Einleitung
An einem heißen Abend im September 1913 bildete sich auf dem Canal Grande in Venedig ein Verkehrsstau, da sich im östlichen Abschnitt des Kanals, dort, wo er sich Richtung Lagune weitet, Gondeln mit aufwendig kostümierten Partygästen drängten.
2 Der Palazzo Venier dei Leoni Ende des 20. Jahrhunderts. Er beherbergt heute die Peggy Guggenheim Collection.
Am Ufer reihten sich vornehme Gebäude; in den oberen Stockwerken hingen gewaltige Kronleuchter, deren strahlendes Licht vom Wasser reflektiert wurde und die Fassaden zum Leuchten brachte. Aus dieser klassisch venezianischen Szenerie stach ein Bauwerk heraus wie ein abgebrochener Zahn. Der nur einstöckige Palazzo Venier dei Leoni schien sich im Zustand fortschreitenden Verfalls zu befinden, die weißen Steinmauern waren von Efeu überwachsen, im Dach klafften Löcher.
Und doch strebten die Gondeln ausgerechnet diesem Gebäude zu. Über dem Dach schimmerte eine Aureole aus goldenem Licht, Musik erklang, und auf der breiten Uferterrasse spielte sich ein spektakuläres Begrüßungsritual ab. Zwei Schwarze – eins achtzig groß und wie nubische Sklaven gekleidet – standen zu beiden Seiten der Landungstreppe; einer verkündete die Ankunft der Boote mit feierlichen Gongschlägen, der andere warf Metallspäne in ein Kohlebecken, worauf Funken weißen Lichts in den Nachthimmel stoben. Gleich dahinter die Gastgeberin, eine hochgewachsene, schlanke Frau im weiß-goldenen, durchscheinenden Gewand einer persischen Prinzessin. Sie stand in der Mitte einer großen, flachen Schale voller Tuberosen und empfing ihre Gäste, indem sie sich wortlos und ohne ein Lächeln des Erkennens bückte und jedem eine einzelne Blume reichte.
In den drei Jahren, in denen die Marchesa Luisa Casati den Palazzo Venier gemietet hatte, wurden sie und ihre Partys zur Legende. Obwohl von ausgeprägter, geradezu exzentrischer Schüchternheit, war sie dennoch überzeugt, dass sie eine Künstlerseele besaß und dazu berufen war, sich und ihre Umgebung in Kunstwerke zu verwandeln. Selbst in einer Stadt, die für ihren Karneval und ihre Maskeraden bekannt war, gab es nichts, was der Inszenierung der Feste bei der Marchesa gleichkam, und von jedem Gast wurde erwartet, dass er seine Rolle darin spielte. Während sie ernst und schweigend inmitten der Tuberosen stand, entstiegen den Gondeln an jenem Septemberabend blaublütige Prominenz und Honoratioren in Haremshosen, aber auch Künstler mittleren Alters mit Turbanen und falschen Bärten – eine farbenfrohe, selbstbewusste Schar aus Sklavenmädchen, Paschas und gestiefelten Korsaren.
Im letzten Sommer vor dem Ersten Weltkrieg waren orientalische Feste der letzte Schrei, doch nur wenige hatten eine so stimmige Kulisse. Waren die Gäste der Marchesa erst einmal durch den verfallenden Säulenvorbau des Palazzos ins Innere gelangt, fanden sie sich in einer Szenerie wieder, die jede Vorstellung übertraf. Anstelle der düsteren Marmorwüste typischer Eingangshallen betraten sie einen goldfarbenen Salon voll von schimmernden Spiegeln und dem Geplapper eingesperrter Affen und Papageien. Hinter dem Salon tat sich ein verwilderter Garten auf, in dem sich zwischen golden bemalten Statuen weiße Pfauen, reinrassige Windhunde und ein halbzahmer Gepard tummelten. Kellner in vielfarbigem Brokat offerierten Champagnerflöten, eine schwarze Jazzband spielte Ragtime und Tango, und die Welt, die Luisa in jener Nacht in ihrem Palazzo erschuf, war ein ebenso illustrer Schmelztiegel von Ost und West wie die Geschichte der Stadt Venedig selbst.
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Luisas Welt war grundverschieden von der Vision, die der Familie Venier vorschwebte, als sie den Palazzo Mitte des 18. Jahrhunderts in Auftrag gab. Die Veniers gehörten zu den bedeutenden Dynastien Venedigs. Ihre Ahnenreihe reichte zurück bis zu den Kaisern Valerian und Gallienus, die im Rom des dritten Jahrhunderts geherrscht hatten, und sie zählten bereits zu den Bewohnern der Stadt, als diese wenig mehr war als ein unsicherer insularer Außenposten, den man Schlamm, Sumpf und Meer abgetrotzt hatte.[1]
3 Der Entwurf für den Palazzo, Mitte des 18. Jahrhunderts: ein Denkmal für die stolze Venier-Dynastie.
In dem Maß, wie Venedig sich zu einer mächtigen Republik entwickelte, gewannen auch die Veniers an Einfluss. Ihre Familie gehörte zum eng verwobenen Kreis jener, deren Name im Goldenen Buch der Nobilität verzeichnet war. Das berechtigte sie dazu, hohe Ämter zu bekleiden, und sie stellten über die Jahrhunderte Dogen, Prokuratoren, Erzbischöfe, Admiräle und Konsuln. Den Höhepunkt ihres Ruhms erreichten sie 1571, als ihr bedeutendster Patriarch, der Admiral Sebastiano Venier, die venezianische Flotte zu einem denkwürdigen Sieg über die Türken führte. Der Admiral war bei der Schlacht von Lepanto bereits fünfundsiebzig Jahre alt, musste wegen seiner schlimmen Hühneraugen in Schlappen kämpfen und war zu schwach, um seine Arkebuse zu laden. Trotzdem war es sein Beschuss, der die ersten Opfer unter den Türken forderte; sein Mut sprang auf die gesamte Flotte über, sodass sie schließlich den Sieg errang. Die dankbare Stadt machte den Admiral zu ihrem Helden, Tintoretto porträtierte ihn – als weisen silberhaarigen Krieger in schimmernder Rüstung –, und er wurde einstimmig zum Dogen gewählt.
Als Händler waren die Veniers womöglich noch erfolgreicher und häuften sowohl innerhalb wie außerhalb der Stadt Reichtümer an. Und wenn Gerüchte kursierten, bei einigen ihrer Unternehmungen sei Korruption im Spiel oder Schiffe der Veniers seien an den Rändern des venezianischen Reichs in illegale Piratenmanöver verstrickt, so besaßen sie Geld genug, um ihren Ruf wiederherzustellen. Eine wachsende Zahl von Bauwerken, Kirchen, Straßen und Plätzen kündete vom Ruhm der Veniers in ganz Venedig, so auch der alte, mit Türmen versehene Palazzo am Dorsoduro-Ufer des Canal Grande, der ihnen seit der Mitte des 14. Jahrhunderts als Hauptwohnsitz diente.
1749 war der Palazzo unterteilt worden, um Platz für weitere Zweige der Familie zu schaffen, und Nicolò Venier und sein Bruder schickten sich an, auch das unbebaute Nachbargrundstück zu übernehmen. Der Architekt Lorenzo Boschetti wurde beauftragt, ein neues, modernes Gebäude zu entwerfen, das dem Stolz der Veniers bestmöglichen Ausdruck verlieh: ein fünfstöckiger, neoklassizistischer Palazzo aus Stein mit Erdgeschoss, Mezzanin, zwei piani nobili und einem Dachgeschoss. Es sollte nicht nur eines der höchsten Wohnhäuser in diesem Abschnitt des Kanals werden, sondern auch das breiteste.
Der Familie war klar, dass sie zwei, wenn nicht gar drei Jahrzehnte würde warten müssen, bis ihre Vision verwirklicht wäre. Gleich zu Beginn gab es eine Verzögerung – aus unbekannten Gründen legte Boschetti das Projekt in die Hände eines jüngeren Architekten, Domenico Rizzi, und erst 1752 konnte mit dem Bau der Fundamente begonnen werden. Wegen des sumpfigen Untergrunds war schon das ein schwieriges Unterfangen: Ein Wald von schlanken Pinienstämmen musste tief in den venezianischen Schlamm gerammt werden, um die dünne Holzplattform und den Unterbau aus Ziegeln zu tragen, auf denen das Gebäude errichtet werden konnte. So mancher aus dem Heer der Arbeiter, die auf der Baustelle den sommerlichen Moskitoschwärmen, dem herbstlichen Hochwasser und dem feuchten Winternebel trotzten, sollte die Vollendung des Gebäudes nicht erleben. Die Nachbarn von gegenüber, die Familie Corner, beobachteten indes vom anderen Kanalufer aus den Fortgang der Bauarbeiten mit Argwohn und Missgunst. Ihr Palazzo, in der Stadt als die Ca' Grande bekannt, war bislang der prächtigste in der Gegend gewesen, doch während der Palazzo der Veniers langsam über seine Fundamente hinauswuchs, wurde ihnen klar, dass sie von einem Gebäude von noch anmaßenderen Dimensionen in den Schatten gestellt werden würden.
Der Stolz der Familie Corner ebenso wie ihr Ausblick auf Venedig waren bedroht; sie bombardierten den Stadtrat mit Eingaben, das Bauvorhaben der Veniers solle verkleinert oder sogar ganz eingestellt werden. Die Arbeiten wurden dennoch fortgesetzt, bis der vordere Teil von Souterrain und Erdgeschoss fast fertig war. Die vier Säulen, die später den dreibogigen Portikus bilden sollten, standen bereits, und aus dem Sockel des Gebäudes ragten acht...