Das Jugendstrafrecht ist eine Schöpfung des 20. Jahrhunderts: Es wurden zwar auch schon in älteren Zeiten jugendliche Straftäter wegen mangelnder oder geminderter Schuldfähigkeit milder bestraft, soweit jedoch in diesem Zusammenhang von Erziehung die Rede war, wurde darunter regelmäßig die Körperstrafe, als abschreckende körperliche Züchtigung, gemeint.[76] Straffällige Jugendliche wurden nicht als Menschen in einer besonderen Entwicklungsphase gesehen und das Strafverfahren gegen sie richtete sich grundsätzlich nach den Prozessvorschriften für Erwachsene, es galten daher auch die allgemeinen Strafen.[77] Die Jugendlichkeit des Angeklagten galt zwar als Milderungsgrund, das schloss jedoch empfindliche Gefängnisstrafen nicht aus.[78] Die besorgniserregend hohe Kriminalitätsrate bei Jugendlichen lenkte zunehmend das öffentliche Interesse auf die Abkehr vom tatvergeltenden zugunsten eines spezialpräventiven Zweckstrafrechts, mit dessen Hilfe die Besserungsbedürftigen gebessert, die Unverbesserlichen unschädlich gemacht und die Gelegenheitsverbrecher durch einen Denkzettel für ihren „egoistischen“ Trieb von weiteren Straftaten abgeschreckt werden sollten.[79] Das Zweckstrafrecht erschien besonders geeignet: Es versprach eine angemessene Lösung im Umgang mit jugendlichen Straftätern, denn der junge Mensch wurde als besonders form- und beeinflussbar gesehen.[80]
Die starke Zunahme der Jugendverwahrlosung während des 1. Weltkrieges und die damit einhergehende ausufernde Jugendkriminalität führten dazu, dass im Februar 1923 das Jugendgerichtsgesetz verabschiedet wurde. Der Erziehungsgedanke, den das JGG 1923 „ in den Vordergrund“ gestellt hatte, diente einerseits der Limitierung der tatvergeltenden Strafe, andererseits diente er aber auch der Legitimierung spezialpräventiv orientierter Sanktionen.[81] Ihren Niederschlag fanden diese Gedanken in der Heraufsetzung des Strafmündigkeitsalter von 12 auf 14 Jahre, in der Einschränkung der Untersuchungshaft und Freiheitsstrafe, in der Verrechtlichung der Möglichkeit, die Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen sowie in der erstmals erfolgten Durchbrechung des Legalitätsprinzips.[82]
Die Funktion des Erziehungsgedankens für das JGG 1923 kann als „Synonym Entkriminalisierung, für ein Subsidiär-Machen-Wollen von Bestrafung und für den Versuch eines Erträglich-Machens“ gesehen werden, der letztlich auch zur Legitimation spezialpräventiv orientierter Sanktionen diente.[83]
Die nach 1933 von den Nationalsozialisten veränderte Zielperspektive für ein neues Strafrecht wirkte sich auch erheblich auf den erst jungen Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht aus. Die strafrechtliche Sanktionen des Erziehungsgedankens des JGG 1923 wurde im RJGG 1943 aufgegriffen und verstärkt, denn die betonte Hervorhebung des Strafgedankens im RJGG 1943 fand ihren formalen Ausdruck darin, dass die Strafe in der Reihenfolge der Sanktionen an erster Stelle genannt wurde. Erst danach folgten die Erziehungsmaßregeln.[84] Mit dieser Reihenfolge wurde nicht nur das 1923 im JGG gesetzlich festgeschriebene Subsidiaritätsprinzip der Strafe abgeschafft, sondern auch Erziehung und (staatlich verordnete) repressive Reaktion gleichgesetzt. Weiterhin zeigte die Aufweichung der Altersgrenzen, nämlich die gesetzliche Absenkung der Strafunmündigkeitsgrenze von 14 auf 12 Jahren den umfassenden Kontrollanspruch der Nationalsozialisten über Kindheit und Jugend und das Jugendstrafrecht wandelte sich immer mehr zum zweckfunktionalen Kampfinstrument gegen jugendliche Straftäter.[85]
Demgegenüber entwickelte das in der Bundesrepublik eingeführte Jugendgerichtsgesetz von 1953 das RJGG von 1943 fort, nachdem dessen nationalsozialistische Elemente, insbesondere die erwähnte „Auflockerung“ der Altersgrenzen beseitigt worden waren.[86] Eine wesentliche Weiterentwicklung war, dass nun auch „Heranwachsende“ bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres, in das Jugendstrafrecht und damit in den Erziehungsgedanken mit einbezogen werden konnten.
Anders als beim Erwachsenenstrafverfahren ist der Erziehungsgedanke im Jugendstrafverfahren seit 1953 fest mit eingebunden. Nach der Rechtsprechung sind im Erwachsenenstrafverfahren innerhalb des konkreten Strafrahmens Präventionszwecke zu berücksichtigen.[87] Diese bestehen darin, den Täter von Straftaten abzuhalten, ihn in die Gemeinschaft wieder einzugliedern, die Allgemeinheit vor ihm zu sichern (Spezialprävention) oder Dritte vor der Begehung von Straftaten abzuhalten (Generalprävention).[88]
Für das Jugendstrafrecht allerdings ergibt sich aus §§ 5, 18 II, 91 I JGG, dass der Erziehungsgedanke Grund, Rechtfertigung und Grenze für die Anwendung des Jugendstrafrechts sind.[89] Nach wie vor ist das Rechtsfolgensystem von der Dreiteilung in Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel und Jugendstrafe gekennzeichnet, wobei erstere gedanklich ausschließlich dem Erziehungsprinzip entsprechen, die Zweitgenannten auch ahndende Bedeutung haben und die Jugendstrafe schließlich Raum für eine noch stärkere Berücksichtigung von Belangen des Schuldausgleichs bietet[90], wenn auch erzieherische Erwägungen nicht gänzlich ausgeschlossen werden dürfen.[91]
Das Jugendstrafrecht unterscheidet sich vom Erwachsenenstrafrecht dadurch, dass der Jugendliche jugendadäquat angesprochen und behandelt werden soll. Die Person des Beschuldigten, die Möglichkeiten seiner erzieherischen Beeinflussung im Sinne künftigen Legalverhaltens stehen im Vordergrund, nicht dagegen die Verteidigung der Rechtsordnung oder generalpräventive Wirkungen.[92] Die Sanktion ist unter erzieherischen Aspekten und unter Beachtung der Persönlichkeitsstruktur des Täters festzusetzen.[93] Generalpräventive Erwägungen sind bei deren Auswahl deswegen ausgeschlossen, weil der Sinn der Erziehungsstrafe in erster Linie darin besteht, dem Täter Hilfestellung für künftige Sozialisation zu gewähren.[94]
Zusammengefasst hält das Jugendstrafrecht als Täter- und Erziehungsstrafrecht für den Jugendlichen „die rechte Maßnahme zur rechten Zeit“ bereit, kann die Tat, das Geschehene in den Hintergrund treten und auf der Grundlage einer ausgeweiteten Persönlichkeitsforschung von „Erziehungsexperten die rechte Maßnahme“ gefunden werden.[95] Diese, auf dem Primat des Erziehungsgedankens aufbauende, Theorie des Jugendstrafrechts, die auf den ersten Blick überzeugend scheint, ist dennoch in ihrer Umsetzung in der Praxis mit vielerlei Problemen und folglich auch Kritik verbunden.
1. Abschaffung des Erziehungsgedankens
Diese Ansicht betrachtet den Erziehungsgedanken schon als im Ansatz verfehlt und bekämpft ihn entsprechend. Zur Begründung wird vorgetragen, dass im Hinblick auf die Ubiquität und Episodenhaftigkeit der Jugenddelinquenz diese eher als normale Entwicklungsstufe und nicht als Anknüpfungspunkt für ein unterstelltes Erziehungsbedürfnis bzw. für angenommene Erziehungsdefizite anzusehen sei.[96] Der Erziehungsgedanke diene daher nur als Vorwand zur Ausweitung der Sanktionspraxis, zur besseren Kontrolle und Überwachung der als suspekt angesehenen Jugendlichen und zur Aussetzung einiger rechtsstaatlicher Garantien durch das JGG.[97] Unter dem „Deckmantel der Erziehung“ komme es offenbar zu einer Schlechterstellung in der Rechtsposition Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen Straftätern in vergleichbaren strafrechtlichen Verfahrenslagen.[98] Der Erziehungsgedanke werde immer dann heran gezogen, wenn bei erneuter Straffälligkeit gegen Jugendliche, härtere Strafen als gegen Erwachsene verhängt werden.[99] Folglich müsse ein Rückfalltäter schon bei kleineren Vergehen mit empfindlichen Sanktionen rechnen.
Weiterhin werde die Erziehung als vordergründige Rechtfertigung für rein repressive Maßnahmen erfasst. Es wurde zum Teil festgestellt, dass speziell die Verhängung stark belastender strafrechtlicher Maßnahmen gegen Jugendliche mit der Begründung, es müsse auf diese Weise Erziehungsbedürfnissen Rechnung getragen werden, dem Verdikt einer Erziehungsideologie ausgesetzt sei. Dies gelte jedenfalls dann, wenn keine Jugendhilfemaßnahme im strafrechtlichen Gewand, sondern Jugendstrafe als ein nach allen empirischen Erkenntnissen pädagogisch und präventiv weitestgehend ineffizientes Instrument dennoch mit erziehungsbezogener Begründung verhängt würde. Der Vorwurf illusionären Vorgehens ließe sich hier insbesondere der Rechtsprechung kaum ersparen, wenn dort betont wird, mit der Verhängung einer solchen, extrem belastenden und präventiv fragwürdigen Kriminalstrafe handele man zum Wohl des...