ORENBURG
Als der Musiker Oskar Böhme an diesem Julimorgen des Jahres 1935 in der Provinzstadt Orenburg aus dem Zug steigt, erfasst ihn eine eigenartige Beklemmung. Ist es Unbehagen, Angst oder Bitterkeit? Oft schon hat er fremde Städte betreten, mal neugierig, mal unsicher, aber nie hat er sich so verloren gefühlt. Es war wohl ein Fehler, nach Russland zu gehen, das gesteht er sich nun ein. Hier, in Orenburg, ist er am Tiefpunkt seines Lebens angelangt. Und doch nistet tief in seinem Innern noch immer Zuversicht, die Hoffnung, dass alles gut werden wird.
Böhme hat 72 Stunden auf der Bahn verbracht. Zuerst ging es 700 Kilometer von Leningrad nach Moskau und dann noch 1500 Kilometer Richtung Ural. Bei Samara, das seit Kurzem Kuibyschew heißt nach dem zu Jahresbeginn auf rätselhafte Weise verstorbenen Stalin-Mitstreiter Walerian Kuibyschew, überquerte der Zug die Wolga und nahm Kurs auf Orenburg an der kasachischen Grenze. Dort war Böhme ausgestiegen, obwohl er niemals in diese Stadt reisen wollte.
Schon das dreistöckige Bahnhofsgebäude lässt keinen Zweifel, dass hier eine andere Welt beginnt. Bunt vermischen sich bei dem Bau europäische Formenstrenge und asiatischer Prunk. Den Seitenflügeln sind grüne Kuppeln aufgesetzt, die an die Filzhüte turkestanischer Sultane erinnern und die ebenso in Samarkand oder Buchara stehen könnten. Es ist offensichtlich: Hier verabschiedet sich das Abendland und überlässt dem Orient das Feld. Vom Steilufer des Ural-Flusses, an dem die Stadt liegt, blickt man bereits in die kasachische Steppe. Der Fluss markiert die Grenze zwischen den Kontinenten.
Hier war das Russische Reich einst zu Ende, weswegen die Zarin Elisabeth an dieser Stelle 1743 die Festung Orenburg errichten ließ. Kasernen wurden gebaut, Artilleriehöfe und Militärschulen, Pulverkeller, Kaufhäuser, Zollstationen. Über Orenburg lief Russlands Handel nach Buchara, nach Afghanistan und Indien. Vor gar nicht langer Zeit zogen noch Kamelkarawanen durch die Stadt. Nach der Revolution war Orenburg für einige Jahre die Hauptstadt der Kirgisischen Sozialistischen Sowjetrepublik, eines autonomen asiatischen Gebiets, das die Bolschewiki bei der Neuordnung ihres Reiches aus verschiedenen Provinzteilen zusammensetzten. Mit Kirgisien aber hatte die Republik wenig zu tun, denn in Wahrheit umfasste sie große Teile des jetzigen Kasachstans. Zu ihrem Namen kam sie wohl, weil die Russen die Kasachen fälschlich für Kirgisen hielten.
Gleich hinter dem Ural-Fluss beginnt der schier endlose Osten mit seinen unwirtlichen Steppen und weiten Wüsten. Das macht die Stadt zu einem idealen Verbannungsort für Menschen, die der Staat aus politischen Gründen nicht schätzt. Sich von hier in den Westen durchzuschlagen ist so gut wie unmöglich. Schon Nikolai II. ließ Marxisten der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und widerspenstige Sozialrevolutionäre daher gern ins Zwangsexil nach Orenburg schaffen. Seit sie die Macht haben, nutzen die Bolschewiki, die sich über diese zaristische Praxis immer empört hatten, die alte Feste am Ural ebenfalls als Verbannungsort. Kontakte der Bevölkerung zu den Verbannten sind nicht erwünscht.
Oskar Wilgelmowitsch Böhme, 65 Jahre alt, von Beruf Musiker, genauer gesagt Cornetist, ist ein nicht sehr großer Mann mit grauen, kurz geschorenen Haaren und grauem Schnurrbart. In seinem blaugestreiften Hemd steht er verloren auf dem Bahnhofsvorplatz von Orenburg. Er hat Zeit. Niemand erwartet ihn, jedenfalls niemand, der sich über seinen Besuch freuen würde. Der weite Platz hat nichts zu bieten, was dem Auge wohltun könnte. Böhme fühlt sich einsam und fremd. Dass er ein Verbannter ist, ahnen die Einheimischen schon, bevor er fragt, wie er zum ehemaligen »Amerikanischen Hotel« in der Straße des 9. Januar kommt. Dort befindet sich seit der Revolution die Filiale des NKWD, des Volkskommissariats für Inneres. Das weiß jeder in Orenburg. Ihre wichtigste Abteilung ist die GUGB, die Hauptverwaltung für Staatssicherheit. Bei der soll Böhme sich nach der Ankunft unverzüglich melden. Es bleibt ihm im Grunde auch gar nichts anderes übrig, wenn er nicht von der nächsten Polizeipatrouille festgesetzt werden will. Den sowjetischen Pass hat man ihm abgenommen, er besitzt nur einen Passersatz, eine »Bescheinigung für einen administrativ Ausgesiedelten«. Bei der Suche nach einer Wohnung, einer Anstellung, auf der Post – überall wird dieses Papier ihn als Aussätzigen ausweisen. Das Papier ist ein Kainsmal.
Die Gostinodworskaja uliza, gleich hinter dem großen Kaufhof gelegen, ist zu Beginn des vorigen Jahrhunderts eine der typischen Geschäftsstraßen in Orenburg und das Amerikanische Hotel mit seinen verspielten Türmchen auf der rechten Seite ein Symbol für den Aufstieg der Stadt. Der Millionär Ahmed-Bai Chusainow hat es erbaut, ein gebürtiger Tatare, der anfangs mit Lehmziegeln und den Fellen von Zieselmäusen gehandelt hatte. Aber bald war er zum Großgrundbesitzer aufgestiegen, hatte sich in Orenburg niedergelassen, der Schnittstelle zwischen orthodoxer und muslimischer Welt, und dort neben dem Hotel auch eine Moschee und eine Medrese erbaut. Die Bolschewiki benennen die Straße später um, nehmen dem Hotel die Türmchen und stocken es auf. Der Bau dient fortan als sowjetische und – bis in die heutige Zeit – als russische Geheimdienstzentrale.
Böhmes ganzes Gepäck besteht aus zwei Handkoffern. In dem größeren bewahrt er zwei weitere Schriftstücke, die er beim Geheimdienst vorzuzeigen hat. Das eine ist die Anklageschrift zur Akte 2778, unterzeichnet am 8. Juni 1935 vom stellvertretenden Chef des Leningrader NKWD, Nikolai Nikolajew. In ihr steht, der Musiklehrer Böhme habe in Leningrad gegen die kommunistische Führung des Landes gehetzt. »In seinen Unterrichtsstunden hat er seine feindliche Haltung zum sowjetischen Staatssystem zum Ausdruck gebracht, scharf den sozialistischen Aufbau kritisiert und so die Studentenschaft gegen die Sowjetmacht aufgebracht.« Am Schluss heißt es, Böhme habe seine Schuld »nicht eingestanden. Aber die Aussagen ehemaliger Schüler haben seine konterrevolutionäre Tätigkeit vollauf bestätigt.«1
Das zweite Papier nennt sich »Protokollauszug der Sonderberatung beim NKWD vom 20. Juni 1935«. Der Text umfasst lediglich drei Zeilen, sie lauten:
Böhme, Oskar Wilgelmowitsch ist wegen der Beteiligung an einer konterrevolutionären Organisation für die Zeit von drei Jahren nach Orenburg zu schicken. Die Frist beginnt am 13.4.1935.2
Am 13. April, einem Sonnabend, war er verhaftet worden. Die Haft zählt also immerhin mit. Es hatte ein paar Verhöre gegeben, eine Gegenüberstellung, dann dieses Urteil, gefällt in seiner Abwesenheit von einem jener vierköpfigen Gremien aus Geheimdienst-, Polizei- und Parteifunktionären, die sich euphemistisch »Sonderberatungen« nennen, in Wahrheit aber Sondergerichte sind und mit einer ordentlichen Gerichtsbarkeit so wenig gemein haben »wie eine Schubkarre mit einem Automobil«,3 wie der russische Schriftsteller und langjährige Gulaghäftling Warlam Schalamow sich dieser »Sonderberatungen« später erinnert.
Der kleinere Koffer, den Böhme bei sich hat, ist eher ein Köfferchen und etwas eigenartig geformt. In ihm befindet sich sein treuester Begleiter, das Instrument, das ihn vor 37 Jahren nach Russland geführt hat. Auf den ersten Blick sieht es aus wie eine versilberte Trompete, gleicht aber eher einem alten deutschen Posthorn, allerdings mit Ventilen. Kenner wüssten sofort, dass es sich um ein Cornet à pistons handelt, ein kleines Ventilhorn. Es wurde 1828 in Frankreich aus einem mit Pumpventilen versehenen Posthorn entwickelt. Die Franzosen setzten es als Erste in ihren Militärkapellen ein. Im Gegensatz zur Trompete erzeugt das Cornet einen weichen, runden Ton. Schon im 19. Jahrhundert gab es zahlreiche Cornetisten, die mit ihrer stupenden Technik und ihren eingängigen Melodien die bürgerliche Musikwelt begeisterten. 1873 feierte Jean-Baptiste Arban, der französische Paganini des Cornets, in Sankt Petersburg triumphale Erfolge. Deutsche Cornetvirtuosen wie Hugo Türpe und Theodor Hoch wurden in den USA geschätzt, wo frühe Jazzmusiker wie Joe »King« Oliver oder Bix Beiderbecke das Instrument ebenfalls spielten, so wie jetzt Louis Armstrong, der neue Star des Jazz.
Oskar Böhme, 1870 in der Nähe von Dresden geboren, hat in Leipzig und Hamburg Musik studiert und wurde bereits mit 19 Jahren bei Konzerten gefeiert. Nach einem Engagement an der Königlichen Oper von Budapest wagt er den großen Sprung in Russlands musikversessene Hauptstadt Sankt Petersburg, wo er seine Karriere fortsetzen will. In Petersburg arbeitet er zunächst als Musiklehrer und Chorleiter, komponiert verschiedene Stücke und nimmt 1901 die russische Staatsbürgerschaft an. Im Jahr darauf erfüllt sich für ihn ein Traum: Er tritt in das Orchester des weltberühmten Marientheaters ein, der großen Petersburger Oper. 20 Jahre spielt er dort, wird während des Krieges Solist und zuvor sogar erblicher Ehrenbürger der Stadt. Dann aber fegen die Revolutionen über Petersburg hinweg, zuerst jene, die den Kaiser stürzt, dann die der Bolschewiki. Böhme bleibt, denn er ist ja nun russischer Untertan. Die politischen Stürme erfassen ihn, doch er bringt nicht die Energie auf, sich zu wehren oder zu flüchten. Eines Tages ist er sowjetischer Staatsbürger, so plötzlich, wie aus dem alten Petersburg zunächst Petrograd und dann Leningrad wurde.
Er schlägt sich wieder als Musiklehrer durch, spielt in einigen der verbliebenen Orchester und will nicht wahrhaben, dass sich am Horizont dunkle Wolken zusammenziehen, dass die Bolschewiki unter Josef Stalin die Bürger Russlands und erst recht Menschen mit nichtrussischen Namen...