Der Rätselhafte
Gianni Bugno
»Am Anfang haben alle mit mir gerechnet, aber da war ich nicht da. Ich bin erst aufgekreuzt, als keiner mehr mit mir gerechnet hat. Also, ich verstehe mich ja selber nicht.« Ein rätselhafter Mensch, sich keiner Sache sicher, am wenigsten seiner selbst.
»Was hast du morgen vor, Gianni, greifst du an?«
»Mal sehen.«
Gianni Mura, Korrespondent der Zeitung La Repubblica bei der Tour de France, macht daraus sofort einen Spitznamen – Vedremo, »Mal sehen«. Und dabei bleibt es. Was dir durch den Sinn geht, weiß niemand im Voraus, auch du nicht. Sinnlos, eine Strategie zu erwarten, eine Erklärung oder auch nur ein Aufblitzen von Siegeswillen. Was wird, wird, mehr ist dazu nicht zu sagen. Keine Ankündigungen, keine Prognosen. Man lebt Tag für Tag und vor allem, ohne zu wissen, wie sehr man, ob man überhaupt mit dir rechnen darf.
Deine wesentlichen Qualitäten kennst noch nicht einmal du selbst: »Ich bin kein Spezialist, weder für Eintagesrennen noch für Rundfahrten, ich muss einfach schauen, dass ich irgendwie klarkomme. Bergab darf man von mir kein Wahnsinnstempo erwarten, wegen meiner Labyrinthitis. Übrigens trinke ich morgens keinen Cappuccino, ich glaube, ich bin allergisch auf Milch.« Unsicher, voller Zweifel, vage pessimistisch. Das ist Gianni Bugno, Jahrgang ’64, geboren im schweizerischen Brugg als Sohn von Auswanderern aus der Brianza. Ein Schweizer Lombarde. Schon dieser Ursprung ist von brillanter Unentschlossenheit.
Deine gesamte Karriere steht im Zeichen des Zögerns, eines fast unablässigen Grübelns. Noch während der größten Triumphe, die du dir hinterher nicht einmal im Fernsehen ansehen willst, wirkst du wenig überzeugt. Beinahe so, als wären diese Siege eine Schande, die es unter den Teppich zu kehren gilt, ein gefährlicher Fluch und umgehend zu vergessen. Wenn du dich doch einmal im Fernsehen siehst, sagst du nur: »Ich erkenne mich da nicht wieder.«
Ja, geboren in der Schweiz, aber aufgewachsen in Italien bei den Großeltern, zusammen mit deiner Schwester, die du nie dazu überreden konntest, sich auf ein Fahrrad zu setzen. Die Lombardei trägst du seit der Kindheit im Herzen. Wie eine Narbe oder eine Tätowierung, wie der große Bernard Hinault seine Bretagne. Keine Seltenheit bei Radprofis. Diese industriell geprägte und zugleich grüne Gegend mit ihren Straßen und Anstiegen, den üblen Rissen im Asphalt, bleibt für immer mit dir verbunden. So sehr, dass es dort bis vor ein paar Jahren noch ein wundervolles, nach dir benanntes Jedermannrennen gab, den Granfondo Gianni Bugno. Mit Start und Ziel auf dem Autodrom in Monza. Die Strecke verlief in einem lang gezogenen Auf und Ab über die Straßen, auf denen du früher trainiert hast, den Straßen der Brianza, berühmt geworden durch die Lombardei-Rundfahrt – diesen Klassiker, der wie für dich gemacht schien, den du jedoch nie gewonnen hast. Noch so eine deiner auf unerklärliche Weise verpassten Verabredungen. Gäbe es einen Psychoanalytiker für Radprofis, du, Gianni Bugno, wärst sein idealer Patient.
Schon in jungen Jahren fängt Gianni mit dem Radfahren an. Als sein Vater eines Tages auf die unglückliche Idee kommt, ihm einen Tennisschläger hinzulegen, verzieht er bloß das Gesicht: »Nein, danke.« Er bleibt lieber bei dem seltsamen Sportgerät mit Pedalen, das in Italien la specialissima heißt. Das Verhältnis zum Vater wird nie ganz frei von Spannungen sein, so viel sei schon mal gesagt.
Du wächst schnell heran, vor der Zeit, jedenfalls im Vergleich zu deinen Altersgenossen. Schon als Teenager strahlst du etwas Erwachsenes, Lebenserfahrenes aus, um nicht zu sagen, etwas Betagtes. Du bist zu frühreif, zu illusionslos und vage melancholisch, um dich lange mit den anderen abzugeben. Das Dumme ist nur, dass die Mädchen auf dich fliegen. Was man allerdings leicht versteht, wenn man an diese Ausstrahlung denkt, den Appeal des düsteren Schönen. Und doch scheinst du auch von diesen Eigenschaften deiner Person nicht allzu überzeugt. Mehr als zu den Frauen zieht es dich aufs Rad, und so fährst du, so oft wie möglich, über die öden, einsamen Straßen deiner geliebten Brianza. Nicht zu greifen, ein einsamer Wolf, aber stets mit Stil wie ein Gentleman aus einer anderen Zeit. Abends verschanzt du dich in deinem Zimmer und polierst das Rad Schraube für Schraube, Rohr für Rohr, und dann legst du dich schlafen, am nächsten Tag geht ja das Training weiter.
»Mensch, Gianni, wo willst du denn hin bei diesem Wetter?«, fragt dein Vater. Draußen regnet es Bindfäden. Die Antwort fällt höflich aus, aber entschieden: »Du gehst doch zum Arbeiten in die Wäscherei, oder?«
»Klar!«
»Na, ich gehe auch arbeiten, nur auf der Straße.«
Treffer, versenkt. Aber selbst würdest du keinen Cent auf dich wetten. Wenn du merkst, dass andere das tun – bleib mir vom Leib. Da rollst du dich ein wie ein Igel, von Zweifeln und Unsicherheiten geplagt. Ein Zauderer wie Hamlet und unergründlich.
Wie damals bei Mailand–Sanremo anno 1990. Ein Wettbewerb, für den du »eigentlich nicht der richtige Typ« bist, wie du am Vorabend eilig klarstellst: »Siegchancen? Könnt ihr euch abschminken.« Schon recht, aber man müsste auch mal fragen, welches Rennen zu deinem Fahrertyp passt. Lüttich–Bastogne–Lüttich? Hmm. Oder Paris–Roubaix? Sicher nicht! Dann also der Giro oder die Tour de France? Also bitte, nein! Und doch kommt es ganz anders. Wie sich herausstellt, entspricht Mailand-Sanremo 1990 vollkommen deinem »Typ«. Das Rennen wirkt wie geschaffen für einen Radprofi wie dich, mit dem bei den Klassikern ebenso zu rechnen ist wie bei den großen Rundfahrten. Seit Ende der Achtzigerjahre ist so ein Fahrer im Radsport Mangelware. Du siegst also mit einer Sicherheit und Lockerheit, die derart überwältigend sind, dass man dir beim Gedanken an deine Ausflüchte vom Vortag den Hals umdrehen könnte. Wie du das allerdings angestellt hast, scheinst du bis heute nicht zu verstehen. Da kannst du uns nicht weiterhelfen. »Ich hatte eben Glück«, lautet dein häufigster Kommentar. Na sicher doch, Glück. Solche Rennen, die Klassiker, gewinnt man nur durch Fortune – Talent, Können und Durchhaltevermögen bringen da leider gar nichts. Erklär das mal deinen illustren Kollegen Merckx, Moser oder Anquetil. Nein, du hast Mailand–Sanremo nicht durch Glück gewonnen. Und das weißt du auch.
Es ist Samstag, der 17. März, laut Wettervorhersage ein unbeständiger Tag. Aber Frühlingsanfang ist ja auch erst in vier Tagen, etwas anderes kann man da kaum erwarten. Doch während ihr in die Pedale tretet, taucht plötzlich, wo vorher Nebel und Feuchtigkeit herrschten, ein Stück klarer Himmel auf, etwas Blau, über euch kreisen die Möwen. Das alles gehört unverwechselbar zu Mailand–Sanremo, und macht dieses »Monument« seit jeher zu einer einzigen großen Metapher des Jahreszeitenwechsels, des Übergangs vom Winter zum Frühling, vom Dunkel zum Licht. Vor fünfhundert Metern hatte der Winter noch das Sagen, und nur fünfhundert Meter weiter erstrahlt bereits der Frühling.
Soeben habt ihr den Passo del Turchino hinter euch gelassen, die Apenninen weichen der ligurischen Riviera, eilig verziehen sich die Nebelschleier, wie eine ältere Dame, der es zu spät wird. Diese Schönheit macht Mailand–Sanremo aus. Das Feld hat sich bereits kurz nach dem Start in Pavia geteilt. Dabei spielte der Seitenwind eine wesentliche Rolle. Vorne sind nur noch diejenigen, die sich den Wind zu einem wertvollen Verbündeten gemacht haben, während jene, die sich von den Böen wie Wetterfahnen durchschütteln lassen, hinterherhängen. Du bist in der Spitzengruppe, und das ist kein Zufall. Bei der Einfahrt nach Imperia beendet ein Naturbursche aus Sizilien, Angelo Canzonieri, das angespannte Warten und ergreift vor aller Augen die Flucht. Ohne zweimal zu überlegen, hängst du dich an sein Hinterrad. Am Fuß von Cipressa, beim vorletzten Anstieg, wo das Rennen so oft entschieden wird, lässt du ihn stehen wie ein lästiges Anhängsel und erklimmst alleine den Gipfel. An diesem Tag bist du von geradezu entwaffnender Sicherheit. Hinter dir hat sich ein Loch aufgetan, Konkurrenten vom Kaliber eines Saronni, Fignon, Argentin oder LeMond starren dir mit offenem Mund hinterher. Wie so häufig im Radsport der letzten Jahre. Du bist eine Naturgewalt. Von wegen rätselhaft.
Das Trikot deiner Mannschaft Chateau d’Ax ist weiß, rot und schwarz. Man sieht nur noch diese Farben auf dem Asphalt. Sonst nichts. Der perfekte Alleingang, eine Leistung, von der jeder Radfahrer seit seiner Kindheit träumt.
Doch gerade im Augenblick des Triumphs, als dir klar wird, dass du tatsächlich kurz vor dem Sieg stehst, kehrt deine verdammte Unsicherheit zurück. Noch ein Kilometer bis zum Ziel, zehn Sekunden Vorsprung auf den ersten Verfolger, aber du kommst ins Grübeln. »Oh Gott, um Himmels willen, ist das jetzt wirklich der Sieg? Vielleicht sollten wir uns das noch mal überlegen«, scheinst du zu sagen. Tatsächlich zeigt sich der Zweifel in einer Bewegung: Du drehst dich immer wieder um, einmal, zweimal, dreimal. Um zu sehen, ob sich nicht zufällig noch einer drangehängt hat, fast so, als suchtest du Gesellschaft, als hättest du genug von der Einsamkeit an der Spitze. Und da ist in der Tat einer, ein Deutscher namens Gölz, und der schöpft nach und nach Mut, als er deine Unsicherheit wittert. Angriffslustig kommt er näher. Er drückt aufs Tempo, erhöht die Trittfrequenz, er glaubt, dass da noch etwas für ihn drin ist. Dem TV-Kommentator Adriano De Zan gefriert bereits der Jubel auf den Lippen. »Ein dramatisches Finale!«, ruft er. Wirklich?
Nein, seine...