dieser Einsatz zum Dienst an Gesellschaft und Umwelt, was den Schamanen unterscheidet von dem Zauberer nach Castanedas Modell, der dem Pfad zu ausschließlich persönlicher Macht und Erleuchtung folgt. Zwar sind alle Schamanen Heiler, doch die Mehrzahl beschreitet den »Weg des Kriegers«; nur eine Minderheit, zu der auch die Schamanen-Tradition Hawaiis gehört, folgen dem Weg, den wir den »Weg des Abenteurers« nennen können.
Der »Krieger«-Schamane wird Angst, Krankheit oder Disharmonie personifizieren und sich auf die Entfaltung von Macht, Beherrschung und Kampfkünsten konzentrieren, um damit umzugehen. Ein »Abenteurer«-Schamane hingegen wird solche Zustände de-personifizieren (d.h. sie als Auswirkungen, nicht als Dinge behandeln) und mit ihnen umgehen, indem er Qualitäten wie Liebe, Zusammenarbeit und Harmonie entfaltet. Ein einfaches Beispiel mag diese unterschiedlichen Ansätze illustrieren: Wenn Sie mit einer Person konfrontiert sind, die emotional erregt ist, würde ein Krieger-Schamane Ihnen vielleicht helfen, einen starken psychischen Schutzschild aufzubauen, um Sie vor der negativen Energie des anderen zu schützen. Der Abenteurer-Schamane dagegen würde Sie vermutlich lehren, Ihre eigenen Energien zu harmonisieren, damit Sie ruhig bleiben und sogar zur Quelle der Heilung für die andere Person werden können. Ferner ist der Pfad des Krieger-Schamanen oft einsam, während der Pfad des Abenteurers von Natur aus recht gesellig ist. Trotzdem ist es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, den Unterschied zwischen Meistern beider Richtungen festzustellen: Je machtvoller man ist, desto liebevoller ist man auch (da es immer weniger zu fürchten gibt); und je liebevoller man ist, desto machtvoller ist man auch (da das Vertrauen immer größer wächst). Ich ging beide Wege, und ich wählte und lehre den Pfad des hawaiianischen Abenteurer-Schamanen, weil ich ihn für den praktischsten und heilsamsten halte, doch ich habe großen Respekt für die Krieger-Schamanen und ihre Art zu heilen.
Der Stadt-Schamane
Der Titel dieses Buches lautet Der Stadt-Schamane, weil das urbane Umfeld Brennpunkt und Ziel meines Lehrens ist. Obgleich der Begriff Schamanismus gewöhnlich an ländliche Gegenden oder Wildnis denken läßt, ist seine Ausübung auch im großstädtischen Bereich sowohl natürlich als auch notwendig. Erstens ist der Schamane vor allem ein Heiler, unabhängig von kultureller oder geographischem Umfeld. Zweitens leben heutzutage mehr Menschen in Großstädten und Ballungsräumen als auf dem Lande, und sie sind es, die der Heilung am meisten bedürfen. Drittens ist der Schamanismus – und besonders die hawaiianische Spielart – aus mehreren Gründen an die moderne Zeit und ihre Bedürfnisse wohl angepaßt:
1. Er ist gänzlich überkonfessionell und pragmatisch orientiert. Das Schamanentum ist ein Handwerk, keine Religion, man kann ihn allein oder in einer Gruppe praktizieren.
2. Er ist sehr einfach zu lernen und anzuwenden, obgleich – wie bei jedem Handwerk – die Vervollkommnung gewisser Fertigkeiten eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt.
3. Besonders die hawaiianische Version läßt sich jederzeit und überall praktizieren, etwa zu Hause, bei der Arbeit, in der Schule, beim Spiel oder auf Reisen. Diese Annehmlichkeit ist vor allem darauf zurückzuführen, daß die hawaiianischen Schamanen meist mit dem Geist und Körper allein arbeiten. Sie verwenden keine Trommeln, um veränderte Bewußtseinszustände herbeizuführen, und sie gebrauchen keine Masken, um andere Formen oder Qualitäten anzunehmen.
4. Es liegt im Wesen des Schamanismus, daß der Praktizierende, indem er andere heilt auch sich selbst heilt, und indem er den Planeten transformiert, den Weg der eigenen Transformation beschreitet.
Die Lehrzeit
In längst vergangenen Zeiten, als die Menschen noch in voneinander recht isolierten Dorfgemeinschaften lebten und das Bild der Welt des einzelnen sich auf die unmittelbare Umgebung von Tal, Berg oder Insel beschränkte, war es angebracht, daß jemand, der den Weg des Schamanen gemeistert hatte, im Laufe seines Lebens einen, zwei oder drei Lehrlinge ausbildete. Diese kleine Zahl vermochte alle Bedürfnisse der Dorfgemeinschaft zu erfüllen. Heute jedoch leben wir in einem globalen Dorf mit Milliarden von Menschen, und wir brauchen zumindest Tausende von Stadt-Schamanen, um dazu beizutragen, eine harmonische, gesunde Existenz aufrechtzuerhalten. Stadt-Schamanen, das heißt: Menschen wie Sie.
Ich wurde als Stadt-Schamane aufgezogen. Mein Vater war außerordentlich weitgereist und wohl versiert in zahlreichen Kulturen und Traditionen der Welt, darüber hinaus unterzog er sich einer gründlichen Ausbildung in der Tradition des hawaiianischen Schamanentums. Er war sehr geübt in den Praktiken und Fertigkeiten von Busch und Dschungel, Wald und Feld, Wüste und Tundra, und ich lernte von ihm sehr viel über die Natur. Aber vor allem und in erster Linie war er ein Städter, Inhaber medizinischer und ingenieurstechnischer Titel, und er fühlte sich ganz zu Hause in Wirtschafts- und Regierungskreisen. Zu Beginn eines Krieges trat ich in sein Leben, und er verließ das meine am Ende...