EINLEITUNG
In den siebziger Jahren war ich zu Gast in einer Villa, die Lorenzo der Prächtige aus der Dynastie der Medici im 15. Jahrhundert erbauen ließ. Nach Norden beschirmt von den bewaldeten Hängen der Pisaner Berge, blickte sie nach Süden über das Tal des Arno. In der Ferne, jenseits der Palmen im Park und der Olivenhaine, sah man den Schiefen Turm und dahinter das Meer. Die Innenausstattung war jüngeren Datums als die schlichte Renaissancefassade: Die nach Süden ausgerichtete Zimmerflucht atmete 19. Jahrhundert, von den Empire-Möbeln bis zum dekorativen Nippes des Fin de siècle. Bei späteren Besuchen konnte ich mir das Haus sehr gut mit Adligen des Risorgimento bevölkert vorstellen: Graf Cavour zum Beispiel, wie er mit Baron Ricasoli oder dem Marchese D’Azeglio am Esstisch sitzt und eine Rede hält.
Mein Gastgeber Giovanni Tadini, ein Aristokrat piemontesischer Herkunft, aber in Siena aufgewachsen, war belesen und von weltbürgerlichem Geschmack. Er war auch im republikanischen Italien Monarchist geblieben und hielt loyal zum savoyischen Herrscherhaus, der königlichen Familie im Exil. Manchmal sprach er gänzlich unprätentiös von italienischen Herrschern wie den Medici, so als ob sie persönliche Freunde und erst kürzlich gestorben seien. Wenn er mich durchs Haus führte, blieb er seufzend vor einem Porträt der Elisa Bonaparte stehen, die für kurze Zeit Großherzogin der Toskana war, oder lobte eine Radierung der Kirche Santa Maria Novella, eines der Hauptwerke Leon Battista Albertis in Florenz. Auf dem Flügel lag ein Band mit Karikaturen von Gästen des Caffè Michelangiolo, den schlug er auf. Oder er zeigte mir seine Erstausgabe von The Struwwelpeter Alphabet, einem ABC-Buch der wichtigsten Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens im England der Jahrhundertwende. Während wir durch Räume schlenderten, die vom Duft der Parmaveilchen in Messingjardinieren erfüllt waren, verwob mein Gastgeber mit tiefer, sonorer Stimme und häufig unter schallendem Gelächter persönliche Erinnerungen mit historischen Anekdoten. Zeitweilig hatte er als inoffizieller Botschafter im eigenen Land fungiert. Eines Tages begleitete er die britische Queen Mum zu einigen großen Villen in Lucca und Florenz und um Mitternacht zum Dom von Pisa. »Wohin wir auch gingen, es war ihre Hauptsorge, den Tassen Tee aus dem Weg zu gehen, die ihr überall angeboten wurden, und stattdessen den Gin ausfindig zu machen.«
Giovanni hatte als Kind eine englische Hauslehrerin, Miss Ramage, und sprach Englisch mit besserem Satzbau und reicherem Wortschatz als die meisten Briten. Aber diese Hauslehrerin war schon seit 40 Jahren tot, und manche ihrer Aussprüche hatten sich in seiner Erinnerung ein wenig verändert. »Wie Sie sich vorstellen können«, bemerkte er zum Beispiel glucksend, »fühlte ich mich wie ein Nilpferd im Porzellanladen.« Oder er sagte nach einer schlüpfrigen Geschichte heftig kichernd: »So ließ ich sie in ihrer eigenen Soße kochen.« Und wenn er eine interessante Bemerkung hörte, »stellte er seine Ohren auf«. Wenn ich eine seiner Fragen sehr eingehend beantwortete, strahlte er mich an und sagte: »Hüte ab.«
Nach dem Abendessen betrachtete ich gerade eine Porzellanfigur mit den Zügen Cavours, als ein schlanker, silberhaariger Herr näher kam und sich mir vorstellte: Es war Paolo Rossi, nicht der Fußballer und auch nicht der Musiker, sondern ein angesehener Politiker und Richter, ein Sozialdemokrat und in jungen Jahren Gegner Mussolinis. »So so«, sagte er, als er sah, was ich betrachtete, »Sie interessieren sich für die Einigung, die unità d’Italia?« Damals war ich ein junger Journalist, der aus dem Libanon in den ersten Jahren des Bürgerkriegs berichtete, aber aus der Schulzeit wusste ich noch genug, um zu begreifen, wovon er sprach.
Mein Geschichtslehrer in den sechziger Jahren war ein überzeugter Liberaler der alten Schule gewesen, der nicht mit der revisionistischen Sicht des bedeutenden Historikers Denis Mack Smith vertraut war und glaubte, das italienische Risorgimento illustriere beispielhaft den Triumph der Freiheit über die Unterdrückung. Deshalb war ich mehr als verblüfft, als Signor Rossi, der 20 Jahre zuvor Bildungsminister in der italienischen Regierung gewesen war, verschwörerisch fortfuhr, als äußere er in großer Erregung etwas Ketzerisches: »Davide, ich sage Ihnen, Garibaldi hat Italien einen Bärendienst erwiesen. Wäre er nicht in Sizilien und Neapel einmarschiert, hätten wir heute im Norden den reichsten und zivilisiertesten Staat Europas.« Dann ließ er den Blick über die anderen Gäste im Raum schweifen und fügte mit noch leiserer Stimme hinzu: »Natürlich hätten wir dann im Süden einen Nachbarn wie Ägypten.«
Bald verschlug mich meine Tätigkeit nach Palästina, dann wieder in den Libanon und anschließend nach Spanien, das seine Franco-Ära gerade überwunden hatte; deshalb konnte ich erst einige Jahre später nach Italien zurückkehren. Ich ging nach Palermo und schrieb eine Biographie über Giuseppe Tomasi di Lampedusa, den Autor des Romans Der Leopard – oder in neuerer Übersetzung Der Gattopardo. Aber Rossis Worte gingen mir nicht mehr aus dem Sinn, und ich dachte darüber nach, ob die Einigung Italiens damals ein notwendiges oder auch nur erfolgreiches Unternehmen gewesen war. Rossi hatte das bourbonische Königreich Neapel mit Ägypten verglichen – das konnte ich natürlich nicht billigen, aber manchmal kam mir der Gedanke, ob es den Italienern heute nicht besser ginge, wenn ihr Land in drei, vier oder sogar noch mehr Staaten aufgeteilt wäre. Italiener schienen mir Internationalisten und – in einem guten Sinn – provinziell zu sein, aber nicht nationalistisch, es sei denn, ihre Politiker redeten es ihnen mit mehr oder weniger gewaltsamen Mitteln ein. Jedenfalls ist der Nationalstaat kein Naturgesetz, das weiß das Volk von Kurdistan sehr gut. Und manchmal ist er ein so künstliches Gebilde, dass er, wie etwa Jugoslawien, wieder zerfällt. Im heutigen Europa, in dem es so viele erfolgreiche kleine Nationen gibt, wäre sicher auch Platz für eine blühende Toskana, die im 18. Jahrhundert der vielleicht zivilisierteste Staat Europas war. Oder für ein prosperierendes Venedig, einst eine mächtige Republik mit einer tausendjährigen Geschichte.
Vor ein paar Jahren beschloss ich, in den 20 italienischen Regionen jeweils eine Weile zu leben, um sie mit all ihren Unterschieden zu den anderen Landesteilen kennen zu lernen. Herkömmliche Darstellungen der italienischen Geschichte waren aus einer zentralistischen Perspektive geschrieben, als wäre die Einigung Italiens unausweichlich gewesen. Mich dagegen interessierten die zentrifugalen Tendenzen der Halbinsel, und ich wollte herausbekommen, ob die verspätete Einigung und die Wirrnisse des Nationalstaats tatsächlich zufällige historische Entwicklungen oder nicht vielmehr eine Folge der Vergangenheit und der Geographie Italiens waren – jener Verhältnisse, die nationalistischen Bestrebungen zuwiderlaufen. Ist Italien nicht einfach zu vielgestaltig, um eine erfolgreiche Nation zu sein?
Zuerst wollte ich über das 19. und 20. Jahrhundert schreiben, die Epoche von Lampedusas Roman und seines eigenen Lebens. Aber dann ertappte ich mich dabei, dass ich immer weiter zurückgehen wollte, und dann noch weiter, um zu erkunden, was frühere Generationen über Italien dachten: die Aufklärer, Dante, Machiavelli, Kaiser Augustus, Karl der Große, Friedrich II. – stupor mundi (Das Staunen der Welt) – und Napoleon. Als ich meinem Verleger Stuart Proffitt erzählte, dass auch Cicero eine Vorstellung von Italien hatte, sagte er: »David, geh zurück zu Cicero.« Ich ging zurück zu Cicero und zu Vergil und betrachtete auch die nachfolgenden Epochen. Jede hatte ein ganz eigenes, oft sehr unterschiedliches Bild von Italien. In den ersten Kapiteln dieses Buches erhebe ich nicht den Anspruch, eine Geschichte von 2000 Jahren abzuhandeln, bis schließlich Napoleon Bonaparte 1796 über Italien herfiel und das Land ins Chaos stürzte. Eher biete ich eine chronologische Skizze, mit der ich versuche, die zahllosen Erscheinungsbilder Italiens und die zentrifugalen Tendenzen in seiner Geschichte aufzuspüren und darzulegen, in welcher Form sie auch die jüngere Vergangenheit der Halbinsel prägten.
Eine wissenschaftliche Untersuchung soll es nicht werden. Ich habe mir erlaubt, in der Wahl meiner Themen subjektiv und manchmal vielleicht auch eigenwillig zu sein und Einzelphänomenen unverhältnismäßig viel Raum zu geben, die bestimmte historische Momente oder Epochen in besonderer Weise beleuchten: den mittelalterlichen Fresken in Siena oder den Denkmälern in Turin, den frühen Opern Giuseppe Verdis oder einem Film des marxistischen Regisseurs Bernardo Bertolucci. Dies ist gleichermaßen das Buch eines einfachen Reisenden wie eines Historikers – und es ist auch das Buch eines Zuhörers. Denn über viele Jahre habe ich mit großem Vergnügen Italienern zugehört, die mir aus ihrem Leben erzählten und mir ihre Sicht der Geschichte darlegten. Der unvergleichliche Richard Cobb, bei dem ich vor bald 40 Jahren in Oxford studierte, pflegte zu sagen, vieles von der französischen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts könne erlaufen, gesehen, gerochen und vor allem gehört werden – in Cafés, in Bussen und auf den Parkbänken von Paris und Lyon, seinen Lieblingsstädten. Dasselbe gilt für Italien: für Neapel im 18. oder Turin im 19. Jahrhundert. Hier, in einem tristen Café am Bahnhof Porta Nuova der Hauptstadt des Piemont, erzählte mir die freundliche, aber bedrückte padrona ausführlich von den Verbrechen der Neapolitaner, um dann seufzend zu resümieren: »Wir verstehen...