1. Einleitung: Europa und der Wiener Kongress
Der 80jährige österreichische Feldmarschall Karl Joseph Fürst von Ligne bemerkte im Herbst 1814, wenige Wochen nach Eröffnung des Kongresses, bei dem offensichtlich Feste, Bälle und musikalische Veranstaltungen im Mittelpunkt des Interesses standen, der »Kongress geht nicht voran, er tanzt« (»Le Congrès ne marche pas, il danse«). Sein vielzitiertes Bonmot wurde zu einem geflügelten Wort. Die Zeitgenossen nahmen dieses nicht so ernst. Sie wussten, dass Ligne wegen seiner engen Kontakte zu Marie-Louise, der Tochter des österreichischen Kaisers und zweiten Frau Napoleons, nicht Teil des Wiener Informationsnetzwerkes war. Die Nachwelt übernahm seinen Ausspruch unreflektiert oder in politisch-ideologischer Absicht. Bis in die Gegenwart scheint dieses Bild vom Wiener Kongress und seiner Arbeit, trotz aller Forschungen, noch immer charakteristisch für seine Bewertung zu sein. Der europapolitische Anlass für den Kongress in Wien als »Friedensvollzugskongress« geht dabei verloren. Verdrängt wird auch seine nachhaltige Bedeutung für die Entwicklung der europäischen Staatengesellschaft, für die notwendige Schaffung einer neues Völkerrecht setzenden europäischen Ordnung, für die Friedenssicherung, für die damit verbundene Stabilität als wichtige Voraussetzung für die Entwicklungschancen Europas im 19. Jahrhundert sowie für das sich zunehmend globalisierende internationale System im langen 19. Jahrhundert. Hinzu kommt die Tatsache, dass der Wiener Kongress im Prozess der Transformation vom Alten Europa des Ancien Régime zum Europa der Moderne und der Ausbildung industrieller Massengesellschaften eine wichtige Scharnierfunktion besaß.
Das Urteil über den Wiener Kongress fällt je nach der ideologischen oder nationalgeschichtlichen Sehweise aus. In Wien sei eine »gegenrevolutionär-konservative« Ordnung geschaffen worden, die schon wenige Jahre später nicht mehr haltbar war und revolutionär in Frage gestellt wurde. Die Entscheidungen von Wien hätten eine liberale und demokratische Fortentwicklung Europas gehemmt und blockiert. Damals sei der Keim für Konflikte im Spannungsfeld von Reform und Modernität und rückwärtsgewandter, konservativer Beharrung gelegt worden. Der Kongress sei bestrebt gewesen, »die Dynastien wieder in ihre alten Rechte einzusetzen und in Deutschland sowie Italien Konföderationen zu schaffen, die unter der Führung der Habsburger Monarchie stehen sollten«, sowie durch die Nachkriegsordnung eine feste Schranke gegen die »fortschrittlichen nationalen und liberalen Bewegungen in Europa« zu setzen (Karl Obermann). Auch die Hauptakteure auf dem Kongress »ließen sich bei der Regelung der staatlichen Verhältnisse in Deutschland von egoistischen Interessen, von dem Streben nach territorialen Gewinnen leiten« (L.-A. Zak). Sie »formten die Karte Europas ohne jegliche Berücksichtigung der Interessen der Völker um«. Die unterschiedlichen Ziele der europäischen und deutschen Mächte und die Furcht vor neuen revolutionären Erschütterungen ließen sie fortschrittliche Prinzipien verwerfen und den »Befreiungskampf« in Deutschland unterdrücken (L.-A. Zak).
Die europäische Neuordnung von 1815 sollte sich vom Europa Napoleons nachhaltig unterscheiden, doch bewahrte es von diesem »strukturell« viel. Wir haben es daher 1815 nicht mit einer »Restauration« zum Europa des Ancien Régime zu tun. Der Charakter des Europa von 1815 hatte »ein Janusgesicht: restaurativ und rücksichtslos modern zugleich«, denn keiner der Architekten der Neuordnung hatte sich dem Zeitgeist entziehen können. »Keiner von ihnen ist ein reiner Konservativer im ideologischen Sinne gewesen« (Werner Conze).
Aus der Perspektive der internationalen Beziehungen und der europäischen Neuordnung nach den langen und entbehrungsreichen Kriegen gegen die Revolution und Napoleon durfte die Hegemonie Napoleons über Europa nicht durch die eines mächtigen Nationalstaats im Herzen Europas abgelöst werden. Stabilität, Sicherheit und Frieden konnten nur durch ein multipolares neues Gleichgewichtssystem von großen, mittleren und kleinen Staaten und Föderationen mit den Großmächten als europäischem Sicherheitsrat geschaffen werden. Dabei wird deutlich, dass die Wiener Ordnung einem systemischen Wandel im Spannungsfeld von Legitimitätsprinzip und nationalem Interesse unterworfen war, der es dem internationalen System der Nachkongresszeit erlaubte, flexibel auf Krisen und Konflikte zu reagieren, ohne die gesamteuropäische Ordnung zu gefährden.
Bei der Neuordnung der europäischen Staatengesellschaft war es 1815 weder möglich noch wünschenswert, zum Status quo ante von 1789 zurückzukehren. Die Veränderungsprozesse zwischen 1789 und 1815 erfassten nahezu alle menschlichen Lebensbereiche und führten zu tiefgreifenden territorialen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen.
Auf dem Wiener Kongress konnte und sollte aus verschiedenen konzeptionellen Überlegungen als Nachfolgeorganisation des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation kein deutscher Nationalstaat, wie ihn der Freiherr vom Stein, Ernst Moritz Arndt, die deutsche Nationalbewegung und andere anstrebten, gegründet werden. Mit dem Ende des Alten Reiches befreiten sich die territorial vergrößerten deutschen Mittel- und Kleinstaaten, die die napoleonische Flurbereinigung überstanden hatten, aus der Zwangsjacke des Alten Reiches und wurden erstmals völkerrechtlich souverän. Sie wurden seit 1806 zu einem berücksichtigenswerten Faktor in der Geschichte des deutschen Mitteleuropa. Mit dem Deutschen Bund wurde 1814/15 eine mitteleuropäische Föderativordnung geschaffen, die den europäischen Interessen und denen der deutschen Staaten am besten entsprachen.
Der Deutsche Bund übernahm in der Wiener Ordnung als Band der föderativen deutschen Nation deutsche und europäische Aufgaben. Er hat bis heute in der deutschen historischen Wahrnehmung als Ergebnis einer an der Gründung des preußisch-deutschen Nationalstaates von 1870/71 orientierten Geschichtspolitik und einer historischen Legitimierung der deutschen Mission Preußens durch die »Reichshistoriographie«, aber auch durch den österreichischen und habsburgischen Reichsgedanken ein negatives Image. Treitschke nannte die Bundesakte des Deutschen Bundes, »die unwürdigste Verfassung, welche je einem großen Kulturvolke von eingeborenen Herrschern auferlegt ward«, und die »Nation nahm das traurige Werk mit unheimlicher Kälte auf«. Die »schattenhafte Bundesverfassung« habe nicht die Kraft besessen, »das Erstarken des einzigen lebendigen deutschen Staates zu hindern – des Staates, der berufen war dereinst ihn selber zu zerstören und diesem unglücklichen Volke eine neue, würdige Ordnung zu schenken« (Heinrich von Treitschke). Hinzu kommt, dass zahlreiche Persönlichkeiten aus der Zeit der Befreiungskriege, beispielsweise Ernst Moritz Arndt mit seinen wuchtigen Versen und Liedern, für die Reichsgründung instrumentalisiert wurden. Auch in der liberalen Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts wurden der Deutsche Bund, die mit ihm verbundenen Erwartungen und seine unwirksamen Institutionen kritisiert. Die Organisationsform des Bundes habe die »hochgespannten Hoffnungen der deutschen Nationalisten und Liberalen« enttäuscht. Es wurde die Chance vertan, einen Deutschen Bund zu schaffen, »in dem Liberalismus, Zivilisation und Humanität eine Stätte hätten finden können«. So konnte die Einheit Deutschlands »später nur noch mit Blut und Eisen zusammengeschweißt werden« (Harold Nicolson).
Der wichtige, auch in seiner Langzeitwirkung wegweisende europäische Kongress, der im Oktober 1814 in der Kaiserstadt Wien zusammentrat und im Juni 1815 mit der Unterzeichnung der Akte des Deutschen Bundes und der Kongressakte zu Ende ging, war sehr viel besser, effektiver, interessanter und zukunftsträchtiger als sein Ruf. Er wirkt über die damals entwickelte Organisationsform für die Struktur und die Abläufe von Konferenzen und die damit verbundene Professionalisierung bis in unsere Gegenwart hinein. Der Wiener Kongress als europäisches Ereignis bedeutete daher sehr viel mehr als nur einen »tanzenden Kongress« und die Atmosphäre rauschender Ballnächte, das Erlebnis von Theateraufführungen, von Opern- und Konzertereignissen, Pomp, Galadiners und anderen Vergnügungen. Er schuf die Grundierung für die internationale Ordnung, das zunächst noch weitgehend eurozentrische internationale System im langen 19. Jahrhundert.
Vom Wiener Kongress gingen wichtige Impulse aus. Er war eine zentrale Wegmarke der europäischen Geschichte. Er schuf grundlegende Rahmenbedingungen, die für die Entwicklungen im langen 19. Jahrhundert Europas Katalysatorwirkung besitzen sollten. Er selbst war Ausdruck einer Zeit der Transformation und leistete einen gewichtigen Beitrag für den Weg Europas von einer Konflikt- zu einer Friedensgemeinschaft. Bemerkenswert im Zusammenhang mit dem Ende der langen Kriegsepoche und dem Wiener Kongress war, dass in dieser Zeit und über diese Zeit – und dies ist für Zeiten der Krise, des Umbruchs und der Neuorientierung charakteristisch – zahlreiche Memoiren veröffentlicht wurden und dass eine interessante, über den engeren Bereich der Politik ausgreifende Diskussion über die zu schaffende Nachkriegsordnung für Europa und die damit verbundene Friedenssicherung geführt wurde. Dabei standen in der öffentlichen Diskussion in Form von namentlich gekennzeichneten oder anonymen Schriften und Aufrufen Forderungen zur Bildung eines nationalen Staates neben Europakonzepten für eine europäische Föderation und eine neue Gleichgewichtsordnung.
Für die Analyse und Bewertung der europäischen Neuordnung von 1814/15 ergibt sich...