Die Bedeutung gesunder Unternehmen
Vitalität ist der größte Wettbewerbsvorteil für jedes Unternehmen. Der Weg dahin ist leicht, kostet nichts und steht allen offen, und trotzdem ignorieren ihn die meisten Führungskräfte.
Auf dieser Prämisse beruht das Buch – übrigens auch meine Karriere – und ich bin felsenfest davon überzeugt, dass sie zutrifft. Die absurde Formulierung ist Absicht: Wie kann es sein, dass intelligente Wesen etwas links liegen lassen, was ihnen so einfach so viel weiter helfen würde?
Die Antwort bekam ich am 28. Juli 2010.
In aller Bescheidenheit
Im Rahmen meiner Beratungstätigkeit saß ich während einer Vorstandssitzung direkt neben dem Vorstandsvorsitzenden eines Unternehmens. Nicht irgendeines Unternehmens: Es war – und ist – eine der für meine Begriffe vitalsten Organisationen überhaupt, einer der in den zurückliegenden fünfzig Jahren erfolgreichsten US-Riesen. Die Branche leidet unter schwindenden Margen, wild gewordenen Kunden und Arbeitskämpfen, und trotzdem blickt dieses Unternehmen auf eine lange Wachstumsphase und wirtschaftliche Höhenflüge zurück, ganz zu schweigen von Kunden, die ihm wie Fans die Treue halten. Die Mitarbeiter mögen ihren Arbeitgeber, ihre Vorgesetzten und die Kunden. Vergleicht man die Kennziffern mit denen der Konkurrenten, verschlägt einem der Erfolg beinah die Sprache.
Ich saß also neben dem Vorstandsvorsitzenden und lauschte einer Präsentation nach der anderen und verfolgte, welch bemerkenswert ausgefallenen Maßnahmen das Unternehmen so solide machen. Irgendwann raunte ich meinem Nachbarn die halb rhetorisch gemeinte Frage ins Ohr: »Warum zum Kuckuck macht keiner Ihrer Wettbewerber vergleichbare Sachen?«
Er überlegte und wisperte dann fast traurig: »Ehrlich gesagt nehme ich an, sie halten es für unter ihrer Würde.«
Genau das war es.
Drei Vorurteile
Organisatorische Gesundheit (eine Definition folgt in Kürze) bleibt trotz ihrer unbestreitbaren Vorteile häufig ungenutzt, weil sich die Verantwortlichen für zu gut ausgebildet, zu beschäftigt oder zu analytisch halten. Anders gesagt: Sie finden, es liegt unter ihrer Würde.
Man kann es verstehen. Jahrelang waren externe Schulungen mit Kletterparcours oder vertrauensbildenden Maßnahmen in Mode, mit dem Erfolg, dass Führungskräfte um alles, was nach Gefühlsduselei riecht, einen großen Bogen schlagen. In Verbindung mit der Tatsache, dass Unternehmenskultur vielerorts auf Oberflächenphänomene wie schicke Büromöbel, Yogaangebote für die Belegschaft und die Duldung von Hunden am Arbeitsplatz reduziert wurde, muss man sich über zynische, ja herablassende Reaktionen auf den Bereich Organisationsentwicklung nicht wundern.
Aber »Vitalität einer Organisation« bzw. organisatorische Gesundheit geht in eine andere Richtung, die absolut nichts mit Gefühlsduselei zu tun hat und nicht auf Unternehmenskultur reduziert werden kann. Sie ist viel mehr als ein Gewürz oder Sößchen, mit dem man Fleisch und Kartoffeln aufpeppt, sie ist der Teller, auf dem Fleisch und Kartoffeln liegen.
Die Vitalität einer Organisation liefert den Kontext, in dem Strategie, Finanzen, Marketing, Technologie und alles andere ihren Platz finden, und deswegen ist sie der größte Einzelfaktor, der über ihr Wohl und Wehe bestimmt. Entscheidender als Talent. Wichtiger als Wissen. Mehr als Innovation.
Doch um diesen Quell sprudeln zu lassen, müssen Führungskräfte sich zurücknehmen und drei Vorurteile ablegen:
- Bildungsdünkel. Vitalität ist so grundlegend und selbstverständlich, dass die meisten Verantwortlichen darin kein Potenzial für einen darstellbaren Wettbewerbsvorteil sehen. Man braucht für
dieses Ziel weder eine besondere Ausbildung noch überragende Intelligenz; eine durchschnittliche Portion Disziplin, Mut, Ausdauer und gesunder Menschenverstand genügen vollauf. Aber uns wurde beigebracht, Erkennbarkeit im Markt und größere Verbesserungen seien nur durch komplexe Maßnahmen erreichbar, und da fragt sich so mancher Business-School-Absolvent, wozu er jahrelang studiert hat, wenn es auch viel einfacher geht. - Zeitnot. Vitalität verlangt einen langen Atem. Aber meiner Erfahrung nach stehen die meisten Führungskräfte – eingespannt in übervolle Terminkalender und von einer innerbetrieblichen Katastrophe zur nächsten hetzend – unter Adrenalin. Es ist, als hätten sie Angst vor der Entschleunigung, Angst vor den wirklich wichtigen Problemen, die sich ja selten in den Vordergrund drängeln. Bei aller Einfachheit des Konzepts ist das ein großes Hindernis für viele dysfunktionale Organisationen, in denen sich die alte Rennfahrerregel nicht bis zur Spitze herumgesprochen hat:
Wer schnell sein will, muss bremsen können.
- Zahlengläubigkeit. Die Vorteile einer vitalen Organisation sind offensichtlich, aber schwer zu quantifizieren. Vitalität durchdringt alle Unternehmensbereiche, man kann nicht eine Variable als Kennziffer isolieren, um ihre finanziellen Auswirkungen präzise zu belegen und zu messen. Das heißt natürlich nicht, dass es keine finanziellen Auswirkungen gäbe; diese sind sehr real und fassbar, aber es ist eine Frage von Überzeugung und Intuition, und das ist für analytisch denkende Führungskräfte zu viel verlangt.
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Sobald organisatorische Gesundheit richtig verstanden und im richtigen Kontext gesehen wird, wird sie alle anderen Ansätze überflügeln und als größte Chance für Verbesserungen und Wettbewerbsvorteile gefeiert werden. Bestimmt!
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Aber selbst wenn Führungskräfte die genannten Vorurteile ablegen könnten, bleibt ein Grund bestehen, warum die Bedeutung der Vitalität verkannt wird, und das ist zugleich der Grund für dieses Buch: Das Konzept wurde nie als einfache, integrierte und praxisrelevante Lehre ausgearbeitet.
Ich bin überzeugt:
Sobald organisatorische Gesundheit richtig verstanden und im richtigen Kontext gesehen wird, wird sie alle anderen Ansätze überflügeln und als größte Chance für Verbesserungen und Wettbewerbsvorteile gefeiert werden. Bestimmt!
Was ich mit organisatorischer Gesundheit eigentlich meine?
Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, dass Sie noch fragen.
Organisatorische Gesundheit
Im Kern hat Vitalität oder organisatorische Gesundheit mit Integrität zu tun, aber nicht im moralischen oder ethischen Sinn. Eine Organisation ist integer, d. h. gesund, wenn sie solide, konsistent und vollständig ist, also Management, Betriebsabläufe, Strategie und Unternehmenskultur sich gegenseitig ergänzen und ineinandergreifen.
Wenn Ihnen das zu schwammig ist (ich würde das so empfinden), überlegen Sie bitte Folgendes. Wenn ich das Konzept Interessenten oder Klienten vorstelle, zeige ich zunächst Kontraste zu bekannten Vorstellungen auf. Jede Organisation, die ihren Erfolg mehren will, muss über zwei Qualitäten verfügen: Sie muss smart und vital sein.
Smart versus vital
Smarte Organisationen verstehen sich auf die klassischen Disziplinen wie Strategie, Marketing, Finanzen und Technologie, also alle Bereiche, in denen es um Entscheidungen geht.
Direkt nach meinem Berufseinstieg bei der Beratungsfirma Bain & Company habe ich etliche Analyseinstrumente kennengelernt, mit denen wir Klienten zu smarteren, besseren Entscheidungen in diesen Bereichen verhalfen. Smartsein ist entscheidend für den Erfolg eines Unternehmens, keine Frage, nichts in der Welt könnte das Gegenteil beweisen.
Aber es ist nur die eine Seite der Gleichung. Trotzdem beansprucht es fast die ganze Zeit, frisst die meiste Energie, und darüber gerät die andere Seite der Gleichung – Sei vital! – ins Hintertreffen.
Ein vitales Unternehmen erkennt man an bestimmten Merkmalen. In ihm herrschen klare Verhältnisse, es gibt kaum Machtkämpfe, Arbeitsmoral und Produktivität sind hoch und gerade die guten Mitarbeiter wechseln selten zu anderen Arbeitgebern.
Zwei Erfolgsbedingungen
• Strategie | • Kaum Machtkämpfe |
• Marketing | • Klare Verhältnisse |
• Finanzen | • Gute Arbeitsmoral |
• Technologie | • Hohe Produktivität |
Wenn ich diese Liste an die Wand projiziere, höre ich meistens zweierlei: Nervöses, verhaltenes, fast schuldbewusstes Lachen oder Seufzer, so wie Eltern sie ausstoßen, die von einer Familie hören, deren Kinder ohne Widerrede gehorchen. In beiden Fällen steht offenbar derselbe Gedanke dahinter: »Wäre das...