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E-Book

Der unheilbare Romantiker

& andere Geschichten aus der Psychotherapie

AutorFrank Tallis
Verlagbtb
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783641221430
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
In der Liebe sind wir alle gleich: Jeder sehnt sich nach Liebe, jeder verliebt sich, jeder hat schon Liebeskummer erlebt. Aber was passiert, wenn die Liebe zur Obsession wird? Die Angestellte einer Anwaltskanzlei ist felsenfest davon überzeugt, dass ihr Zahnarzt sie liebt und dass das Schicksal sie beide füreinander bestimmt hat bis in alle Ewigkeit. Eine Witwe bekommt Besuche von dem Geist ihres verstorbenen Ehemanns. Ein Akademiker ist seinem Spiegelbild verfallen. Eine wunderschöne Frau wird von Eifersucht auf die Rivalin geplagt, die es gar nicht gibt. Ein Nachportier ist besessen lasziven Dämonen.

Mit diesen Fallgeschichten aus seiner Praxis nimmt uns der Schriftsteller und klinische Psychologe Dr. Frank Tallis mit auf eine höchst faszinierende Reise durch die Seelenlandschaft von Liebenden.

Frank Tallis ist Schriftsteller und praktizierender klinischer Psychologe. Für seine Romane, vor allem für seine Erfolgsserie um den Psychoanalytiker und Detektiv Max Liebermann, erhielt er zahlreiche Preise, u. a. den »Writers' Award from the Arts Council of Great Britain« und den »New London Writers' Award«. Tallis lebt in London.

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Leseprobe

Kapitel 1
Die Anwaltsgehilfin
Liebe, die kein Nein akzeptiert


Wir hatten an den gegenüberliegenden Seiten eines kleinen ­Tisches auf zwei hochlehnigen Armsesseln Platz genommen. In Reichweite stand das unentbehrliche Accessoire des professionellen Psychotherapeuten: eine Box mit Zellstofftüchern – vielleicht das am wenigsten beeindruckende aller berufstypischen Utensilien. Ich habe unendlich viele Stunden meines Lebens damit zugebracht, Leuten beim Weinen zuzusehen.

Megan war Mitte vierzig, konservativ gekleidet, mit weichen, runden Gesichtszügen. Ihr Haar war dunkelbraun und zu einem akkuraten Bob geschnitten – die glatten Seiten rollten sich unter ihrem Kinn nach innen. Ihr Gesicht war freundlich. Im Ruhezustand bewahrten ihre Gesichtszüge ein leises, unterwürfiges, unsicheres Lächeln. Ihr Rocksaum reichte ein gutes Stück weit unter die Knie, und ihre Schuhe gehörten zur Sorte »zweckmäßig«. Eine lieblose Person hätte Megan vielleicht als graue Maus bezeichnet.

Ihr Hausarzt hatte mir eine Überweisung geschickt und die Eckdaten ihres Falles zusammengefasst. Überweisungen (normalerweise auf Band diktiert und dann von einer Sekretärin abgetippt) sind neutral gehalten. Die kurzen, knappen Sätze ersticken oftmals die Tragik, die sich dahinter verbirgt. Name, Alter, Adresse, Sachverhalt. Megans Geschichte hatte allerdings ihre theatralische Glut bewahrt. Dem stichpunktartigen Bericht des Hausarztes war es nicht gelungen, die wichtigen Elemente einer tragischen Liebesgeschichte einzufrieren: emotionale Extremsituation, rücksichtslose Hingabe, Leidenschaft und Begehren.

Bevor Megan mein Sprechzimmer betrat, hatte ich die Überweisung gelesen und mich natürlich gefragt, wie sie wohl aus­sehen würde. Vor meinem geistigen Auge entstand augenblicklich die passende Heldin für einen Liebesroman. Ich hatte mir eine schlanke, hochgewachsene Frau mit wilder Mähne und gehetztem Blick vorgestellt. Ich muss zugeben, ich war ein wenig enttäuscht, als Megan hereinkam.

Auf gewisse Art und Weise treffen alle Klischees zu, und die äußere Erscheinung kann ausgesprochen trügerisch sein. Wenn wir uns das erste Mal begegnen, sehen wir einander nicht wirklich. Es bedarf schon eines sehr genauen Blickes, um zu erkennen, mit wem wir es tatsächlich zu tun haben. An diesem ersten Treffen sah ich nur eine Anwaltsgehilfin. In Wirklichkeit war die Frau, die da vor mir saß, viel exotischer, aber ich war nicht in der Lage, über die Barriere meiner eigenen Vorurteile hinwegzusehen.

Nach ein paar einleitenden Bemerkungen erklärte ich, dass ich die Überweisung ihres Arztes gelesen hatte, aber trotzdem ihre eigene Version der Dinge hören wollte.

»Das ist schwierig«, sagte sie.

»Ja«, nickte ich. »Bestimmt haben Sie Recht.«

»Ich kann Ihnen Begebenheiten erzählen«, fuhr sie fort. »Ich kann Ihnen erzählen, was geschehen ist, aber es ist so schwierig auszudrücken, wie es in mir aussieht.«

»Wir haben es nicht eilig«, gab ich zur Antwort. »Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen.«

Abgesehen von einigen leichten depressiven Episoden hatte Megan noch nie an irgendwelchen signifikanten psychologischen Problemen gelitten. »Meine Depressionen waren nie sehr schwer«, sagte sie. »Ich meine, nicht so schwer wie bei einigen Leuten, die ich kenne. Nur manchmal hatte ich so meine Mucken, aber das ist auch schon alles. Und nach ein paar Wochen war alles wie weggeblasen, und es ging mir wieder gut.«

»Können Sie sagen, was das ausgelöst haben könnte?«

»Die Anwälte, für die ich arbeite, verlangen oft viel von einem. Vielleicht war es der Stress.«

Ich nickte mitfühlend und machte mir ein paar Notizen.

Megan war seit zwanzig Jahren verheiratet. Ihr Mann Philip war Buchhalter, und sie waren immer glücklich miteinander gewesen. »Wir haben keine Kinder«, sagte sie unaufgefordert. »Es ist nicht so, dass wir von vornherein keine Kinder haben wollten – nur war irgendwie nie der richtige Zeitpunkt. Wir haben es immer wieder zurückgestellt, bis es irgendwann kein Thema mehr war. Manchmal frage ich mich, wie es wohl gewesen wäre, Kinder zu haben, eine Mama zu sein. Aber ich kann nicht behaupten, dass ich mir deshalb ein Leben lang Vorwürfe machen würde. Ich glaube nicht, dass ich etwas verpasst habe. Und ich bin sicher, dass Phil das genauso sieht.«

Zwei Jahre zuvor hatte Megan einen Zahnarzt aufsuchen müssen, der auf komplizierte Eingriffe spezialisiert war.

»Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Zusammentreffen mit ihm?«

»Mit Daman?« Dass sie den Vornamen ihres Zahnarztes nannte, war ein wenig ungewöhnlich. An und für sich war es nicht weiter von Bedeutung, aber in ihrem Fall schon.

»Mit Mr Verma.« Ich korrigierte sie nicht, sondern stellte nur sicher, dass wir über dieselbe Person sprachen.

Sie sah mich fragend an, und ich ermunterte sie mit einer kleinen Geste, fortzufahren. »Er untersuchte mich, sagte, dass ich mir den Zahn ziehen lassen sollte – und ich ging nach Hause.«

»Fanden Sie ihn attraktiv? Haben Sie irgendetwas gefühlt

»Ich fand, dass er ziemlich gut aussah. Er hatte eine angenehme Art. Aber …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Sehen Sie, genau deshalb ist es so schwierig. Diese Dinge sind so schwer zu beschreiben. Vielleicht habe ich etwas gefühlt – gleich von Anfang an. Ja. Vermutlich schon. Ich wusste einfach nicht, was da passierte. Ich war durcheinander.«

Ich registrierte eine gewisse Anspannung in ihrer Stimme. »Schon gut …«

Daman Verma führte die Operation durch. Es gab keine Probleme, und alles lief nach Plan. Als die Vollnarkose nachließ und Megan aufwachte, hatten sich ihre Gefühle verändert. »Ich registrierte, dass Menschen um mich herum waren – die beiden Assistentinnen … Es gab Geräusche, Stimmen. Ich öffnete die Augen, schaute in ein Licht an der Zimmerdecke, und ich weiß noch, dass ich dachte: ›Ich muss ihn sehen.‹ Ich hatte keine Angst und war auch nicht besorgt. Ich wollte nicht wissen, wie die Operation gelaufen war. Alles, was ich wollte, war, ihn zu sehen.«

»Warum?«

»Ich hatte nur einfach dieses … Bedürfnis. Es kam mir – keine Ahnung – notwendig vor.«

»Wollten Sie ihm etwas sagen?«

»Nein. Ich wollte ihn einfach nur sehen.«

»Ja, aber warum?« Ich wollte ihr eine präzisere Antwort entlocken, aber entweder wollte oder konnte sie mir keine geben.

Der Zahnarzt wurde geholt, und er kam in den Aufwachraum. Er nahm Megans Hand und sagte ihr vermutlich ein paar be­ruhigende Worte. Daran konnte sie sich nicht erinnern, weil sie nicht wirklich zuhörte. Sie war vollkommen hingerissen von seinem Gesicht, das sie als unnatürlich schön empfand, ein Gesicht, das in ihren Augen die edelsten Tugenden von Männlichkeit ausdrückte – Stärke, Kompetenz, Leistung –, und sie entdeckte in seinen Augen etwas ganz Außergewöhnliches, etwas, das so unerwartet war, dass sie fast nach Luft schnappen musste: Gemeinsamkeit, Wechselseitigkeit. Er begehrte sie ebenso sehr, wie sie ihn begehrte. Das war offensichtlich. Warum hatte sie es nicht früher bemerkt? Als er sich verabschieden wollte, packte sie seine Hand ein wenig fester. Er wirkte verlegen. Natürlich musste er verlegen sein. Er konnte seine Gefühle nicht zeigen, nicht dort, nicht vor den Assistentinnen. Er konnte ihr im Aufwachraum doch keine Liebeserklärung machen! Er musste an seinen Ruf denken, er war schließlich der Chef. Es rührte sie, wie er schauspielerte und linkisch versuchte, die Wahrheit zu verbergen. Sie ließ seine Finger los. Sie wusste mit absoluter Gewissheit, dass die Liebe, die sie füreinander empfanden, so stark, so absolut überwältigend war, dass sie ihr restliches Leben zusammen verbringen und sehr wahrscheinlich gemeinsam sterben würden.

Eine verzauberte Prinzessin wacht aus einem tiefen Schlaf auf und blickt in die Augen ihres Märchenprinzen. Diese Szene spielt im Märchen Dornröschen der Brüder Grimm; allerdings hatten die Brüder Grimm schon hundert Jahre zuvor mit Charles Perrault und seinem Märchen Die schlafende Schöne im Walde einen Vorgänger.

Ist es möglich, sich so schnell so heftig zu verlieben? Oder gibt es das nur im Märchen? Attraktivität wird innerhalb von Millisekunden beurteilt, und wenn die Beurteilung positiv ausfällt, setzen wir automatisch weitere Merkmale voraus. So gehen wir etwa davon aus, dass schöne Menschen liebenswerter, freundlicher und interessanter sind. Das ist ein gut dokumentiertes Phänomen, das Psychologen den Halo-Effekt nennen. Megan hatte jedoch etwas viel Tiefgreifenderes erlebt. Es ist wohl wenig wahrscheinlich, dass Fremde unmittelbar eine bedeutungsvolle und dauerhafte Bindung aufbauen können. Wie soll das überhaupt funktionieren? Die Partner kennen einander nicht. Und dennoch behauptet ein großer Teil der Durchschnittsbevölkerung, Liebe auf den ersten Blick schon erlebt zu haben, und viele liebestrunkene Paare bleiben auch tatsächlich zusammen. Einige Psychologen behaupten, dass es gewisse evolutionäre Vorteile bringt, wenn man sich sofort zueinander hingezogen fühlt. So findet etwa ein sexueller Kontakt früher statt, was bewirkt, dass weniger Gelegenheiten zur Reproduktion vergeudet werden. Dies wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Gene an die nächste Generation weitergegeben werden, was gut für den Betreffenden (oder zumindest für seine Gene) ist und letztendlich der Spezies zugutekommt. Für Liebe auf den ersten Blick anfällig zu sein, könnte eine sehr fundamentale biologische Disposition darstellen.

Die Tatsache, dass Megan sich in dem...

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