Januar
Erkenntnis
1. Januar
MACHT UND ENTSCHEIDUNG
»Die wesentliche Aufgabe im Leben besteht darin, die Dinge zu erkennen und voneinander zu unterscheiden, um mir klar machen zu können, über welche äußeren Umstände ich keine Macht habe, und welche von Entscheidungen abhängen, die in meiner Macht stehen. Wo finde ich dann das Gute oder Böse? Nicht in den Dingen, die nicht in meiner Macht stehen, sondern in mir selbst, in den Entscheidungen, die ich treffe ...«
Epiktet, Lehrgespräche, 2.5.4–5
Der wichtigste Ansatz der stoischen Philosophie ist, zu unterscheiden zwischen dem, was wir verändern können, und dem, was wir nicht verändern können. Worauf wir Einfluss nehmen können und worauf nicht. Wenn ein Flug wegen schlechten Wetters Verspätung hat, nutzt es nichts, Flughafenmitarbeiter zu beschimpfen. Das verändert die Wetterlage nicht. Wie sehr du es dir auch wünschen magst, du wirst nicht größer oder kleiner oder in einem anderen Land geboren. Wie sehr du dich auch bemühst, du kannst niemanden zwingen, dich zu mögen. Darüber hinaus ist die Zeit, die du aufwendest, um dich auf unveränderliche Dinge zu stürzen, Zeit, die du nicht auf Dinge verwenden kannst, die wir verändern können.
Die Recovery Community (US-amerikanische Entzugsklinik, Anm. d. Ü.) praktiziert ein sogenanntes Gebet der Gelassenheit: »Gott, gib mir die Gelassenheit, die Dinge, die ich nicht ändern kann, zu akzeptieren, den Mut, die mir möglichen Dinge zu verändern, und die Weisheit, den Unterschied zu erkennen.« Abhängige können den Missbrauch, den sie in ihrer Kindheit erlitten haben, nicht ändern. Sie können die Entscheidungen, die sie getroffen haben, oder den Schmerz, den sie verursacht haben, nicht ungeschehen machen. Aber sie können ihre Zukunft verändern – durch die Kraft, die sie im gegenwärtigen Moment haben. In den Worten Epiktets: Sie haben die Macht über die anstehenden Entscheidungen.
Dasselbe gilt heute für uns. Wenn wir uns vergegenwärtigen, welche Teile des Tages wir beeinflussen können und welche nicht, werden wir nicht nur glücklicher sein, sondern einen entscheidenden Vorteil gegenüber anderen Menschen haben, die nicht einsehen wollen, dass sie einen Kampf führen, den sie nicht gewinnen können.
2. Januar
BILDUNG BEDEUTET FREIHEIT
»Was sind die Früchte dieser Lehrstunden? Nur der schönste und angemessenste Ertrag der wahrhaft Gebildeten: Gelassenheit, Angstlosigkeit und Freiheit. Wir sollten nicht den Massen trauen, die sagen, nur wer frei ist, kann gebildet sein, sondern vielmehr den Weisen, die sagen: Nur die Gebildeten sind frei.«
Epiktet, Lehrgespräche, 2.1.21–23a
Warum hast du zu diesem Buch gegriffen? Warum greift man überhaupt zu einem Buch? Nicht, um klüger zu erscheinen. Nicht, um sich die Zeit in einem Flugzeug zu vertreiben. Nicht, um zu erfahren, was du ohnehin schon weißt – es gibt genügend andere Möglichkeiten als zu lesen.
Nein, du hast zu diesem Buch gegriffen, weil du lernen möchtest, wie man lebt. Weil du dich freier und furchtloser fühlen sowie deinen inneren Frieden finden willst. Bildung – die weisen Worte großer Geister zu lesen und über sie nachzudenken – betreibt man nicht um ihrer selbst willen. Man verfolgt ein Ziel.
Merke dir dies für die Tage, an denen du dich leicht ablenken lässt, wenn das Fernsehgucken oder die kleine Zwischenmahlzeit dir verlockender erscheint als Philosophisches zu lesen oder zu studieren. Wissen – besonders Selbsterkenntnis – ist Freiheit.
3. Januar
HABE KEIN MITLEID MIT BEDEUTUNGSLOSEN DINGEN
»Wie viele haben dein Leben vergeudet, ohne dass du dir bewusst warst, wie viel du verlierst. Wie viel hast du auf sinnlosen Kummer, haltlose Freude, gieriges Verlangen oder gesellschaftliche Vergnügungen verschwendet – wie wenig von dir selbst ist dabei übrig geblieben. Du wirst erkennen, dass du vor deiner Zeit stirbst!«
Seneca, Über die Kürze des Lebens, 3.3b
Eines der schwierigsten Dinge im Leben ist, »Nein« zu sagen. Zu Einladungen, zu Bitten, zu Verpflichtungen, zu all dem, was jeder andere zu machen scheint. Noch schwieriger ist es, Nein zu zeitraubenden Gefühlen zu sagen: Wut, Begeisterung, Ablenkung, Besessenheit, Begierde. Keine dieser Regungen müsste man für sich genommen als eine große Sache betrachten, aber wenn sie außer Kontrolle geraten, können wir uns ihnen nicht mehr entziehen.
Wenn du nicht aufpasst, werden sie zu Problemen, die dich überwältigen und dein Leben bestimmen. Hast du dich jemals gefragt, wie du etwas von deiner Zeit zurückbekommen kannst, wie du dich weniger eingespannt fühlst? Fang an, indem du dir die Macht des »Nein« aneignest – wie etwa »Nein, danke« und »Nein, damit möchte ich nichts zu tun haben« und »Nein, ich kann gerade nicht«. Mag sein, dass du Gefühle anderer verletzt. Mag sein, dass du Leute vor den Kopf stößt. Es mag dir mühsam erscheinen. Aber je häufiger du Nein zu Dingen sagst, die nicht von großer Bedeutung für dich sind, desto häufiger kannst du Ja zu den Dingen sagen, die dir wichtig sind. Nur so kannst du aufblühen und dein Leben genießen – das Leben, das du willst.
4. Januar
DIE GROSSEN DREI
»Alles, was du brauchst, ist folgendes: sicheres Urteilsvermögen im gegenwärtigen Augenblick; Einsatz für das Gemeinwohl im gegenwärtigen Augenblick; und ein Gefühl von Dankbarkeit im gegenwärtigen Augenblick für alles, was dir begegnet.«
Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 9.6
Wahrnehmung, Handeln, Wille. Dies sind die drei ineinandergreifenden und ausschlaggebenden Disziplinen des Stoizismus (sie spiegeln sich ebenso im Aufbau dieses Buches und in der ein Jahr währenden Reise, die du gerade begonnen hast). Die Philosophie geht mit Sicherheit noch viel weiter – wir könnten den ganzen Tag damit verbringen, über die einzigartigen Ansichten verschiedener Stoiker zu reden. »So dachte Heraklit ...« »Zeno stammt aus Kition, einer Stadt auf Zypern, und er glaubte ...« Aber würden dir solche Fakten Tag für Tag helfen? Welche Erkenntnis würden solche Nebensächlichkeiten bringen?
Die folgende kleine Gedächtnishilfe, die dich an jedem Tag, bei jeder Entscheidung begleiten soll, fasst die drei essentiellen Aspekte der stoischen Philosophie zusammen:
Steuere deine Wahrnehmungen. Führe deine Handlungen angemessen aus. Akzeptiere bereitwillig, was außerhalb deiner Macht steht.
Das ist alles, was wir tun müssen.
5. Januar
DEFINIERE DEINE ABSICHTEN
»Lasse alle deine Bemühungen zielgerichtet sein und behalte dieses Ziel im Blick. Es ist nicht das Handeln, das die Menschen beunruhigt, sondern falsche Vorstellungen von Dingen, die sie um den Verstand bringen.«
Seneca, Von der Ruhe des Gemüts, 12.5
Das Gesetz 29 aus dem Buch The 48 Laws of Power von Robert Greene lautet: Plane alles ganz bis zum Ende durch. Er schreibt: »Wenn man etwas bis zum Ende durchplant, wird man nicht von äußeren Umständen aus der Bahn geworfen und man weiß, wann man aufhören muss. Wer weit vorausdenkt, kann dem Glück auf die Sprünge helfen und dazu beitragen, die Zukunft selbst zu gestalten.« Die zweite Gewohnheit in dem Buch The 7 Habits of Highly Effective People lautet: Beginne mit einem gesteckten Ziel.
Ein Ziel im Hinterkopf zu haben, bedeutet nicht, dass du garantiert dein Ziel erreichen wirst – kein Stoiker würde eine solche Annahme tolerieren – aber kein Ziel zu haben führt mit Sicherheit zu gar nichts. Für die Stoiker sind oiêsis (falsche Vorstellungen) nicht nur für Seelenqualen verantwortlich, sondern auch für chaotische und zerrüttete Lebensläufe und ins Leere laufende Handlungen. Wenn deine Bemühungen keinem Zweck dienen oder auf kein Ziel gerichtet sind, wie willst du dann wissen, was du tagein, tagaus tun sollst? Wie willst du wissen, zu was du Nein sagen sollst und zu was Ja? Wie willst du erkennen, wann es reicht, wann du dein Ziel erreicht hast, wann du vom Weg abgekommen bist, wenn du zuvor diese Dinge nicht festgelegt hast?
Die Antwort lautet: Es wird dir nicht möglich sein. Und du wärst zum Scheitern verurteilt – oder schlimmer noch, du würdest durch diese Orientierungslosigkeit in den Wahnsinn getrieben.
6. Januar
WO, WER, WAS UND WARUM
»Ein Mensch, der nicht weiß, was das Universum ist, weiß nicht, wo er ist. Ein Mensch, der den Zweck seines Lebens nicht kennt, weiß nicht, wer er ist, und auch nicht, was das Universum ist. Ein Mensch, der keins von beiden weiß, weiß auch nicht, warum er existiert. Was soll man also mit Menschen machen, die die Anerkennung von jenen Menschen suchen oder meiden, die nicht wissen, wo und wer sie sind?«
Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 8.52
Der verstorbene Comedian Mitch Hedberg pflegte in seinen Shows eine lustige Geschichte zu erzählen. Während eines live ausgestrahlten Radiointerviews fragte ihn der Moderator: »Nun, wer sind Sie?« In diesem Augenblick schoss ihm durch den Kopf:...