Die fünf Lernaufgaben
Wir haben nun zwei mächtige Wirkfaktoren auf unser Leben betrachtet und deren Folgen beleuchtet. Ich hoffe sehr, dass du dein Leben nun mit mehr Verständnis sehen kannst, denn ich glaube fest daran, dass mit diesem Verständnis die Reise beginnt. Vor allem geht es mir darum, ein liebevolles Verständnis zu schaffen, in dem wir uns selbst freundlicher und gnädiger betrachten und erkennen, wie schwer es ist, etwas »einfach« anders zu machen. Ich weiß, dass viele Menschen nicht verstehen können, warum sie sich immer wieder in den gleichen Mustern wiederfinden, und möchte einen Beitrag leisten, zu erklären, wie es dazu kommt.
Die Körperpsychotherapie – deren Kind ich bin – geht davon aus, dass jeder Mensch von Geburt an fünf Lernaufgaben hat, die wesentlich mitbestimmen, wie gut wir später für unser Leben gerüstet sind. Je nachdem, wie wir diese Aufgaben bewältigen, wird unser Körper geprägt und bestimmte Dinge/Gefühle werden in unserem Leben dominanter sein oder eben nicht. Wir werden bestimmte Fähigkeiten gut entwickeln und andere nicht. Letztendlich zielt jede Psychotherapie darauf ab, dass Menschen wichtige fehlende Fähigkeiten erlernen oder wieder für sich entdecken können. Dies ist möglich durch neue bewusste Erfahrungen, die das innere Erleben verändern.
In den körperpsychotherapeutischen Schulen unterscheidet man fünf Lernaufgaben, die unterschiedlich bezeichnet und von jeder Schule etwas anders beschrieben werden. Dies sind die fünf Hauptthemen:
- Sicherheit und Willkommensein,
- Bedürfnisse und Sattwerden,
- Hilfe annehmen können,
- Selbstständigkeit und Verbundenheit,
- Liebe und Sexualität.
Unser Körper bestimmt unser Leben
Die Lernaufgaben, unsere Selbstregulation und unsere Bindungsmuster sind tiefe Prägungen, die sich nicht nur in unserem Denken spiegeln. Wir verkörpern unsere Prägungen, sie werden zu unserer Persönlichkeit und drücken sich auch in unserer Haltung und körperlichen Präsenz aus. Wir sind unser Körper, so fremd uns diese Aussage auch vorkommen mag in einer Zeit, die immer virtueller wird und den Körper immer mehr als Objekt betrachtet, das zu funktionieren hat.
Verstand und Gefühl brauchen eine Verkörperung, um geerdet zu sein, um sich in dieser Welt zu verorten und einen Platz als Ich einzunehmen. Außerdem finden Gefühle nun einmal im Körper statt. Wenn wir nichts mehr fühlen, wenn wir unseren Körper nicht spüren, dann wird alles Erleben schal. Das Leben hat keine Tiefe. In der heutigen Zeit leben viele Menschen nur noch in ihrem Kopf, und sie verwechseln Gedanken mit Gefühlen. Bei meiner Arbeit mache ich immer wieder die Erfahrung, wie wenig Menschen ihren Körper wirklich wahrnehmen.
Der Körper wird gemieden, weil sich darin verdrängte Verletzungen befinden. Diese werden zu Spannungsmustern, die sich körperlich manifestieren. Im Kindesalter sind diese Muster noch vorübergehend, doch mit der Zeit werden sie immer mehr zu einem Teil von uns. Sie bestehen aus verspannten Muskeln und entwickeln sich durch viele Wiederholungen gleicher Gefühle und Handlungen.
Was geschieht mit einem Kind, das immer wieder gesagt bekommt: »Man darf Kinder sehen, aber nicht hören«? Es muss Strategien entwickeln, wie es seine lauten Impulse unterdrücken kann. Damit dies gelingt, muss es bestimmte Muskeln immer und immer wieder anspannen. Diese Art der Regulation von Impulsen und Emotionen ist uns selten bewusst, wir nutzen sie jedoch ständig in unserem Alltag.
Stellen wir uns eine Situation am Arbeitsplatz vor: Ein Kollege macht eine wirklich demütigende Bemerkung, und wir spüren, dass uns die Tränen hochsteigen. Wir wollen aber auf keinen Fall in diesem Umfeld und dann noch vor dem Kollegen anfangen zu weinen! Also atmen wir ganz flach und verspannen den Brust- und Bauchraum. Damit halten wir die aufsteigende Emotion unten und sorgen dafür, dass wir nicht in Tränen ausbrechen.
»Heul nicht!« Diese Ansage ist vielen von uns bekannt. Wird der Impuls zu weinen im Laufe einer Kindheit nicht einmal, sondern hunderte Male unterdrückt, kommt es mit der Zeit zu chronischen Verspannungen bestimmter Muskelgruppen, und auch das Atmen wird chronisch flach. Emotionen regulieren wir als Erstes mit dem Atem. Babys haben noch nicht die Möglichkeit, emotionale Schmerzen über Muskelspannungen zu kontrollieren, aber sie können schon den Atem verflachen.
Aus diesen Spannungsverhältnissen, die sich im Laufe der Jahre chronifizieren, entsteht mit der Zeit eine feste Körperhaltung. Es geht dabei nicht um krankhafte Zustände. Keine Haltung oder Struktur ist krankhaft, sie verkörpert einfach unsere Persönlichkeit. In unserem Körper manifestieren sich emotionale Anteile, die wir in uns tragen und teilweise nicht spüren. Haltungen geben bestimmte Gefühlstendenzen in uns vor. Das mag sich zunächst befremdlich anhören, ist aber bei näherer Betrachtung durchaus logisch.
Eine Person, die im Brustraum kollabiert ist, hat durch diese Haltung (hängender Kopf und hängende Schultern) vielleicht eine Tendenz zu Schwermut oder auch zu Depressionen. Aufgrund ihrer Struktur ist sie aber wahrscheinlich viel näher an ihren Gefühlen und dadurch sensibler als jemand, der sehr aufrecht steht, die Schultern nach hinten zieht und glaubt, dass er stark und autonom sein muss. Für diesen letztgenannten Menschen kann es sehr schwierig sein, Hilfe zu erbitten und/oder anzunehmen …
Erfahrene Körperpsychotherapeuten können diese Haltungen erkennen, interpretieren und sich so ein Bild davon machen, wie ihr Gegenüber die Welt erlebt. In der Haltung offenbaren sich chronifizierte emotionale Zustände, die wir meist nicht mehr bewusst wahrnehmen. Es geht darum, dass diese verdrängten Gefühle wieder bewusst werden, dass sie bearbeitet werden und dass Menschen neue Erfahrungen machen können. Das Ziel ist wie bei jeder guten Psychotherapie, dass sich die Haltung sowohl emotional als auch körperlich wirklich verändert.
Alles, was wir in uns tragen, was uns aber nicht mehr bewusst ist, bestimmt und prägt maßgeblich unser Leben. Häufig ist uns nicht klar, woher diese Muster kommen. Die alten Gefühle und Verletzungen, die sich als Spannungs- und Denkmuster in uns verkörpert haben, formen die sprichwörtliche Brille, durch die wir die Welt sehen. Das bedeutet, dass unsere Körperstruktur über unsere Stimmungen und sogar über unser Denken entscheidet. In bestimmten Haltungen kann man bestimmte Gedanken praktisch nicht denken, während es in anderen Haltungen womöglich sehr leichtfällt.
Im Folgenden beschreibe ich die fünf Lernaufgaben näher, um dir noch mehr Verständnis für dich und dein Leben zu vermitteln. Ich bin mir sicher, dass du dadurch auch andere Menschen anders betrachten und ihnen vielleicht anders begegnen wirst.
Sicherheit und Willkommensein – wie das Leben beginnt
Der Beginn unseres Lebens ist spektakulär. Wir treten in diese Welt durch unsere Geburt, doch unser Leben hat schon lange vorher angefangen. Manche Wissenschaftler sind davon überzeugt, dass die neun Monate im Mutterleib schon ein eigenes, in sich abgeschlossenes Leben darstellen, das durch die Geburt beendet wird.
Wir wissen heute, dass diese Zeit uns bereits nachhaltig prägt. Im schlimmsten Fall hat unsere Mutter geraucht und Alkohol getrunken, und wir kommen bereits vergiftet und süchtig auf diese Erde. Doch die meisten von uns haben Glück, und unsere Mütter waren bemüht, während der Schwangerschaft alles richtig zu machen. Dennoch haben viele Menschen, vor allem diejenigen jenseits der 50, das Gefühl, nicht ausdrücklich erwünscht gewesen zu sein, sondern irgendwie als erfreulicher bis tragischer »Unfall« gezeugt worden zu sein.
Kinder werden aus den unterschiedlichsten Motivationen in die Welt gesetzt, und nicht alle haben etwas mit Kinderliebe zu tun. Jede dieser Motivationen prägt das Kind, da die Mutter mit den zugehörigen Gefühlen durch die Schwangerschaft geht. Es ist ein Unterschied, ob eine Frau ein Baby mit viel Freude und Liebe austrägt oder in der Hoffnung, wegen des Kindes nicht verlassen zu werden.
Wenn wir uns vorstellen, wir müssten neun Monate mit jemandem auf engstem Raum zusammensein, der uns nicht haben möchte, so ist der Gedanke daran wahrscheinlich unerträglich, besonders, wenn man einer solchen Situation nicht entfliehen kann. Babys können aber den Mutterleib nicht verlassen, wann sie wollen. Sie müssen mit allen mütterlichen Gefühlen leben – sei es Ablehnung, Angst, Freude, Glück oder regelrechter Terror. Natürlich hinterlässt jeder dieser Gefühlszustände Spuren.
Vielen Menschen ist ihr eigenes Lebensgefühl ein Rätsel, sie können sich durch ihre bewussten Erinnerungen nicht erklären, warum sie Angst vor bestimmten Ereignissen haben oder woher das grundlegend unbehagliche Lebensgefühl kommt, das sie begleitet. Manchmal lässt sich dies durch Ereignisse erklären, die während der Schwangerschaft geschahen. An dieser Stelle kommen darüber hinaus auch generationenübergreifende Aspekte ins Spiel. Wir wissen bis heute nicht genau, wie Erfahrungen von einer Generation an die andere weitergegeben werden. Wir wissen nur, dass es so ist, und zwar eben auch jenseits einer Übermittlung durch Sprache. Wir werden bereits durch die Lebenserfahrung unserer Mütter und Väter vorgeprägt; bestimmte Aspekte, die unsere Eltern tief empfunden haben, scheinen auf uns überzugehen.
Die Geburt – ein unterschätztes Ereignis
Die Geburt ist ein großer und prägender Schritt ins Leben. Sie ist ein derart einschneidendes Erlebnis und...