1.
Unser Bild von Jesus
Unser Bild von Jesus ist unvollständig. Es wurde einseitig geprägt und religiös verfälscht. Es wurde oft missbraucht, spirituell vergewaltigt. Es wurde dazu genutzt, Macht zu vergrößern und Menschen zu kontrollieren. Menschen wurden in Jesu Namen klein- und stillgehalten. Gläubige wurden ruhiggestellt, regelrecht »eingeschläfert« und »wachtot« gemacht.
Deshalb muss dieses Bild gesprengt werden. Es muss zerstört und neu gemalt werden. Es muss eine neue Gestalt bekommen und vervollständigt werden. Denn erst dann ist es richtig und bewirkt, was es bewirken soll. Es soll uns verstören, herausfordern, verändern. Es soll uns Kraft geben, beflügeln und anfeuern. Er, Jesus, soll uns als Vorbild dienen und unser Denken wieder neu beeinflussen.
Denn dieser Jesus war anders. Er war ein Provokateur, der sich mit den Mächtigen der Welt anlegte. Mit seinen Worten und Taten hat er die religiöse Elite gegen sich aufgebracht. Er kritisierte öffentlich, mit scharfen und harten Worten. So gar nicht liebevoll und überhaupt nicht diplomatisch.
Er war nie p.c. (politisch korrekt). Er ging nie Kompromisse ein. Auf Nachfragen reagierte er ungehalten. Seine Kritik tat so weh, dass man ihn töten wollte. Er musste aus dem Weg geräumt werden. Man hat ihn schließlich umgebracht, vor aller Augen hingerichtet.
Jesus Radikalität kannte keine Grenzen. Er setzte alles auf eine Karte. Sein Leben bestand aus Schwarz oder Weiß. Was er sagte, meinte er. Sein Wort war im Einklang mit seinen Taten. Seine Sätze hatten Sprengkraft. Bis heute können wir ihren Knall noch wahrnehmen, wie ein Echo aus der Urzeit, wie eine Schallwelle aus dem universellen Über-Ich. Sie verfolgt uns – leise, aber unnachgiebig.
Seine Worte kritisieren, fordern uns heraus, ermutigen uns. Niemand wurde so oft zitiert und nachhaltig studiert wie er.
Doch sehen wir diesen radikalen Jesus überhaupt? Nehmen wir ihn heute so wahr, wie er war? Oder haben wir ihn nur noch als Baby im Blick? Es liegt in einer Krippe bei schummerigem Lagerfeuerlicht. Ein Esel steht am Rand und kaut Stroh. Mehrere seltsam gekleidete Männer schauen das Neugeborene an. Weihrauchgeruch. Englein singen im Hintergrund. Es lächelt. Sie lächeln. Alle lächeln. Über dem Kopf des Kleinen glänzt ein strahlender Ring. Weihnachtlich.
Erstes Jesusbild: das Baby
Dies ist das erste Bild, das viele Menschen vor ihrem inneren Auge sehen, wenn sie an Jesus denken: das Christkind. Es ist der erste Eindruck, den wir von ihm bekommen. Dieses Bild saugen wir schon mit der Muttermilch auf. Ich weiß noch, wie ich als Sechsjähriger mit meinen Eltern eine Weihnachtskrippe gebastelt habe. Da lag es nun, in Windeln gewickelt in einer Krippe. Wie niedlich. Wie süß. Das Jesusbaby.
Zweites Jesusbild: der Erlöser
Jesus sitzt auf einem Berg im Schneidersitz. Männer in braunen oder beigen, bodenlangen Hemden hocken um ihn herum. Auch Frauen sind da. In der rechten Hand hält der Messias ein Fladenbrot und in der anderen einen Fisch. Es sind Tausende, auch Kinder. Sie haben Hunger. Sie sind Zeugen. Es steht kurz bevor: das große Vermehrungswunder. Vielleicht ist das sogar noch die spannendste Geschichte, die wir aus der Bibel kennen. Sie wurde uns im Kindergottesdienst erzählt. Rauf und runter. Immer und immer wieder.
Drittes Jesusbild: der Gekreuzigte
Das dritte Bild ist das des Gekreuzigten. Jesus hängt blutverschmiert an einem Kreuz. Jede Hand ist von einem Nagel durchbohrt. Leidend blickt er auf uns herab. In seiner Seite klafft eine Wunde, auf seinem Kopf thront ein Kranz aus Dornenzweigen. Die Spitzen der Dornen drücken sich in sein Gesicht, aus den Händen und Füßen tropft Blut. Um ihn herum weinende Frauen, dunkle Wolken, ein Donner im Hintergrund. Es regnet. So hängt er in fast allen Kirchen. So können wir ihn täglich sehen. Der sterbende Jesus am Kreuz. Schaurig, aber schön.
Das sind die Bilder, die uns durch den Kopf schwirren, wenn wir ihn uns vorstellen. Den Gottessohn. Den Christus. Diesen Jesus. Den Mann, der die weltweit größte Religion gegründet hat. 2,2 Milliarden Menschen glauben an ihn. Sie gehen mehr oder minder regelmäßig in eine Kirche. Sie beten ihn an. Sie nennen sich nach ihm, nämlich »Christen«.
Sie glauben an den Mann, der unser Denken wie kein anderer in der westlichen Welt beeinflusst hat. Er hat unsere Werte über viele Generationen hinweg immer wieder neu hinterfragt und verortet. »Segnet, die euch fluchen.« – »Und wer dir auf die rechte Wange haut, dem halte die linke auch noch hin.« – »Geben ist seliger als nehmen.«
Es sind hohe Ansprüche, die er an sich selbst und an uns stellt. Und wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben: Das meiste von dem, was er von uns Menschen fordert, tun wir nicht. Sind Jesu Vorstellungen vom Leben zu abgehoben? Oder haben wir ihn möglicherweise falsch verstanden? In seinem Namen wurden blutige Kriege geführt und Menschen gefoltert. Das zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. In seinem Namen wurden im Mittelalter Mediziner, Magier und Hexen bei lebendigem Leibe verbrannt. In seinem Namen haben beide großen Kirchen im Dritten Reich erst die Waffen der Nazis gesegnet und dann die Bomben der Amerikaner. Welchen Teil des Jesusworts »Liebe deinen Nächsten« haben seine Anhänger dabei wohl nicht verstanden?
Seine Religion hat viel Gutes bewirkt. Das ist unbestritten: Sie appelliert an Soziales Denken, Fürsorge für Arme und Kranke. Das ist Jesu Vermächtnis. Und doch wurden in seinem Namen Menschen auch missbraucht, vergewaltigt, verführt, verletzt und vernichtet.
Viel wurde über ihn geschrieben. Unzählige Bücher stehen in den Bibliotheken dieser Welt. Benedikt, der erste deutsche Papst der Neuzeit, hat ihm eine Enzyklopädie gewidmet. Tausende Seiten, drei Bände, ein weiterer wird folgen. Wer hat sie gelesen, und wer hat sie verstanden? Unzählige Bilder wurden von ihm gemalt, von Rubens bis Rembrandt, von van Gogh bis Versace. Man hat versucht, ihn auf diese Weise zu begreifen und sichtbar werden zu lassen. Viel Schönes ist dabei entstanden und viel Verstörendes.
Auch die Musik hat sich mit Jesus beschäftigt, von Bach bis Beethoven, von Techno bis House. Rockbands haben sich nach ihm benannt und Heavy-Metal-Bands nach seinem Gegner. Ganze Arien, Opern und natürlich Choräle erzählen von seinem Leben.
Der historische Jesus füllt Geschichtsbücher. Sein Leben bietet unendlich viel Gesprächsstoff. Was hat er getragen? Hatte er einen Bart? Wie hat er gesprochen? Was hat er gegessen? War er verheiratet? War er ein Prophet? Hat er wirklich jeden geheilt? Wir versuchen, dem wahren Bild Jesu näherzukommen. Wir versuchen, ihn zu begreifen.
Und doch scheint uns dieser Jesus bei aller Nahbarkeit auch immer fern zu bleiben. Ein umfassendes Bild, das ihn in all seinen Facetten zeigt, kann es gar nicht geben.
Denn dieses Bild verändert sich mit den Menschen und damit, was sie Neues über ihn erfahren. Es ändert seine Farbe im Lichte neuer Erkenntnisse der Theologie. Es unterliegt einer Art Evolution.
Einen Menschensohn, so nannte sich Jesus selbst. Es ist ein Begriff, der im Judentum vorbelastet ist, denn Juden verbinden damit eine ganz konkrete Erwartung. Der Menschensohn sollte alles gut werden lassen. Er sollte die Verheißungen der alten Propheten erfüllen. Mit ihm sollte eine neue Zeit anbrechen. Doch ist das passiert?
Die wichtigere Frage für uns ist aber: Haben wir in all dem, was über Jesus geschrieben, geforscht, gemalt oder gesungen wurde, vielleicht etwas vergessen? Eine Seite an ihm, die wir vielleicht gern übersehen? Und ist diese andere Seite vielleicht sogar die entscheidende?
In Vergessenheit geraten: Jesus als »Freak«
Damit meine ich den Freak Jesus: den Jesus, der uns alle überrascht und provoziert, weil er einen völlig anderen Blickwinkel auf das Leben hat. Gibt es vielleicht sogar eine Seite, die uns befreien könnte? Befreien von dem religiösen Druck, der drückenden Moral, der Angst vor dem Leben?
Diese Frage habe ich mir gestellt und unter diesem Blickwinkel die Schriften neu studiert. Dieser vergessene Jesus ist Thema meines Buches. Der Jesus, der uns aus dem Gefängnis unserer Religion befreit.
Machen Sie sich auf neue Bilder von Jesus gefasst. Die nächsten Seiten werden provozieren. Sie werden verstören. Sie werden an Glaubensvorstellungen rütteln. Vermutlich werden sich einige von Ihnen über diesen Jesus ärgern. Trotzdem ist er da. Er wird uns so im Neuen Testament geschildert. Wir müssen nur genau hinschauen.
Und wenn sich jemand über diesen Jesus ärgert, wäre das so schlimm? Ich denke, nein. Ganz im Gegenteil: Ein Jesus, der nicht provoziert, ist wie das Open-Air-Konzert der Heavy-Metal-Fans in Wacken ohne Headbanger und Musik. Die Welt in Frage zu stellen, das ist seine Mission. Und genau deswegen haben sich Menschen jahrhundertelang über ihn aufgeregt. Und Jesus genoss es, zu polarisieren. Er nannte das »salzig sein«.
Meine Grundlage für dieses Buch ist die Bibel. Die Schrift, auf der die gesamte christliche Religion aufbaut. Aus dieser Schrift wurden immer wieder Passagen ausgeblendet, oder sie wurden nicht stark genug gewichtet. Warum eigentlich? Weil sie nicht in die Moralvorstellungen der jeweiligen Zeit passten? Weil man sie für unrealistisch oder sogar irre hielt? Oder weil man sie einfach nicht verstand?
Die Kirchen schrumpfen. Nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten westlichen Welt. Diesen Trend beobachten alle Christen natürlich mit wachsender Sorge. Ob es die evangelische oder katholische Kirche in ihrer...