Vorwort
Amerika war immer ein übermächtiger Bezugspunkt in meinem Leben, und zwar der Norden und der Süden der Neuen Welt. Die frühe Ausrichtung auf den Norden, auf die USA, hatte sowohl mit meinem Geburtsort wie mit meiner Generation zu tun. Ich war acht Jahre alt, als am Ende des Zweiten Weltkriegs die US-Soldaten in meiner Heimat Bayern einmarschierten. Mit ihnen kamen Schokolade und Kaugummi, Schulspeisung und Schülermitverwaltung, Jazz und Jeans in unser Leben; den American way of life trugen die GIs im Tornister.
Meine Freunde und ich wurden damals auf den «Westen» fixiert – für uns hieß das New York, Harvard und Hollywood.
Meine spätere Zuneigung zum Süden der Neuen Welt entwickelte sich während meiner Berufslaufbahn – und sie wuchs mit dem Studium der Kulturgeschichte. In den Zivilisationen der Neuen Welt spielten die Navajos und Apachen und all die anderen Indianer Nordamerikas nur eine tragische Nebenrolle, im Gegensatz zu Azteken und Inka, den großen Indiovölkern in Zentral- und Südamerika. Mexiko, Cuzco und El Dorado – das waren die Fixsterne der frühen Eroberung Amerikas. Und die wurde geplant von den Herrschern der Iberischen Halbinsel.
Während eines Sommerjobs als Reiseleiter in Spanien und auf Studienreisen in Andalusien und in der Extremadura erschlossen sich mir die Verwegenheit und die aventura, die Abenteuerlust der frühen Amerikafahrer: ihr Geist lebt in Spanien fort. Die spanische Erfahrung hat mich denn auch zunächst auf der Spur der Konquistadoren nach Iberoamerika gebracht, während viele meiner Studienfreunde und späteren Kollegen nach England und Anglo-Amerika schauten und reisten (oder gar auswanderten).
Der historische Gegensatz zwischen Spanien und England spiegelt sich wider im lebendigen Gegensatz zwischen spanischen und englischen Amerikanern, wobei die kulturellen Unterschiede heute in der Neuen Welt deutlicher sind als in der Alten; «drüben» wird alte europäische Geschichte bewahrt.
Der Felsen von Gibraltar, ein britischer kolonialer Pfahl im spanischen Fleisch, geht bald im gemeinsamen Europäischen Markt, wenn nicht gar in der politischen Union Europas auf. Die 3000 Kilometer lange Grenze entlang dem gelben Rio Grande zwischen den USA und Mexiko aber trennt die Zivilisationen der Neuen Welt mit großer Unerbittlichkeit. Der schmale Fluß trennt Reiche von Armen, Sprache von Sprache, Kultur von Kultur.
Auch wenn es vorkolumbianische, nordeuropäische Amerikafahrer gab und natürlich eine vorkolumbianische Kultur, so beginnt doch mit der Landung des Christoph Kolumbus auf einer Insel der Karibik im Jahre 1492 die Kulturgeschichte der Neuzeit überhaupt. Das Recht der Erstentdeckung beanspruchen die Spanier, auch wenn Kolumbus ein Italiener jüdischer Herkunft war. Doch den Reiseauftrag hatte ihm das spanische Königshaus gegeben. Die fünfhundertste Wiederkehr seiner Entdeckungsfahrt feiern die Spanier 1992 mit einer Weltausstellung ohnegleichen in Sevilla und mit dem Hinweis darauf, daß in den ersten 300 Jahren nach Kolumbus’ Landung die Aufmerksamkeit Europas vor allem der unermeßlichen Größe Lateinamerikas galt, von Mexiko bis zum Rio de la Plata, daß zudem der Norden vom Süden aus entdeckt wurde, von Arizona bis California, und daß schließlich die Ordensritter von Calatrava bis hoch nach Alaska noch im 18. Jahrhundert spanische Spuren und Namen hinterließen, von Cordova Bay bis Valdez. Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts noch kämpften Amerikaner im Süden und im Norden unter Bolívar und unter Washington ihre spanischen und britischen Kolonialherren nieder. Dann aber verfiel der Süden unter der Herrschaft einer «kleinlichen Schar von Diktatoren» zur politischen Bedeutungslosigkeit, ganz wie Bolívar prophezeit hatte. Der Norden hingegen nahm einen langen Anlauf in das «amerikanische Jahrhundert».
Diese nordamerikanische Epoche erreichte unter der kurzen Präsidentschaft John F. Kennedys ihre größte Ausstrahlung. Für meine Generation im Nachkriegsdeutschland verband sich mit den USA das Prädikat «modern» oder «fortschrittlich», während Lateinamerika entweder mit «exotisch» oder «rückständig» gleichgesetzt wurde. Die kulturelle und politische Übermacht des Nordens über den Süden mag ein Wortspiel verdeutlichen. Der Ländername Kolumbien stammt von Kolumbus, dem Entdecker. Der Name Bolivien weist auf Simón Bolívar, den Freiheitshelden. Amerika verdankt seinen Namen Amerigo Vespucci, dem frühen Geographen aus Italien. Ein Bolivianer ist ein Einwohner Boliviens, ein Kolumbianer ist ein Einwohner Kolumbiens. Aber was ist ein Amerikaner?
Unter einem Amerikaner versteht man einen Einwohner der Vereinigten Staaten von Amerika. Sogar die Nachbarn der USA haben sich diesem Sprachgebrauch angeschlossen. Nur ersatzweise sprechen die Kanadier von «Yankees», wenn sie the Americans meinen, oder die Mexikaner von «Gringos», wenn es um los americanos geht. Wenn die einen also «die Amerikaner» sind, was sind dann die anderen alle, die auf diesem Kontinent leben? Von Kanada abgesehen, liegen die restlichen 30 Staaten alle südlich von Amerika. Das ist ihre Gemeinsamkeit. Doch daß es 30 Staaten sind, kann man nur mit schlechtem Gewissen behaupten, denn fast jährlich kommen neue hinzu. Also sind es rund 30 Staaten. Die Worte «rund», «fast», «allerdings», «ungefähr», «zum Großteil» – sie alle gehören in jeden zweiten Satz eines Journalisten, der über die Zone südlich von Nordamerika berichtet. In dieser Gegend ist nur die Ungewißheit gewiß.
Was also steckt in einem Namen? «Südamerika» klingt besser – ist aber unzureichend. Denn der Name läßt nicht nur die Karibik und Mittelamerika aus, sondern auch Mexiko, das geographisch in Nordamerika liegt. Als Unterschied zum englischen Amerika bietet sich der Begriff Spanisch-Amerika an, aber Brasilien, heute die «Vereinigten Staaten von Brasilien», wurde portugiesisch kolonialisiert.
Indo-Amerika kommt immer mehr in Mode, seit erwachender Nationalismus seine vorkolumbianischen, indianischen Wurzeln sucht. Doch nur die Hälfte der Hemisphäre kann eine indianische Bevölkerungsmehrheit behaupten. Indo-Europa hört sich ungewöhnlich an, wäre aber gar nicht so schlecht – der indianische Ursprung, verbunden mit dem europäischen Erbe. In diesem Namen wäre die «amerikanische» Verwechslung ausgeräumt. Indo-Europa hat sich indes nicht durchgesetzt, dafür Lateinamerika, obwohl dieser Name etwa die holländischen und französischen Gebiete ausläßt. Es stellt sich also die Frage, ob und warum die Zone südlich von Amerika überhaupt irgendwie zusammengehört. Dagegen sprechen ja nicht nur die unterschiedlichen kolonialen Ursprünge, sondern auch die vielen verschiedenen Sprachen: Spanisch und Portugiesisch dominieren, dann folgen die Indiosprachen, Quechua und Aymara und Guaraní, Französisch in Haiti, Holländisch in Surinam, Englisch in Trinidad, schließlich die lustige Mischung aus allen dreien, das Papamiento. Wenn man jetzt noch die vielen Eingeborenendialekte hinzuzählt, die von den Sklaven aus Afrika eingebracht wurden, und das Italienische als Sprache der Haupteinwanderergruppe auf dem Subkontinent, dann ist die Frage wirklich berechtigt – was verleiht den Menschen dieses Kontinents südlich von Nordamerika das Gefühl grenz- und sprachüberschreitender Gemeinsamkeit?
Mir ist kein stärkerer Impuls aufgefallen, der stichhaltiger wäre als eben dies «südlich von Nordamerika», der territoriale, politische, der historisch gewachsene Gegensatz zu den reichen englischen Amerikanern im Norden des Kontinents. Nur eine sehr kleine Schicht von südlichen Großkaufleuten erträgt die Dominanz der USA gerne. Sie kann auch erster Klasse zum Shopping fliegen, von Buenos Aires nach Los Angeles – from B.A. to L.A. – oder von Mexico City nach Miami, wo die Konten voller Yankee-Dollar liegen.
Die große Mehrheit der Südamerikaner läßt sich Wirtschaftswesen, Handel und Wandel von den USA aufdrängen. Viele Staaten sind wirtschaftlich auf die Vereinigten Staaten ausgerichtet. Die Lateinamerikaner besuchen sich kaum, handeln wenig miteinander, weil das Interesse aneinander fehlt und die Infrastruktur ungenügend ist. Einen kontinentalen Standpunkt haben sie bislang noch nicht entwickelt. Sie alle sind sich ähnlich und bleiben sich fremd. Universitäten, Kulturinstitute, politische Parteien pflegen kaum Kontakte untereinander. Die Zeitungen beziehen ihre Nachrichten auch über die unmittelbaren Nachbarländer von nordamerikanischen Agenturen. Die Telefonverbindung von Land zu Land läuft oft über die USA.
Der technische Fortschritt lehnt sich an nordamerikanische Vorbilder an, die kulturelle Entwicklung orientierte sich lange an europäischen Modellen. Das Lateinamerikanische an Lateinamerika wird immer erst dann sichtbar, hörbar und spürbar, wenn ein Vorwurf oder ein Lob von außerhalb der Hemisphäre erteilt wird. Die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an den chilenischen Kommunisten Pablo Neruda wurde von allen als hohe Ehre aufgefaßt, auch von den Reaktionären. Die Fußballniederlage Argentiniens gegen Deutschland bei der Weltmeisterschaft in Rom 1990 hingegen lehnten alle empört als üble Machenschaft ab. Die Reaktionen dieses bunten Subkontinents sind immer noch voraussehbar wie die eines verzogenen Kindes, das alles will, zugleich und sofort, und zutiefst verletzt ist, wenn das nicht möglich ist.
Für die offensichtlichen Unterschiede zwischen Einheimischen und Ausländern haben die Lateinamerikaner Begriffe...