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E-Book

Der Übermuslim

Was junge Menschen zur Radikalisierung treibt

AutorFethi Benslama
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl141 Seiten
ISBN9783957574374
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Warum radikalisieren sich Jugendliche, die weder aus besonders schwierigen Verhältnissen stammen, noch als ungewöhnlich religiös bekannt waren, innerhalb kürzester Zeit zu gewaltbereiten Islamisten und wollen fortan in Syrien oder hierzulande in den Dschihad ziehen? Warum gelingt es islamischen Fundamentalisten weltweit so leicht, moderate Muslime unter Druck zu setzen, weil sie nicht islamisch genug seien? Fethi Benslama, der 15 Jahre in der Pariser Vorstadt mit radikalisierten Jugendlichen gearbeitet hat, zeigt in seinem wegweisenden Essay, dass weder theologische noch soziologische Erklärungsansätze ausreichen, sondern psychologisch gefragt werden muss, welchen seelischen Gewinn die Einzelnen aus der islamistischen Radikalisierung ziehen: Nur wenn wir begreifen, welcher bis zur Tötung von anderen und sich selbst treibende Genuss die Täter motiviert, lassen sich Gegenmittel finden. Benslama demonstriert eindrucksvoll die Aufklärungskraft der Psychoanalyse und zeigt, wie sich in den muslimischen Gemeinschaften das Ideal des Übermuslims etablieren konnte, dem man bis zur völligen Aufopferung nacheifern muss. Er zeigt aber auch, warum die bloße Deradikalisierung die zugrunde liegenden Probleme nicht beseitigen wird, und schlägt andere Lösungsansätze zur Überwindung des Übermuslims vor. Überraschenderweise gibt ihm dafür gerade der Blick auf den von vielen als gescheitert betrachteten ?Arabischen Frühling? Anlass zu einer optimistischen Perspektive.

Fethi Benslama, geboren 1951 in Tunis, ist Psychoanalytiker und Professor für Psychoanalyse an der Diderot Universität in Paris. Er gilt als einer der wichtigsten französischsprachigen Forscher des Islamismus und ist Mitglied der tunesischen Akademie der Wissenschaften sowie Autor zahlreicher Bücher über Psychoanalyse und den Islam.

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Leseprobe

Radikalisierung als Bedrohung


Mit dem Auftauchen des Dschihadismus im globalen Maßstab avancierte der Begriff der Radikalisierung zum allgemeinen Modell für die Ursache des Terrorismus. War er bis zu den Attentaten des 11. September 2001 noch marginal vertreten, so hat er sich seither durchgesetzt, um Personen zu identifizieren und zu überwachen, die unter dem Verdacht stehen, zur Gewalt zu greifen, was auch immer sie dazu bewegt. Dieser Begriff hat die globale Figur des Radikalisierten als ein bedrohendes Individuum entstehen lassen, und er hat einen weltweiten Diskurs über Gewalt und Politik erzeugt, welcher unsere Epoche über lange Zeit prägen wird. Zum Aufspüren der Radikalisierten ist ein Wissen vonnöten, das Anzeichen erkennt und sie mithilfe eines Beobachtungs- und Sprachapparats interpretiert. Die Überwachung setzt das Vorhandensein eines Polizeiaufgebots voraus, dessen Existenzberechtigung auf der Angst vor zerstörerischen Handlungen und auf der Prävention beruht. Die Radikalisierung hat damit ein theoretisches und praktisches Feld für den Zusammenhang von Wissen und Angst eröffnet. Es führte zur Errichtung eines gewaltigen engmaschigen Abhörnetzes ohne Beispiel, das aus dem Ozean von Worten und Taten der Menschen schöpft. Inmitten einer Zeit, in der Zirkulation und Kommunikation ungeahnte Intensität erreichen, werden wir überall in der Welt Zeuge eines Aufbaus unsichtbarer Mauern der Verdächtigung. Es ist ein grausames Paradoxon, dass jetzt, wo sich die Welt sich selbst gegenüber weit öffnet, gerade aus dieser Öffnung eine derartige Angst machende Gefahr auftaucht.

Die Sorge über eine Militarisierung des Alltagslebens und eine Erschütterung der demokratischen Verfassungen nach den Anschlägen von 2001 wurde in mehrerer Hinsicht weitgehend bestätigt. Dort, wo mörderische Anschläge verübt wurden, hat sich der Rechtsstaat zurückgezogen und Ausnahmeregelungen zugelassen, die der Grausamkeit des Terrorismus einen Staat im Notstand, anders gesagt einen Staat in ständiger Überreaktion gegenüberstellen. Auch wenn nicht jeder Radikalisierte notwendigerweise zum Terroristen wird, so hat doch die Tatsache, dass jedem Anschlag ein Radikalisierungsprozess vorangeht, dem Begriff die furchterregende Vorstellung eines Vorzimmers des Terrors verliehen. Auch tendiert die Radikalisierung dazu, mit dem Terrorist-Werden, gar mit dem zu erwartenden Terror zu verschmelzen. Daraus entwickelt sich ein allgemeiner Zustand, in dem jeder Einzelne darauf geeicht ist, in der Erwartung des Attentats alarmbereit zu sein, be alert, wie die Amerikaner sagen. Wer hat nicht in Paris, in Tunis oder Timbuktu in öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf öffentlichen Plätzen beim Gedanken an sich und seine Angehörigen das angstvolle Gefühl von Verletzlichkeit empfunden, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, furchtsam, dass gleich eine Bombe hochgeht? Wenn uns ein arbiträrer Tod auflauert, der uns nicht persönlich meint, wenn wir aus Zufall umkommen, einen Tod erleiden können, der nicht der unsere ist, dann ist jener namenlose Tod in unser Leben getreten, den wir mit der Wendung »blinder Terror« zu benennen suchen.

Haben wir es aber nicht auch mit einem Terrorismus zu tun, der ganz sichtbar auftritt? Er stellt nicht nur seine Taten zur Schau, er will uns darüber hinaus in das grausame, von ihm aufgeführte Schauspiel hineinziehen, indem er uns in die Position der Attentäter versetzt. So geschehen im beispielhaften Fall von Mohammed Merah, der seine Morde, darunter auch die Morde an den jüdischen Kindern der Ozar Hatorah-Schule in Toulouse, mit einer Körperkamera filmte und dann eine Videomontage davon dem Sender Al Jazeera zusandte, der nach einigem Zögern … die Ausstrahlung verweigerte. Die Kommunikation kann also zur Fortsetzung des Terrors mit anderen Mitteln werden. Man erinnere sich auch an den Slogan al-Sawahiris: »Der mediatisierte Dschihad ist schon der halbe Kampf.«3 Seither findet sich fast immer eine Überwachungskamera oder eine Handy-Kamera in unmittelbarer Nähe eines Attentatsortes, deren Bilder sofort von Medien übertragen und bis zum Überdruss in Spots wiederholt werden, als wollten sie uns den Schockzustand des Überlebenden aufdrängen. Diese Fenster hin zum Realen des Terrors haben das Eindringen der Angst ins Subjekt verstärkt und sein traumatisches Gewicht erhöht. Ebendiese Fähigkeit, in großem Maßstab Schrecken zu verbreiten, ist bei denen, die zu Herrschern über Tod und Leben werden wollen, eine starke Triebfeder, extreme Optionen in Betracht zu ziehen.

Die Verbindung von blinder Gewalt und willentlicher Zurschaustellung stellt eine neue Überschreitung dar, die aus Mord und Selbstmord eine Spielart von Kommunikation und ein Spektakel macht. Sie vergrößert die Allmacht des Henkers. Bis vor Kurzem galt noch die Regel, dass Mörder ihre Verbrechen verbergen, ihre Spuren verwischen und ihre Untaten leugnen. Jetzt aber geht es darum, das Massaker sichtbar werden zu lassen. Weshalb verwenden der »Islamische Staat« und andere Gruppen aus dem dschihadistischen Universum die Ausstrahlung ihrer grausamen Taten für ihre Propaganda? Gewiss besteht immer ein enger Zusammenhang zwischen den Techniken einer Zeit und den in ihr stattfindenden Massenmorden, doch wenn man es bei der Kontingenz der Mittel bewenden lässt, ohne die Ziele zu bedenken, dann versteht man die Absichten des heutigen religiösen Terrorismus nicht. Dieser Terror will eine furchtlose destruktive Macht zur Schau stellen, die misshandeln kann, wie es ihr beliebt, um damit die Vorstellung ihrer völligen Straflosigkeit unter der menschlichen Justiz zu untermauern. Da die Täter nur Gottes Gesetz unterstehen, als dessen Richter sie sich aufspielen, zeigen sie ostentativ, dass sie ohne Angst und Mitleid exekutieren, erwürgen, kreuzigen, amputieren, verbrennen, steinigen können. Sie begehen ihre Untaten zum Ruf Allah akbar, um auszudrücken, dass Gott selbst durch sie handelt, und deshalb können sie vorführen und glauben machen, dass für sie nichts unmöglich bleibt. Wenn Gott in den Händen der Menschen lebendig wird, dann scheint ihnen alles möglich, ganz im Widerspruch dazu, was Dostojewski Dimitri Karamasov sinngemäß proklamieren lässt.4 Die Äußerungen von Jugendlichen in den sozialen Netzwerken drücken aus, wie sehr sie von den scheußlichen Szenen fasziniert sind, die sogar erotische Regungen bewirken können. Diese Jugendlichen hoffen ihre Fesseln abzustreifen, um im Terror die Phantasmen absoluter Befreiung, göttlicher Gerechtigkeit ohne Prozess, einer bereits erlangten Vergebung zu verwirklichen, und das in einem Grad, dass das Töten zur Tugend wird. Erst wenn man sich selbst vor nichts mehr fürchtet, zieht man jene an, die Furcht und Schrecken verbreiten werden. Darin liegt die Verführungskraft dieser Verbindung, in der der Horror des Sehens und der des Glaubens aufeinandertreffen.

Dennoch gibt es Anlass, die Vorstellung einer blinden Gewalt zu relativieren. Sie ist blind, wenn man bedenkt, dass die Opfer für die Mörder »niemand« sind, lediglich Lebewesen, die man auf Kadaver, wenn nicht auf Fleischfetzen reduziert; sobald aber das Massaker in den Räumen von Charlie Hebdo geschieht, im Bardo-Museum, im Bataclan, in einer jüdischen Schule, einer schiitischen oder sunnitischen Moschee, werden diejenigen, die sich dort befinden, wegen ihrer Anwesenheit an diesem Ort und ihrer Verbindung zu ihm umgebracht: Sie werden getötet wegen dem, was sie sind, und nicht wegen dem, was sie tun, was den mörderischen Charakter dieser Taten definiert, wie Richard Rechtman nach den Attentaten des 13. November in Paris in Erinnerung gerufen hat.5 Man ist versucht zu sagen, dass sie jeden, aber nicht jeden Beliebigen um sein Leben bringen. Sie töten Leute für das, was sie nicht sind, und für das, was sie sind: Der Terrorismus ist ein Omnizid.

Die Schwierigkeit, die Mäander des Terrorismus nachzuvollziehen und ihn zu charakterisieren, hängt eng zusammen mit seinen Drohungen, seiner durchtriebenen Logik und seinen stetigen Transformationen. Seine Geschichte ist voller Kasuistiken der Rechtfertigung von Morden. Bezeichnete er einmal die Ausübung der Staatsgewalt zur Rettung der wahren Französischen Revolution, so hat er sich heute dahin entwickelt, dass er den Kampf gegen den Unterdrückerstaat meint. Immer wieder wird er gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt, um die Regierenden dazu zu bringen, Forderungen nachzugeben. Im Falle der Befreiungsbewegungen vom Kolonialismus war sein Ziel die nationale Unabhängigkeit, im Falle von Al-Kaida jedoch liegt keinerlei vergleichbare pragmatische Zielsetzung vor. Dieselben Aktivisten, die »als Kämpfer für die Freiheit« in Afghanistan auftraten, sind zu Partisanen eines heiligen Weltterrors geworden, des Dschihads,6 der keine territoriale Macht anstrebt, sondern die Zerrüttung der Vereinigten Staaten von Amerika. Die moralische Zwiespältigkeit der Gewalt liegt in dieser Kehrtwendung vom Widerständler zum Terroristen und umgekehrt, je nach den Standpunkten und Umständen. Zahlreiche Terroristen sind Staatschefs geworden, deren Stimme im Konzert der Nationen Respekt...

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