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Wo die Angst ist, geht es lang
Die Geschichte meiner eigenen Reise
Mitten im Winter erkannte ich … dass ich dabei war zu erfrieren. Der Winter war ein kühler Tag im April und die Konfirmation der jüngeren Schwester meines damaligen Freundes. Die Familie saß hübsch gemacht in einer evangelischen Kirche in Kassel. Ich war 19, saß daneben und sah das Ganze als spaßfreies Pflichtprogramm an. Ich war zwar evangelisch getauft, doch zu jener Zeit alles andere als empfänglich für kirchliche Botschaften.
Und nun fing auch noch der Jugendchor an zu singen. Ausgerechnet ein Jugendchor! Ich selbst hatte eine fünfjährige Chor-Biografie zu verzeichnen. Oh Gott, wie war das brav und spießig gewesen! Die Lust am Singen poppte höchstens in der Disco noch mal in mir auf.
Alles in mir war also auf Abwehr programmiert. Ein Konfirmations-Kirchenchor – forget it! Doch als die ach-so-piefigen Jungs und Mädels zu singen anhoben, erwischten sie mich eiskalt. Denn sie bedienten sich exakt des Soundtracks, für den meine Magengrube den idealen Resonanzboden bot, der ein verheißungsvolles Morgen versprach: Sie rockten Deep Purple, David Bowie, Uriah Heep.
Dem Pfarrer gelang etwas Unerhörtes: eine Konfirmation in der Gefühlssprache von uns, den Unter-Zwanzigjährigen. Ein Gottesdienst als Lebensschule, als Freiheitsschule vielleicht sogar. Erwachsene herzlich eingeladen.
Gesungen wurde zwar in der verachtenswerten Sprache der Oberlehrer und Sittenwächter, auf Deutsch, heaven!, doch ich kam erst gar nicht dazu, die inneren Schotten dicht zu machen. Gleich die erste Liedzeile setzte mich schachmatt: »Meinen Kopf in einen warmen Schoß zu legen, und meine Sorgen in einen großen Schrank.« Ein schlichter, um nicht zu sagen, ein höchst kitschverdächtiger Satz. Roy Black hätte seine Freude daran gehabt. Doch bevor ich begriff, wie mir geschah, begann ich – auch zum Erstaunen meiner kirchlichen Nebensitzer – hemmungslos zu weinen. Mein Gott, war das peinlich! Es schüttelte mich, und es hörte nicht auf. Im Gegenteil.
Noch schlimmer wurde es, als der Pastor vom Weg in die innere Wärme sprach, der der wichtigste Weg in unserem Leben sei, und den so viele verpassen würden. Er sprach von Menschen, die die Liebe vergäßen. Die gierig darauf bedacht seien, von wem sie welche Dosis Anerkennung, Zuwendung, Bestätigung erhielten, aber nie lernten, dass Liebe die wertvollste Währung sei. Am wertvollsten, wenn man sie verschenke.
Wer sie achtlos zumülle, die unerschöpfliche Liebesquelle in sich selbst, der begänne unweigerlich zu frieren, so der Pastor. Es gäbe zwar viele Methoden, den inneren Schüttelfrost kurzzeitig zu betäuben, doch wer sich dem nicht stelle, nicht anschaue, weshalb es ihn so friere, der verlöre über kurz oder lang sein Leben. Genauer gesagt: Er verlöre seine Lebendigkeit.
Es heulte mich. Mit Macht brach aus mir heraus, was ich nicht wahrhaben wollte. Denn ich war doch zutiefst davon überzeugt: Ich lebte die große Freiheit Nummer sieben! Gemeinsam mit meinem Freund in einer flippigen WG, im Studium lief auch alles rund … Einzig das Geld war wahnsinnig knapp, weil meine Eltern mir nur den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestbetrag gaben, 300 Mark pro Monat. Aus Disziplinierungsgründen. Aber selbst das war irgendwie cool. Geld? Das war doch das Magengeschwür der Kapitalisten.
Und hier, auf dieser beinharten Kirchenbank, wurde mir schlagartig klar: Ich fror, und wie! Trotz I Ging, trotz Habermas und Horst Eberhard Richter, trotz allen Gegenentwürfen zum etablierten Spießerleben hatte ich aufgehört zu suchen. In mir vibrierte es nicht mehr. Die Welt war von einem Grauschleier überzogen. Das tiefe Glücksgefühl zu leben – kaum geahnt, schon verpufft. Mein Gott, eine Lebenskrise mit 19? Verdammt früh!
Aber kein Wunder eigentlich. Hatte ich doch schon früh einen sensiblen Geigerzähler entwickelt für Phasen, in denen das Leben seinen Glanz verliert. Weil ich von klein auf gespürt hatte, wie es ist, sich außen geborgen und innen verloren zu fühlen. Ich klammerte mich an den Rockzipfel meiner Mutter, weil ich kleines, dürres Mädchen innen total verängstigt war. Ein Vertrauen der Sorte »von guten Mächten wunderbar geborgen« war noch nicht erwacht. So erinnere ich mich an meine Kindheit mit dem Gefühl von Behütetsein – und Schüttelfrost.
Ich komme aus einer klassischen Akademikerfamilie. Mein Vater war Professor für Maschinenbau in Braunschweig, meine Mutter hatte das Medizinstudium mit der Geburt meiner älteren Schwester abgebrochen. Carl-Orff-Schulwerk, Klavierunterricht, Ballett, Tennis, Reiten, Jugendchor, Bildungsreisen. Meine Eltern wollten das Beste für uns. Sie organisierten nach bestem Wissen und Gewissen und mit größtem Kraftaufwand die optimale Förderung für uns. Ihr Prinzip: eine strenge, liebevolle Erziehung.
Ich war ein merkwürdiges Kind, extrem schüchtern, ja scheu. Ich traute mich weder aufs Fahrrad noch allein zum Kaufmann an die Ecke. In der Schule war ich war supergut, zu Hause wollte ich am liebsten zu Mama und Papa auf den Schoß. Der Rockzipfel als verlängerte Nabelschnur.
Irgendwann begann ich zu spüren, dass es bei uns zu Hause irgendwie anders war als bei meinen Freundinnen. Alles ein bisschen schwerer, ernster, tiefer, weniger spontan. Es war, als verstecke sich zwischen uns vieren ein graues Geheimnis. Ein Geheimnis, das wie ein schuppiges Tier hinter dem Vorhang saß und sich von Lebensfreude nährte.
Erst zehn Jahre später, ich war gerade 18, begann ich zu begreifen: Es gab einen Zusammenhang zwischen meiner Schüchternheit und dem schuppigen Tier. Mein Vater erzählte uns von dem, was er und meine Mutter mit sich trugen. Und das war beileibe tonnenschwer. Meinem Vater war als »Halbjude« zunächst das Abitur verwehrt worden, später wurde er nach Frankreich in ein Lager deportiert. Dort musste er »den Westwall schippen« und erkrankte schwer. Er hat das Lager und den Nazi-Terror nur mit sehr viel Intelligenz und noch mehr Glück überlebt.
Bei meiner Mutter wurde ein schwarzes Melanom diagnostiziert, als sie im vierten Monat mit mir schwanger war. Als angehende Ärztin wusste sie, was das bedeutet. In einer sofortigen Operation sah sie keine Chance mehr, also trug sie mich aus. Kurz nach der Geburt kam ich ins Säuglingsheim und sie ins Krebsforschungszentrum Heidelberg. Man fand Metastasen im ganzen Bauchraum. Trotzdem wurde sie operiert, acht Stunden lang. Anschließend bereitete der Professor meinen Vater auf ein Leben als Witwer vor.
Doch dann das Wunder: Meine Mutter wurde massiv bestrahlt – und überlebte. Der Krebs war weg. Was blieb, war die Angst. Immer wieder musste sie zu Kontrolluntersuchungen, immer wieder hatte sie veränderte Lymphknoten, die entfernt werden mussten. Eine einzige aggressive Metastase hätte genügt …
Und von alldem hatten uns unsere Eltern unsere ganze Kindheit und Jugend hindurch nichts erzählt. Sie wollten uns nicht belasten. Und sie wollten unsere Mutter schützen. Niemand sollte über sie und ihr Schicksal tuscheln.
Heute weiß ich, wie das schuppige Tier heißt, das die Lebensfreude in unserer Familie so hinterhältig aufzehrte. Sein Vorname: Angst. Sein Nachname: Verdrängung. Ich meine zu ahnen, was für ein unglaublicher mentaler Kraftakt es gewesen sein muss, mit all dem Erlebten fertig zu werden. Ich spreche bewusst nicht von »Verarbeiten«. Dazu wäre es vielleicht nötig gewesen, professionelle Hilfe zu suchen, sich Unterstützung durch einen Psychotherapeuten zu holen. Doch in den Fünfziger-, Sechzigerjahren? Da wurde verdrängt. Man war ja schon mit ganz anderem »fertig geworden«. Der Krieg war schließlich vorbei. Haltung war alles. Gefühle zulassen war keine Option.
Meine Eltern stammten aus Berlin. In Braunschweig suchten sie sich keine Freunde. Wie zwei Mammutbäume stehen sie da, in meiner Erinnerung. Stumm (er)trugen sie die Last ihres Schicksals und schnitten Gefühle, die sie irritierten, einfach ab.
Zwischen diesen Mammutbäumen tapste nun also Klein-Nina herum, ständig um Aufmerksamkeit und Liebe bettelnd. Meine Eltern gaben mir alles, was sie konnten. Unsicher und verloren blieb ich trotzdem. Denn ich spürte ja: Irgendetwas war anders. Irgendetwas stimmte nicht.
Und so begann ich zu suchen. Nach etwas, das mich stark macht, das mich hält. Zunächst war das der Erfolg in der Schule. Freundinnen fühlten sich leicht überfordert von mir. So viel Nähe, so viel Ausschließlichkeit wie ich brauchten sie nicht.
Als ich dann zwölf wurde, wuchs das nagende Gefühl, dass gute Noten nicht reichten, um den Grauschleier zu durchstoßen. Er lag über allem, was ich erlebte. Aus ihm war auch meine Schüchternheit gewebt. An die Lerneinheit: »Einfach mal leben« traute ich mich nicht mal aus der Ferne heran. Ich hatte so wenig festen Boden unter den Füßen, wie sollte ich da Experimente wagen? Nein, nur hinter dem Wohnzimmersessel fühlte ich mich einigermaßen sicher.
Dennoch ahnte ich bereits damals, dass die Farben des Lebens in Wirklichkeit viel satter waren, als ich sie wahrnehmen konnte. Und ich ahnte, dass ich Rockzipfel und Wohnzimmersessel verlassen musste, um den Grauschleier zu zerreißen. Ich hatte nur noch keine Ahnung, wie.
Eines Nachmittags nahm dieses Wie Form an. Buchstabenform. Ich war zwölf und saß mit meiner besten Freundin auf dem Bett in meinem »Jugendzimmer«. Wir philosophierten. Das...