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Der Tag, an dem ich meine Mutter wurde

Tochtersein zwischen Liebe und Befreiung

AutorNicole Zepter
VerlagBlessing
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783641209124
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Im Sommer 1974 verliebte sich meine Mutter in meinen Vater. Sie wurde schwanger und brachte mich auf die Welt. Achtzehn Jahre lang sollte ich nichts von dieser Liebe und von meinem Vater wissen. Sechsunddreißig Jahre später verliebte ich mich in den Vater meines Sohnes. Und wiederholte das intensivste Jahr meiner Mutter bis aufs kleinste Detail.

Beide Beziehungen haben ähnliche Muster. Beide Beziehungen haben einen ähnlichen Verlauf und endeten in Trennung und Distanz. Wie konnte es passieren, dass ich das Leben meiner Mutter wiederholt habe? Was sich wie Schicksal anfühlte, wie ein Leben an Marionettenfäden, wollte ich mir erklären lassen. Von Therapeuten, von meiner Familie - und von meiner Mutter.



Nicole Zepter, geboren 1976, arbeitet als Autorin und Publizistin. Sie veröffentlichte den SPIEGEL-Bestseller Kunst hassen (2013) und war Herausgeberin des Zeitgeistmagazins The Germans sowie Chefredakteurin von Neon und Nido. Zepter lebt in Jever.

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Leseprobe

Das Hotel hat keinen Namen. Zumindest keinen, an den ich mich erinnern kann. Es steht schmal und schmucklos neben der Straße wie ein Klotz. Die Eingangshalle besteht aus einem grauen Tresen und einem tristen Linoleumflur. Als ich abends in der Hotelhalle stehe, denke ich: klein und billig. Dort oben ist das Zimmer. Es ist ein schmaler Schlauch von einem Raum mit schlichten Holzmöbeln und führt auf ein Fenster zu. Dort auf der Fensterbank sitzt der Mann, in den ich mich verliebt habe. Das Fenster ist geöffnet, es ist Sommer, und das Licht scheint nur deshalb hinter ihm zu stehen, um ihn zu beleuchten. Er ist nackt und hat ein Handtuch um die Hüften gebunden. Das könnte fast lächerlich aussehen, doch in diesem Moment fügt es sich in das Bild ein. In einer Hand hält er eine Zigarette. Sein Gesicht steht im Profil, er zieht an der Zigarette, lächelt und schaut mich wieder an. Als ich viel früher am Morgen wach werde – heimlich und leise, ich versuche sogar, meinen Atem anzuhalten –, liege ich in einem schmalen Spalt zwischen ihm und der Wand, das Fenster ist bereits geöffnet. Ich kann die Geräusche im Hinterhof hören: ein Klackern, ein Hall. So, wie sie immer im Sommer zu hören sind: als ob jemand eine Wand über den Himmel gezogen hätte, alles wie unter eine Glaskuppel gesetzt. Jetzt sitze ich auf diesem Bett und betrachte den Mann im Fenster. Meine Haare sind verknotet, meine Lippen trocken. Ich sehe seinen Körper, mit einer Schulter lehnt er sich aus dem Fenster. Große Arme, großer Körper, aber alles so weich, als könnte ich die Haut vom Bett aus riechen. Ein Mundwinkel hebt sich zu einem Jungslachen. Wir reden, und das, was wir reden, hat lange eine Bedeutung für mich, jeder einzelne Satz. Jetzt habe ich alles vergessen. Ich sehe nur noch das Bild. Und höre die Stimmen im Hinterhof.

So fängt es an. Wenn ich die Bilder zurückspule, gibt es irgendwo einen Anfang. Ein Bild, ein Zufall. Ein Freund kennt einen Freund. Eine Bahnfahrt von Leipzig nach Berlin, ein Kennenlernen, es ist noch nicht einmal Sommer, aber wir sitzen draußen und er kommt mit der gleichen schlaksigen Jungenhaftigkeit um die Ecke, mit der er sich später im Fensterrahmen die Zigarette anzünden wird. Er ist ein Triumph, ein Fang. Er verkörpert all das, was ich sein möchte: frei, schön, mutig, eigensinnig. Und doch denke ich nicht mehr an ihn, als ich zurückfahre, nach Hause, in eine andere Stadt, in ein anderes Leben. Es vergeht eine Woche, es vergehen zwei Wochen, drei Wochen. Dann klingelt das Telefon. Ich sehe seinen Namen und zögere. Mein Herz klopft bis zum Hals, als ob ich alles ahnen würde. Ich lasse es liegen. Es klingelt weiter. Ich gehe auch beim zweiten Klingeln nicht ran. Dann endlich traue ich mich.

Hallo? Hallo.

Viele, viele Jahre vor dieser Zeit verliebte sich meine Mutter in meinen Vater. Es ist das Jahr 1975, und meine Mutter tritt vor die Haustür. Sie ist eine schöne, junge Frau: schwarzes, welliges, halblanges Haar. Sie trägt eine Bluse, dazu eine enge Jeans, natürlich mit Schlag. Wenn sie ihren Rücken durchdrückt, dann wird aus ihren 170 Zentimetern eine Statue in Wildlederstiefeln. Was für eine Zeit. Auf dem SPIEGEL wird die »Frau ’75 mit Kind« als »Große erotische Mutter« gezeigt, die Titelzeile: »Zurück zur Weiblichkeit«.

Spaniens Diktator Franco ist an einem Herzinfarkt gestorben und entlässt die Spanier in die Freiheit. Sie müssen den Nationalkatholizismus nicht mehr ertragen. Sie müssen nicht mehr Verfolgung und Tod fürchten. Der Tod kommt in Europa wahlloser. Das RAF-Kommando »Holger Meins« stürmt die deutsche Botschaft in Stockholm. Am Morgen des 3. November wird der Regisseur und Dichter Pasolini leblos aufgefunden. Er wurde mit seinem eigenen Wagen, einem Alfa Romeo 2000 GT Veloce, mehrfach überfahren. Veloce. Das heißt schnell. Aber auch: flüchtig. Seit einem Jahr sind Schwangerschaftsabbrüche in den ersten zwölf Wochen straffrei. Uneheliche Kinder sind immer noch ein Makel. Auf dem Dorf eine Schande.

Meine Mutter wird in einer Kleinstadt groß. Nicht mehr als 10 000 Einwohner. Ihre Augen sind dunkel und kugelrund. Ich kenne sie nur melancholisch. Doch jetzt, 1975, sind sie offen und neugierig. In ihnen kommt eine neue Welt zum Vorschein. Ihre Welt. Meine Mutter hat eine spitze, feine Nase und einen vollen Mund. Sie summt Al Green: Sha la la la, la la la. And I love you. Sha la la la, la la la. Thinking of you. Sie ist verliebt. In einen verheirateten Mann, Ende zwanzig. Er ist eine geheime Affäre. Er ist ein Triumph, ein Fang. Er verkörpert all das, was sie sein möchte: frei, schön, mutig, eigensinnig. Er spielt in einer Band. Er führt ein eigenes Geschäft. Er fährt ein schnelles Auto. Er ist liebevoll. Er ist sensibel. Und er betrügt seine Frau, die ein kleines Kind zu Hause hat.

Ich wusste jahrelang nichts über die Liebesbeziehung meiner Eltern, denn mein Vater, der Mann, in den sich meine Mutter so rasend schnell verliebt hatte, hat für mich achtzehn Jahre lang nicht existiert. Ich wusste einfach nicht, dass es ihn gibt. Er war ein Geheimnis, ein jahreslanges Schweigen, eine Figur, die allen bekannt war. Nur mir nicht. Ich habe versucht, aus all den Geschichten, von denen mir meine Mutter, mein Vater, Familienmitglieder und Freunde erzählt haben, ein Puzzle zu bauen. Ein Puzzle, das mir erklären soll, warum ich ein Leben, das jahrelang ein Geheimnis für mich war, wiederholt habe: Das Leben meiner Eltern. Dass ich entstanden bin, ist sicher kein Zufall. Zumindest erscheint mir die Kette der Ereignisse nicht als Zufall, an der zu Beginn die feste Absicht meiner Mutter stand, meinen Vater kennenzulernen. Damals wollte sie weg von zu Hause. Sie wollte Sportlehrerin werden, aber mein Großvater wollte das nicht. Unterstützung für ihre Träume gab es nicht. Es gab in einer Großfamilie mit sieben Kindern nur die Pflicht, keine Schwierigkeiten zu machen.

Ich weiß von alldem nichts, als ich fünfunddreißig Jahre später den Vater meines Kindes kennenlerne. Ich will bedingungslos lieben. Keine Angst mehr, keine Zweifel mehr. Ich will eine Familie. Es ist Sommer und sehr, sehr heiß. In den ICEs zwischen Berlin und Düsseldorf fällt andauernd die Klimaanlage aus, und ich tippe »Ich wäre jetzt gern bei Dir« ins Telefon. Worauf er antwortet: »Das bist Du doch.« Und er macht so viele leere Absätze unter diesen Satz, dass sie sich wie unsichtbare Ausrufezeichen in mein Gehirn hämmern. Es ist ein Bekenntnis, denke ich. Ein Bekenntnis, dass all das, was jetzt kommt, mit ihm geteilt wird. Ein Bekenntnis, das über die Begegnung dieses einen Abends hinausgeht, ein Bekenntnis zu einer gemeinsamen Zukunft. Ich war lange nicht mehr verliebt. Hatte lange nicht mehr eine ernste Absicht gehabt. Ich führte zumeist Beziehungen, die eine andere Absicht hatten: Sie sollten mir nicht wehtun. Ich drückte mich vor einer Freundin einmal so aus: »Ich war mit Männern zusammen, die mir keine Angst machten.« Keine Angst machen, das hieß: verlässlich sein. Keine Angst machen, das hieß: mir Vertrauen entgegenbringen. Aber war ich denn verlässlich? Konnte ich jemandem Vertrauen entgegenbringen? Das Gefühl blieb. So als ob ich reflektiert genug wäre, es zu erkennen, aber zu schwach, um es zu verändern. Doch genau so war es. Und es gefiel mir. Vor Männern trat ich auf als die, die ich auch als Kind gut sein konnte: die furchtlose rote Zora – eine starke Frauenfigur aus einem Kinderbuch. Eine mutige, eigensinnige Anführerin. Und nun habe ich etwas anderes – zerbrechlicher, offener. Ich erinnere mich: Wir liegen nebeneinander. Es ist hell, ob Vormittag oder Nachmittag, weiß ich nicht mehr, das Licht schwebt weiß durch das Zimmer. Ich spüre die Luft nicht, ich sehe das Licht nicht. Nichts ist von mir getrennt. Alles ist eins. Wir reden nicht. Ich höre ihn nicht einmal atmen. Unsere Hände berühren sich an ihrer Außenseite, sein kleiner Finger liegt auf meinem Handrücken. Wie lange schon? Er hat alles weggewischt. Ich schrieb ihm später einmal: Du hattest alle Mädchenträume weggewischt. Es ist, als hätte ich das erste Mal das Gefühl, einer Kindheit entschwunden zu sein. Ich habe das erste Mal das Gefühl, richtig zu sein. Nein, ich bin nicht nur endlich eine Frau. Ich bin zum ersten Mal ich selbst. Ich, die immer gesagt hat, heiraten ist mir egal, Kind zur Not auch alleinerziehend, bin plötzlich davon überzeugt, den Mann gefunden zu haben, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen werde. Ich bin besinnungslos verliebt. Niemand kann mir helfen.

Meine Mutter hatte meinen Vater zufällig entdeckt, wie der Erzähler in Erste Liebe von Iwan Sergejewitsch Turgenew. Die Geschichte, erschienen 1860, beschreibt eine typische schicksalhafte Begegnung zweier Teenager – eine Liebe, die den Protagonisten Wladimir Petrowitsch wie einen Schlag trifft. Petrowitsch ist auf der Krähenjagd durch Nachbargärten, als er der jungen Sinaida das erste Mal begegnet: Er blickt über den Zaun und ist wie versteinert, »so etwas Bezauberndes, Gebieterisches, Liebkosendes, Frohsinniges, Liebliches, dass ich vor Bewunderung fast aufgeschrien hätte. […] Heftig pochte mir das Herz; ich fühlte mich so beschämt, und doch war mir so froh zumut: ich empfand eine noch nie gekannte Erregung.«1 Es ist das, was alle Menschen irgendwann einmal erfahren. Dieses Gefühl von Aufregung, einen anderen Menschen entdeckt zu haben. Wie einen Schatz, der etwas verbirgt, das wir noch nicht kennen, aber ahnen.

Zu Zeiten Turgenews war Liebe reinste Urgewalt. Eine romantische, nicht zu beeinflussende Kraft. Auch meine Mutter wurde getroffen wie vom Schlag. Auch sie wollte meinen Vater unbedingt...

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