Einleitung
Die Zeit, die wir mit Vorlesen verbringen, ist eine ganz besondere Zeit. Es geht eine wundersame Alchemie vor sich, wenn ein Mensch einem anderen Menschen vorliest, sie verwandelt gewöhnliche Alltagsdinge – ein Buch, eine Stimme, ein Sofa, ein bisschen Zeit – in einen berückenden Treibstoff für Herz, Geist und Fantasie.
»Wenn uns jemand, den wir lieben, etwas vorliest, dann legen wir unseren Schutzpanzer ab«, sagte die Autorin Kate DiCamillo einmal zu mir. »Wir schließen ein Bündnis in einer Höhle aus Wärme und Licht.«1
Da hat sie vollkommen recht. Neueste Erkenntnisse aus Gehirn- und Verhaltensforschung geben uns inzwischen auch erste Einblicke, warum das so ist. Dass diese Entdeckungen ans Licht kommen, während wir gerade einen Paradigmenwechsel in unserer allgemeinen Lebensweise erleben, ist dabei kein Zufall. Denn die Technologien, mit denen wir die Funktionsweise des menschlichen Gehirns untersuchen können, sind im selben Zuge entstanden wie die Technologien, die unser Hirn verblüffen, verwirren und offenbar sogar verformen. Während unsere Kultur gerade »die große Isolierung«2 vollzieht – wie der Titel eines Buchs von Catherine Steiner-Adair suggeriert –, ringen viele von uns mit dem Einfluss, den Bildschirme und Geräte auf unser Leben haben. Auf der einen Seite verbessern sie es, auf der anderen fällt es uns immer schwerer, uns zu konzentrieren, zu behalten, was wir gesehen und gelesen haben, und sind wir selbst dann, wenn wir mit unseren Liebsten zusammen sind, erschreckend häufig nur noch halb anwesend. In diesem Zeitalter der Zerstreuung müssen wir dringend überdenken, was das Vorlesen für uns sein und leisten kann. Denn es ist nicht einfach nur ein netter, nostalgischer Zeitvertreib, auf den wir ebenso gut verzichten könnten. Wir müssen es endlich als einen gestaltenden, ja als einen gegenkulturellen Akt begreifen.
Für Babys und Kleinkinder mit ihrem rasant wachsenden Gehirn gibt es schlicht und einfach nichts Besseres. Deshalb widme ich das Gros dieses Buches den jungen Menschen. Sie reagieren auf die direkteste Art und Weise, wenn jemand ihnen vorliest, und sind daher auch ein besonders beliebtes Forschungsobjekt. Wir werden sehen, dass die tiefen Hirnnetzwerke des Kindes stimuliert werden, wenn es Geschichten hört und dabei Bilder ansieht, wodurch eine optimale kognitive Entwicklung gefördert wird. Außerdem entwickelt das Kind bei diesem geselligen Erlebnis Empathie, wodurch wiederum sein Spracherwerb drastisch beschleunigt wird, sodass es bei der Einschulung einen Vorsprung vor seinen Mitschülern hat. Der Lohn des frühen Vorlesens ist erstaunlich vielfältig: Kleinkinder, denen viele Geschichten vorgelesen wurden, entwickeln später stärkere Bindungen, können sich besser konzentrieren, sind emotional belastbarer und können sich besser beherrschen. Das ist inzwischen wissenschaftlich so gut belegt, dass Sozialforscher das Vorlesen als einen der wichtigsten Faktoren für die Zukunftsperspektiven eines Kindes ansehen.
Es wäre jedoch falsch, das Vorlesen auf die Kindheit zu beschränken. Der zutiefst menschliche Austausch, der sich dabei vollzieht, ist menschlich im besten Sinne, das heißt das Vergnügen und die Wohltaten des Vorlesens stehen uns allen offen. Mögen auch Jugendliche und Erwachsene, denen vorgelesen wird – oder die selbst lesen –, für die Wissenschaft weniger interessant sein, steht indes nicht in Zweifel, dass sie geistig, emotional, literarisch und sogar spirituell davon profitieren. Für den ermatteten Menschen in mittleren Jahren, dessen Aufmerksamkeit in alle Richtungen gezerrt wird, ist das Vorlesen wie ein lindernder Balsam für die Seele. Für Ältere in späteren Lebensjahren hat es eine so tröstliche und belebende Wirkung, dass man es fast für ein Stärkungsmittel oder gar für Medizin halten könnte.
Es gibt viel zu tun, und wir haben keine Zeit zu verlieren. In unserem technischen Zeitalter können wir alle von den Vorzügen des Vorlesens profitieren – für unsere Kinder aber ist es von höchster Dringlichkeit. Viele junge Menschen verbringen bis zu neun Stunden am Tag vor einem Bildschirm. Sie sind umgeben von Technologien – die in ihr Leben eindringen, ihre Aufmerksamkeit an sich reißen, ihre Hände und Augen vereinnahmen –, und sie brauchen Erwachsene in ihrem Leben, die ihnen nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Vereinnahmung Bücher vorlesen.
Wir haben durch die kulturelle Nutzung des Internets einiges gewonnen und einiges verloren. Das Vorlesen kann uns zurückgeben, was uns die Technik genommen hat. Wo Bildschirme Familien auseinanderbringen, da jeder in seinem eigenen virtuellen Raum sitzt, kann das gemeinsame Lesen einander wieder näherbringen. Wenn wir mit einem Buch und einem oder zwei Gefährten auf dem Sofa sitzen, gelangen wir in das Reich der Fantasie und genießen die Wärme der körperlichen Nähe. Kinder, die mit Ruhe und Muße die Illustrationen in einem Bilderbuch betrachten, lernen die Grammatik der bildenden Kunst auf eine Weise, wie sie mit bewegten, springenden Bildern gar nicht möglich ist. Wo die unendlichen Möglichkeiten des Touchscreens Zerfahrenheit in uns auslösen, fesselt eine vorgelesene Geschichte unseren Geist auf eine tiefe, nachhaltige Weise. Mithilfe der Sprache, die Babys in den Geschichten hören, können sie das sprachliche Gerüst bauen, das sie beim Sprechen ihrer ersten Wörter benötigen, und Kleinkinder das flüssigere Sprechen üben. Wenn sie älter werden, bringen ihnen vorgelesene Romane komplexere Sätze und Erzählungen nahe, die ihnen ansonsten vorenthalten blieben. Beim Vorlesen baden Kinder jeden Alters in einem Fluss aus Worten, Bildern und Satzrhythmen, den sie nirgendwo sonst finden würden. All das führt bei Kindern und Jugendlichen wie auch bei Erwachsenen zu Freude, Teilhabe und einer tiefen emotionalen Bindung. Das Vorlesen ist die vielleicht günstigste und effektivste Methode, um unserer Familie und unserer Kultur als Ganzes etwas Gutes zu tun.
Die verzauberte Stunde ist ein Buch für alle, die Bücher, Geschichten, Kunst und Sprache mögen. Für alle, die Babys und Kleinkindern den bestmöglichen Start ins Leben bieten möchten, die sich um den zarten Erstklässler ebenso wie um den empfindsamen, wissbegierigen Jugendlichen sorgen und sich nach einer Begegnung mit Literatur sehnen, die die »Watte des täglichen Lebens«3 durchbricht, wie Virginia Woolf es einmal formuliert hat. Es ist für alle, die das Vorlesen noch nie ausprobiert haben, und für alle, die es seit Jahren praktizieren. Aber zuallererst ist es vielleicht für jene, die beklagen, dass in einer Welt der lärmenden Nichtigkeiten, der Fesseln der Technik und der Dauerbeschallung mit den neusten Nachrichten die emotionalen Beziehungen abstumpfen und jede Gedankenklarheit verloren geht.
Auf diesen Seiten geht es um ein Gefesseltsein ganz anderer Art, durch eine höchst bescheidene Tätigkeit: Ein Mensch liest einem anderen etwas vor – ob nun ein Lehrer seiner Klasse, eine Mutter ihren Kindern, ein Mann seiner Frau oder ein Ehrenamtlicher dem Rettungshund. Der Vorgang ist denkbar simpel, seine Auswirkungen dagegen vielfältig und wundervoll. Sie werde ich Ihnen in den folgenden Kapiteln darlegen. Zusammen können wir uns ansehen, was Bücher für die Entwicklung eines Kindes bedeuten und warum Bilderbücher für die optimale Entfaltung eines Kleinkinds besser sind als jede Technologie und jedes Spielzeug. Wir reisen zurück in eine Epoche, in der Lesen gleichbedeutend war mit lautem Vorlesen, um einen Eindruck davon zu bekommen, wie Stimme und Schrift historisch zusammenhängen. Auch um Hörbücher und Podcasts wird es in diesem Buch gehen. Anschließend erkunden wir die ungeheure Wirkmacht des gesprochenen Wortes bei der Vermittlung von Sprache, Grammatik und Syntax und wie es den Zuhörer von den Beschränkungen durch Raum und Zeit befreit. Die vorlesende Stimme ist an Tausenden knisternden Kaminfeuern eine stille Quelle der Unterhaltung gewesen, und sie ist eine Brücke zwischen den Generationen. Das Vorlesen diente – und dient – auf sehr handfeste Weise als Fluchthelfer aus Unwissenheit, Leid und Sklaverei. Es hilft dem Zuhörer herauszufinden, was ihn bewegt, es weckt sein Bewusstsein für Schönheit und Kunst und gibt jungen Menschen das Rüstzeug an die Hand, um ihr Potential als offenherzige, neugierige, kultivierte Erwachsene auszuschöpfen.
Meine stille...