KAPITEL 1
Semy 1893-1916
Semy Weissmann im Alter von einem Jahr; rechts seine Geburtstagstasse.
Herkunft und Kindheit
Über seine Herkunft sprach er nur ungern. Wenn die Rede doch darauf kam, konnte der sonst stets Höfliche durchaus ungemütlich werden. Eine amerikanische Lokalreporterin sollte dies im Jahre 1968 zu spüren bekommen, als sie ein Interview mit dem damals 75jährigen Dirigenten damit beginnen wollte, dass sie nach seinem Geburtsort fragte. „Das interessiert doch niemand,“ fauchte er, „wo ich geboren wurde, hat absolut keine Bedeutung!“1
Im Grunde hatte er recht, denn von der hessischen Kleinstadt Langen, in der Frieder Weissmann am 23. Januar 1893 das Licht der Welt erblickte, dürfte wohl kaum ein Leser des im US-Staat Connecticut beheimateten Lokalblatts je gehört haben. Ganz abgesehen davon, dass er selbst von dem südlich von Frankfurt am Main auf halber Strecke nach Darmstadt gelegenen Geburtsort Langen nur eine vage Vorstellung hatte. Denn von der Stadt, die heute rund 37.000 Einwohner hat, damals aber nur 4.500 meist evangelische Bewohner zählte, dürfte er nicht mehr wahrgenommen haben, als ihm die Perspektive aus der Kinderwiege ermöglichte. Im November 1894, kaum dass er auf beiden Beinen stehen konnte, lebten er und seine Eltern schon nicht mehr in Langen, sondern in Frankfurt am Main. Hier verbrachte er seine Kindheit und Jugend, und weil ihn diese Stadt mehr als Langen prägte, hatte er auch kein schlechtes Gewissen, sie dem Herausgeber des 1929 erschienenen Deutschen Musiker-Lexikons als Geburtsort zu nennen.2
Bei gleicher Gelegenheit zögerte er auch nicht, sein Geburtsdatum zwei Jahre später anzusetzen, eine Verschleierungstaktik, die er bis ins hohe Alter praktizierte. Der bereits erwähnten amerikanischen Lokalreporterin machte er z. B. weis, er sei mit 21 Jahren promoviert worden und habe im Alter von 27 Jahren die Leitung des Berliner Sinfonie-Orchesters übernommen. Tatsächlich war er jedoch schon 27 Jahre alt, als er die Promotionsurkunde empfing, und gar 38, als er die Leitung des Berliner-Sinfonie Orchesters übernahm.
Nicht zuletzt wegen seines lange bewahrten jugendlichen, sportlichen Aussehens hatte er nie Hemmungen, sich mal um zwei, fünf oder sieben Jahre zu verjüngen. Selbst in seinen Pässen fummelte er am Geburtsjahr herum. Er kam damit stets durch alle Kontrollen, bis zwei Jahre vor seinem Tod ein – natürlich! – deutscher Grenzbeamter in München in seinem amerikanischen Pass die kleine Manipulation an der Endziffer des Geburtsjahrs entdeckte, durch die eine 3 in eine 8 verwandelt worden war. Ein deutscher Beamter konnte das natürlich nicht durchgehen lassen, und fast wäre der kleine alte Mann, der von seiner Freundin, der holländischen Malerin Sylvia Willink-Quiël, gestützt werden musste, als krimineller Urkundenfälscher festgenommen worden, hätte sie nicht durch gewaltige Überredungskünste und Bekundungen tiefster Reue den Grenzer so weit bringen können, dass er beide passieren ließ.
Kann man die Manipulationen am Geburtsjahr noch als eitlen Spleen abtun, so handelte es sich bei dem Vornamen Frieder bzw. Friedrich, den er sich ab etwa 1916 zulegte, doch um eine schwererwiegende Eigenmächtigkeit. Laut der am 25. Januar 1893 ausgefertigten Geburtsurkunde hatten ihm seine Eltern einen anderen Vornamen gegeben. Demnach war an diesem Tag der dem diensthabenden Standesbeamten Dröll „der Persönlichkeit nach“ bekannte „iraelitische Religionslehrer Isidor Weißmann, wohnhaft zu Langen, israelitischer Religion“ im Langener Rathaus erschienen und hatte zu Protokoll gegeben, „daß von der Auguste Weißmann, geborenen Löb, seiner Ehefrau, israelitischer Religion, wohnhaft bei ihm, zu Langen, in seiner Wohnung, am dreiundzwanzigsten Januar des Jahres tausend acht hundert neunzig und drei, Nachmittags um drei Uhr ein Kind männlichen Geschlechts geboren worden sei, welches den Vornamen Samuel, erhalten habe.“3
Den Vornamen Samuel wollte der neue Erdenbürger schon bald nach seiner Volljährigkeit nicht mehr beibehalten. Er hatte ihn zuvor auch kaum in der standesamtlichen Form, sondern meist in der Variante „Sem(m)y“ getragen. Zum „S.“ verkürzt, blieb er nach 1916 noch eine Weile als Mittelinitial bestehen, bis dieses um 1930 ganz verschwindet und gelegentlich einem dritten Vornamen „Peter“ Platz macht. Die Annahme des sehr „deutsch“ klingenden Vornamens Frieder war zweifellos eine Maske, die sich Weissmann in Zeiten wachsender antisemitischer Vorfälle zum eigenen Schutz aufsetzte, zum anderen aber auch eine Art Befreiungsschlag, der allen, die es anging, seine Emanzipation von dem Judentum, in dem er aufgewachsen war und das seine Eltern repräsentierten, signalisieren sollte.
Die Eltern: Isidor Ignatz Weissmann und Auguste Weissmann geb. Löb um 1935.
Die Eltern
Der Vater Isidor Weissmann stammte nicht aus Langen, sein Elternhaus stand auch nicht in Hessen oder in Deutschland, sondern in Klodawa, etwa achtzig Kilometer nordwestlich von Lodz. Heute der Woiwodschaft Großpolen zugeordnet, gehörte die Stadt damals mit ihren knapp 7.000 Einwohnern zu dem nach dem Wiener Kongress 1815 geschaffenen „Kongresspolen“, das zum Großteil aus dem früheren Herzogtum Warschau bestand. Von Beginn an durch Personalunion eng mit Russland verbunden, hatte „Kongresspolen“ 1832 nach einem gescheiterten Aufstand seine Autonomie verloren und war seitdem bis zum Untergang des Zarenreiches de facto ein russisches Protektorat oder „Gouvernement“. Die Bevölkerung von „Kongresspolen“ hatte infolgedessen nicht die polnische, sondern die russische Staatsbürgerschaft. Auch Isidor Ingnatz Weissmann – so sein voller Name – wurde ein Untertan des russischen Zaren, als er in Klodawa am 25. Januar 1863 geboren wurde.
In Klodawa gab es seit dem 15. Jahrhundert eine jüdische Gemeinde, die 1860 rund 600 Mitglieder hatte, darunter Isidor Weissmanns Vater Szmul Wajsman Wojtowicz, der in deutschen Dokumenten Samuel Weissmann heißt. Er entstammte keiner alteingesessenen Familie, sondern war aus Posen zugezogen. Sein Name taucht erstmals 1852 in Dokumenten der jüdischen Gemeinde Klodawa auf. Genannt wird der damals 41-jährige bei drei Ereignissen: der Geburt eines Sohnes Szlama Enuch und dem Tod einer Tochter Hanna sowie dem Tod seiner – möglicherweise im Kindbett verstorbenen – Ehefrau Ryfka. Aus der Ehe mit Ryfka ging noch ein weiterer Sohn Moziek Jeyec hervor, der 1856 verstarb. Szlama Enuchs weiteres Schicksal ist unbekannt.
Bereits 1853 war Samuel Weissmann eine zweite Ehe mit der vierundzwanzig Jahre jüngeren Brane Surah Neifeld eingegangen, die in deutschen Dokumenten Bertha Neufeld heißt und angeblich einer alten Rabbiner- und Gelehrtenfamilie entstammte. Aus dieser Ehe gingen sechs Kinder hervor, vier Söhne Lejzer (* 1856), Isidor Ignatz (* 1863), Moziek Aron (* 1866) und Jozek Dawid (* 1872) sowie zwei Töchter Estera Gitel (* 1858) und Gene Brama (* 1876). Während Lejzers und Gene Bramas weiteres Schicksal unbekannt ist, wissen wir, dass nicht nur Isidor, sondern auch die Geschwister Estera Gitel, Moziek Aron und Jozek Dawid heirateten.4 Samuel Weissmann starb 1877, seine Witwe Bertha geb. Neufeld lebte 1892, als Isidor heiratete, offenbar noch in Klodawa. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt.
Es waren eher einfache Verhältnisse, in denen die Weissmanns in Klodawa lebten. Aus Gemeindeunterlagen geht hervor, dass der um 1811 geborene Samuel Weissmann den Metzgerberuf ausübte, also zur Fleischversorgung Tiere nach den religionsgesetzlichen Vorschriften der koscheren Schächtung schlachtete. Möglicherweise diente er der jüdischen Gemeinde auch in der Funktion des Schächters, da er später das Amt des Kantors übernahm – eine Doppelfunktion, die in kleinen Gemeinden oft dieselbe Person ausübt.
Über Isidor Weissmanns Kindheit, Jugend und Ausbildung wissen wir nichts Genaues, doch ist anzunehmen, dass er eine höhere Schule besuchte, denn er beherrschte neben Deutsch und Russisch auch die französische Sprache. Spätestens nach dem Stimmbruch und der Herausbildung seiner klangvollen Bassbaritonstimme stand für ihn fest, dass er wie sein Vater Kantor werden würde. Auch sonst in musikalischer Hinsicht begabt, war er ein passabler Klavierspieler, der sich später sogar einen eigenen Flügel zulegte.5
Wohl Anfang der 1880er Jahre verließ Isidor Weissmann sein Elternhaus und seine Geburtsstadt Klodawa, um sein Glück in Deutschland zu suchen. Auslöser seines Entschlusses könnten die nach der fälschlicherweise Juden zugeschriebenen Ermordung des Zaren Alexander II. im März 1881 einsetzenden antijüdischen Repressalien und eine von Südrussland auch nach „Kongresspolen“ überschwappende Welle von Juden-Pogromen gewesen sein, in deren Folge eine regelrechte Massenflucht osteuropäischer Juden nach Westen einsetzte. Welchen Weg er einschlug und wo er in Deutschland Station machte, liegt im Dunkeln. Erst im März 1888 stoßen wir im Großherzogtum Hessen wieder auf seine Spuren und zwar in dem Dorf Erfelden, heute ein Ortsteil von Riedstadt im Kreis Groß-Gerau. Bei der dortigen jüdischen Gemeinde, der damals 50 der insgesamt 866 Dorfbewohner (5,8 Prozent) angehörten,6 versah Isidor Weissmann bis August 1889 die Ämter des Vorbeters und Religionslehrers. Als Religionslehrer bezog er dabei ein jährliches Gehalt von 244 Mark und 48 Pfennigen. Hinzu kamen 50 Mark für seine Dienste als Vorbeter. Außerdem musste ihm die Gemeinde pro Tag ein Kostgeld in Höhe von 70 Pfennigen...