Es dauerte nicht lange, bis weitere Wissenschaftler, wie Dr. Hans Horkheimer von der Universidad Nacional de Trujillo oder der amerikanische Ethnologe und Journalist Victor Hagens, in den vierziger und fünfziger Jahren zur Erforschung der Wüstenbilder nach
Nasca kamen und ihre eigenen Theorien aufstellten. 39 Der amerikanische Mathematiker und Astronom Gerald Hawkins negierte nach seinen Expeditionen 1968 die astronomische
Theorie Maria Reiches. 40 Nachdem er in Stonehenge mit Vermessungen nachgewiesen hatte, dass dieser Ort als astronomische Beobachtungsstätte diente, führte er auf Bitten des Journalisten Tony Morrison ähnliche Untersuchungen in Nasca durch. Allerdings hatte er
nur einen Bruchteil der Figuren und Linien vermessen und mit astronomischen Daten der nördlichen Hemisphäre verglichen, so dass eine eindeutige Aussage noch immer aussteht. Anthony Aveni, US-amerikanischer Professor für Astronomie und Anthropologie an der Colgate-University, verfolgt seit Anfang der achtziger Jahre abermals den Ansatz, dass astronomische Überlegungen die Nasca bei der Erschaffung der Linien beeinflusst haben
könnten, aber nicht vorrangig von Bedeutung waren. 41 Mit dem 1995 gegründeten Nascaprojekt 42 der Dresdner Hochschule für Technik und Wirtschaft unter Leitung von Prof. Dr. Bernd Teichert sind im Laufe der nächsten Jahre weitere Ergebnisse zu erwarten. Im Fachbereich Vermessungswesen und Kartographie wird somit die Arbeit der 1998 verstorbenen Maria Reiche gewürdigt und fortgesetzt. Mit Hilfe eines speziell entwickelten Berechnungsprogrammes sollen die in noch andauernder Feldforschung gewonnen Daten der Figuren und Linien mit ausgewählten astronomischen Ereignissen, wie Auf- und Untergang von Himmelskörpern, Sonnenwenden und Finsternissen abgeglichen werden. Die Speicherung aller geometrischen, kulturellen, historischen, archäologischen und geologischen Daten zu den Figuren und Linien erfolgt durch ein interdisziplinäres Expertenteam
in dem Geographischen Informationssystem „NascaGIS“. 43
Quelle: Nascaprojekt Dresden; „Dr. Maria Reiche“ e.V.
Ziel dabei ist die Digitalisierung des Geländes zum Erhalt für die Nachwelt. Mit Hilfe des Internets kann jeder Nutzer weltweit auf die eingegebenen Daten zugreifen, bestimmte Figuren vergrößern, vermessen oder Informationen dazu erhalten. Fände diese Seite auch unter Einheimischen eine größere Verbreitung, könnte ihnen zumindest eine virtuelle Vogelperspektive ermöglicht werden, die vielen aus finanziellen Gründen bis heute unbekannt ist.
Auch Autoren und abenteuerlustige Interessenten fühlten sich von den rätselhaften Wüstenbildern angezogen: „Die Pampa wird von diversen Akteuren im heutigen Nasca ge- und
missbraucht, doch verstanden wird sie von niemandem“ 44 , schrieb die in Nasca forschende Archäologin Helaine Silverman diesbezüglich. Am meisten Aufsehen erregte wohl das 1968 veröffentlichte Buch „Erinnerungen an die Zukunft“ von Erich von Däniken. Menschen aus aller Welt wollten von diesem Zeitpunkt an die darin beschriebenen Landeplätze für Außerirdische in der Pampa von Nasca mit eigenen Augen sehen. Die aus dem Weltraum stammenden Wesen seien laut Däniken zu Zeiten der Nasca in deren Siedlungsgebiet gelandet, um Mineralien abzubauen und hätten dabei mit ihren Raumschiffen pistenähnliche Spuren hinterlassen. Die ansässige Bevölkerung versuchte wohl daraufhin, diese Start-und Landehilfen nachzubilden, da sie die als Götter identifizierten Wesen zurückholen wollten. Zur Stärkung dieses Bemühens zeichneten die Nasca angeblich über Generationen hinweg Figuren als Symbole ihrer Stammeszeichen in den Boden. 45 2003 eröffnete der Schweizer einen Mysterypark, in dessen Nascapavillion die Besucher virtuell über der Hochebene fliegen. Die simulierte Landung auf einem Trapez soll sogar direkt in der Pampa stattgefunden haben. 46
So sehr die Bücher und Theorien Dänikens auch kritisiert und diskutiert wurden, regten viele aufgeworfene Fragen zum Nachdenken und Weiterforschen an, so dass im Laufe der Zeit immer mehr Vermutungen über den Zweck der Scharrbilder auftauchten. Neben einer
Sportanlage für Läufer 47 , einer riesigen Fläche für Webarbeiten 48 oder als bloße Beschäfti- für die damalige Bevölkerung 49 , gelangte 1975 ein aufwändiges Experiment in die Schlagzeilen Perus. Die Amerikaner Jim Woodman und Mike DeBakey ließen einen
Ballon aus handgewebten Wollstoffen mit einer Schilfgondel bauen und in die Luft stei- um zu beweisen, dass die damaligen Nasca mit den ihnen zur Verfügung stehenden
Materialien ihre Bilder aus der Luft hätten betrachten können. 50 Anthony Aveni beurteilt den Großteil dieser Publikationen recht anschaulich: „Das Internet brachte ein Panoptikum von Nasca-Theorien hervor, die wahrscheinlich mehr über uns
selbst aussagen als über Nasca.“ 51 Johann Reinhard sieht ein Zusammenspiel verschiedener Theorien als wahrscheinlich an, um eine Aussage über den Zweck der Scharrbilder machen zu können. Sowohl Wasserkulte oder rituelles Pilgern am Boden, als auch astronomische und religiöse Bedeutungen sind denkbar.
Besonders interessant ist eine Untersuchung des ceque-Systems 52 in Cusco, die Aveni 1975 gemeinsam mit dem holländischen Anthropologen Tom Zuidema durchführte. 53 Als Grundlage dienten die 1653 in der „Historia del Nuevo Mundo“ aufgezeichneten Beschrei- bungendes Jesuitenpaters Bernabe Cobo über jene Linien, die vom Sonnentempel in Cusco ausgingen und die Stadt in Vierteil teilten. Entlang dieser Straßen fanden die zwei Wissenschaftler ein verzweigtes ceque-System mit zahlreichen natürlichen oder künstlichen Tempeln, wie behauene Felsformationen, Quellen, Brunnen oder Hügel. Daraus schlossen sie, dass diese als huacas bezeichneten heiligen Orte für den landwirtschaftlichen Kalender von zentraler Bedeutung waren und die ceques die Pflege der Stätten regelten. Dieses System sei ihrer Ansicht nach auch in den quipus festgehalten: jede Schnur verschlüsselt ein ceque und jeder Knoten eine huaca. So war es möglich, eine nach Verwandtschaftsgruppen angelegte Raumordnung unter Berücksichtigung von Bewässerungs-und Wasserversorgungsfragen zu schaffen.
Doch was hat die Erforschung der Rituale, Gesellschaftsordnung und Astronomie der Inka mit der Nasca-Kultur zu tun? Gemeinsam mit Garry Urton untersuchte Aveni die bis dahin gefundenen 62 Strahlenzentren in der Pampa von Nasca, von denen 762 Linien abgehen,
die anscheinend eine verbreitete Ausdrucksform der prähispanischen Kultur bilden. 54 Da- ausgehend, dass Ideen, Denkweise und Erkenntnisse der Nasca über die Welt denen
der Inka ähnelten, wäre es möglich, Schlussfolgerungen über deren Kultur zu ziehen, die Aveni wie folgt begründet: „Das Verständnis der Welt und die Art, wie dieses Verständnis dargestellt wird, transzendiert nicht selten Jahrhunderte und Kontinente. Nehmen wir beispielsweise unser geometrisches Wissen oder die Prinzipien wissenschaftlicher Theoriebildung
- beides hat sich aus Ideen entwickelt, die vor 2500 Jahren bei den alten Griechen entstanden.“ 55
Wir bereits kurz angerissen, beschäftigen sich aktuell neben dem Team des Nascaprojektes der HTW Dresden auch andere interdisziplinäre Forschergruppen mit dem Rätsel in der Wüste Perus. Der deutsche Archäologe Markus Reindel von der Kommission für Außereuropäische Kulturen leitet seit 1997 das Projekt Nasca-Palpa 56 in Peru. Im Mittelpunkt steht die Kultur- und Landschaftsgeschichte der Region Palpa. Mit Ausgrabungen, Kartierungen und Beschreibungen tragen diese Untersuchungen zum Erhalt der jahrtausendealten Figuren und Linien bei. Seit 2002 wird dieses Vorhaben vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unter dem Förderschwerpunkt "Neue naturwissenschaftliche Methoden und Technologien in den Geisteswissenschaften" unterstützt. Die Errichtung eines Museums gibt sowohl Einheimischen als auch Reisenden einen Einblick in diese Arbeiten.
Auch der „Centro Ceremonial en adobe más grande del mundo“ 57 in Cahuachi wird seit den fünfziger Jahren näher unter die Lupe genommen. Zuerst fanden Ausgraben der 24 Quadratkilometer großen Tempelanlage mit über dreißig Stufenpyramiden unter Leitung der Archäologen William Duncan Strong und Helaine Silverman statt, bis der Italiener Giuseppe Orefici 1984 im Auftrag des Centro de Estudios Arqueológicos Precolombinos
systematische und...