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„ICH WÜRDE EINE LEGENDE WERDEN WOLLEN!”
RAAM, VORBEREITUNG
Es war einer jener Sonnentage, die ich so liebe. Ich spazierte mit meiner Crew an den Strand von Oceanside, ein Getränk in der Hand, und Gänsehaut lief mir den Rücken hinunter. Es war wieder RAAM-Zeit – Zeit, um umzusetzen, wofür ich monatelange trainiert hatte.
In der Ultra-Radsportszene kennt und erkennt man mich wohl, doch auch in Südkalifornien, dort, wo das Race Across America seinen Anfang nimmt, wissen die wenigsten etwas mit mir anzufangen. Wir gingen in ein Radsportgeschäft. „Keine Ahnung, wer du bist“, sagte mir der Verkäufer, als meine Betreuer gegen meinen Willen andeuteten, dass ein besonderer Radfahrer vor ihm stand. Ich musste grinsen und wurde ein bisschen verlegen. „Ich nehme heuer am RAAM teil, das ist dieses lange Radrennen quer durch die ganzen USA. Eigentlich war ich schon öfters dabei und habe sogar schon Mal gewonnen“, untertrieb ich und hoffte, dass mich niemand in ein typisch amerikanisches „Yeah, good job!“-Gespräch verwickelte. So kurz vor dem Start wollte ich am liebsten meinen Frieden und die knappe Vorbereitungszeit mit meinem Team verbringen.
Nein, ich bin nicht berühmt und ich gehe Situationen außerhalb meines Berufslebens, in denen ich erkannt werden könnte, auch gerne aus dem Weg. Und ja, ich gebe zu, dass ich mich in Oceanside recht wohl fühle. Meine Heimat sind Kraubath und Graz, die Steiermark und Österreich. Doch auch Oceanside, Kalifornien und Annapolis, Maryland klingen vertraut. In meiner Welt bin ich kein Star, ich gehe nur meiner Leidenschaft nach, nämlich so richtig weit und möglichst schnell mit dem Rad zu fahren. Dass ich für viele Menschen zu einem Vorbild und einem „Star“ geworden bin, freut mich, aber meine Einstellung zu mir selbst verändert sich dadurch nicht.
Beim RAAM bin ich einer, der die österreichische Tradition fortsetzt und verstärkt. Franz Spilauer war 1988 der erste Sieger, der nicht aus den USA kam. Er inspirierte Wolfgang Fasching, der 1997, 2000 und 2002 gewann. Fasching war mein erstes großes Vorbild. Später kam auch Jure Robic dazu, der eine neue Ära des Ultra-Radsports einleitete. Seit Robics erstem RAAM-Erfolg 2004 kamen alle weiteren Sieger nur mehr aus Slowenien, der Schweiz, Deutschland oder aus Österreich.
Medial erfährt das Race Across America jene Aufmerksamkeit, die es verdient, wobei die Popularität aufgrund der hiesigen Leistungsträger in Mitteleuropa am höchsten ist. Während in Österreich so gut wie jeder Sportinteressierte dieses Rennen kennt, führt es in Amerika ein mediales Schattendasein. Einmal im Jahr, für zwei, vielleicht drei Wochen, rückt es in jenen Regionen und Ländern, aus denen die Teilnehmer kommen, in das Interesse der Öffentlichkeit. Doch auch das ist peripher – von Hauptsportarten wie Fußball, Tennis oder Formel 1 ist das RAAM Lichtjahre entfernt.
Einher geht somit, dass die Ultra-Radsportler, die am RAAM mit dabei sind, nicht jene Aufmerksamkeit erfahren, die sie verdienen.
Das RAAM ist kein bewegungstherapeutischer US-Urlaub, bei dem man Land und Leute kennenlernt und die schönsten Plätze Amerikas abfährt. Ganz im Gegenteil: Das RAAM erfolgreich zu bestreiten bedeutet, sich das gesamte Jahr damit zu beschäftigen. Ich denke und handle, ich schlafe und träume, ich trainiere und esse für das RAAM. Ich lebe das RAAM.
Dieses Rennen ist so viel mehr, als ein paar Worte aussagen können. Die Fakten sind klar: Das Race Across America ist rund viertausendneunhundert Kilometer lang, in denen bis zu fünfzigtausend Höhenmeter eingebettet sind, und es führt vom kalifornischen Oceanside am Pazifik nach Annapolis, Maryland, an den Atlantik. Es wird als das härteste Radrennen der Welt bezeichnet. Nonstop fahren die Teilnehmer quer durch den Kontinent, machen Schlafpausen oder Powernaps, wann sie es wollen oder wenn sie es müssen, und benötigen weniger als zwei Wochen. Wer nach zwölf Tagen nicht im Ziel ist, wird aus der Wertung genommen. Wer es nicht in weniger als zehn Tagen schafft, hat in der Regel keine Chance auf einen Spitzenplatz. Nur ein einziger schaffte die Strecke unter acht Tagen – das war ich in den Jahren 2013 und 2014. Beim RAAM gibt es kein Preisgeld, und das ist auch gut so, weil dadurch die Möglichkeit gehoben wird, ein faires und dopingfreies Rennen zu erleben. Ich wähle bewusst das Wort „Möglichkeit“, denn ganz sicher kann man sich ja nie sein – außer bei einem selbst.
Der Wettbewerb bringt mich jedes Mal an meine körperlichen und geistigen Grenzen. Ich nehme zwischen zwei und vier Kilogramm ab. Dieser Umstand kann auf eine einfache mathematische Rechnung zurückgeführt werden: Ein Kilogramm Körperfett entspricht rund achttausend Kalorien. Pro Tag ergibt sich bei der Nahrungsaufnahme ein Defizit von viertausend Kalorien. Ich verliere im Idealfall alle 24 Stunden ein halbes Kilogramm Gewicht. Wenn es aber nicht gut läuft, kann man sogar Gewicht durch Wassereinlagerungen zulegen – auch das habe ich schon erleben müssen. Trotz des Kaloriendefizits, das durch die Verbrennung der Fettreserven ausgeglichen wird, erhält mein Körper genügend Nahrung, um zu funktionieren. Die fünfzehntausend Kalorien, die ich täglich benötige, entsprächen dreißig Tellern Spaghetti. Konventionelle Nahrungsaufnahme ist somit ein physiologisches Ding der Unmöglichkeit (und würde zudem auch noch wertvolle Zeit kosten – die Uhr läuft nun mal immer mit). Meine Körperkraft wird deshalb durch Flüssignahrung am Leben erhalten, und während der Sportarzt die Aufzeichnungen führt, was ich wann zu mir genommen habe, darf ich höchstens den Geschmack des dickflüssigen Getränks wählen: Schokolade oder Vanille. Menge und Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme werden mir vorgegeben.
Der theoretische Tagesbedarf an Nahrung und Flüssigkeit für einen Tag beim RAAM
Mental herausfordernd ist das RAAM, weil es eine zermürbend monotone Angelegenheit ist. Es geht um nichts anderes, als die Kurbel des Rades stetig und kraftvoll nach unten zu drücken, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Nach 48 Stunden beginnt der Körper, den Schlafmangel zu spüren. Die Leistungsfähigkeit nimmt ab. Der Geist rebelliert, ich erlebe dann Phasen der Orientierungslosigkeit und Halluzinationen beginnen sich in den Windungen des Gehirns breitzumachen.
Einmal sagte ich in einem Interview, dass der Schlüssel zu einem Erfolg beim Race Across America in rauschfreien Funkgeräten läge, und dass ich höchsten Respekt vor den Siegern in den 1980er- und 1990er-Jahren habe, die diese Hilfsmittel noch nicht hatten.
Das Funkgerät ist meine Verbindung zur Außenwelt. Meine Außenwelt bei einem RAAM ist meine Crew, der ich bedingungslos vertraue und deren Weisungen ich diskussionslos Folge leiste. Von außen gesehen bin ich der Protagonist, um den sich alles dreht. Von innen betrachtet bin ich Teil eines Teams, wie der Rennfahrer in der Formel 1, der seine Mechaniker benötigt, die die Boxenstopps planen und durchführen, die Strategie entwickeln und die gesamte Rennsituation im Auge behalten, um wichtige Entscheidungen für den Fahrer zu treffen.
Durch das Terrano Funksystem bin ich ständig mit der Crew verbunden
Das ganze Jahr lang lebe ich das RAAM, ich trainiere hart nach vorgegebenen Plänen und interessiere mich dabei nicht dafür, wer meine härtesten Gegner sein könnten. Ich will in Bestform sein, ich will mit der Gewissheit zum RAAM fahren, das Rennen schnell zu Ende bringen zu können. Was soll daran gut sein, Stunden oder Tage länger als notwendig im Sattel sitzen zu müssen? Was soll es bringen, Zeit an Time Stations zu vergeuden, um Fotos zu schießen und Autogramme zu geben? Ich lebe das RAAM und will dennoch so rasch wie möglich wieder aus dieser Blase raus.
Verschiedene Räder erleichtern mir die Aufgabe: Ich habe ein aerodynamisches Rad für die Passagen in Kansas, wenn es hunderte Kilometer eben dahingeht und mit einem Zeitfahrrad so richtig Tempo gebolzt werden kann. Ich habe die richtige Ausrüstung für die Pässe der Rocky Mountains oder der Berge der Appalachen, nämlich ein wesentlich leichteres Rennrad, auf das ich je nach Streckenabschnitt wechsle. Das Watt ist die Maßeinheit für den Energieumsatz pro Zeitspanne. Beim RAAM erreichte ich auf meiner Rekordfahrt 2014 während 183 Stunden einen Durchschnitt von 164 Watt, was 26,4 Kilometern pro Stunde entspricht.
In meinem Team sind in der Regel zwei Mechaniker mit dabei, ein Sportarzt, ein Physiotherapeut, drei Fahrer für zwei Autos und ein Wohnmobil, ein Fotograf, ein Koch, ein Kameramann und ein Medienbeauftragter. Doch jeder ist wesentlich mehr, als die engste Job-Beschreibung aussagen würde. Wir alle sind „Team Strasser“, haben das gleiche Ziel – nämlich schnellstmöglich von West nach Ost zu fahren –, mit individuellen und übergeordneten Aufgaben. Meine...