Buch I
Im Namen des Glücks:
Der Wohlfahrts-
staat der Könige
Wir beginnen mit einer Analyse jenes über 200 Jahre zurückliegenden Gebildes des fürstlichen »Wohlfahrtsstaates«, wie er in der historischen Literatur allgemein genannt wird.7 Hier empfanden die Herrscher das Bedürfnis, ihre überkommene Stellung mit modernen Gesellschaftstheorien zu legitimieren. Dies lief darauf hinaus, in Theorie und Praxis die Nützlichkeit ihrer Machtfülle für die Interessen der Untertanen darzutun. Damit wird das »Glück« der Gesellschaft (im Anschluss an die altehrwürdige Tradition antiker Staatstheorie) zum letzten Zweck des Staates (vgl. Jellinek 1966, S. 242 ff.). Man spricht darum etwas umständlich von diesem Gebilde auch als »eudämonistischem Polizeistaat« – »Polizei« in dem damals üblichen weiten Sinn (vgl. Chapman 1972; Maier 1989). Was dieses »Glück« ausmacht, lässt sich durch vernünftige Überlegungen erschließen, und diese Vernunft traut sich – in cartesianischer Zuversicht – auch Wissen und Methoden zu, es durch Verwaltungsorganisation herbeizuschaffen. Die überkommenen Institutionen, Konventionen, Einstellungen müssen sich jetzt daran messen lassen, inwieweit sie das von der Obrigkeit definierte Glück der Untertanen fördern oder behindern. Einer der maßgebenden wohlfahrtsstaatlichen Theoretiker jener Zeit, Johann Heinrich Gottlob von Justi, gibt dem Staat des wohlorganisierten Glücks zutreffend Ausdruck, wenn er ihn mit einer Maschine vergleicht: »Ein wohleingerichteter Staat muß vollkommen einer Maschine ähnlich sein, wo alle Räder und Triebwerke auf das genaueste ineinanderpassen, und der Regent muß der Werkmeister, die erste Triebfeder oder die Seele sein, wenn man so sagen kann, die alles in Bewegung setzt« (nach Parry 1974, S. 167) – eine Glückmaximierungsmaschinerie sozusagen.
Zum Experimentierfeld dieser wohlfahrtsstaatlichen Taxis war das Königreich Preußen in besonderem Maße geeignet. Preußen war ein Staatsgebilde von recht willkürlichen Grenzen, zusammengehalten nur durch eine künstliche Staatsideologie und die Loyalität zum Hause Hohenzollern, ein »Rationalstaat«, wie Haffner ihn nennt (1998; vgl. auch Greiffenhagen 1985, S. 13 ff.). Es gab in Preußen keine starken Traditionen von Bürger- oder Bauernfreiheit; der Adel war spätestens durch Friedrich Wilhelm I. bürokratisch und besonders militärisch nutzbar gemacht, seine Selbstregierung bis auf lokale Befugnisse ausgehöhlt. Wie Friedrich der Große sagte: »Sie sind Tyrannen auf ihren Gütern und Sklaven in meinem Dienst« (Roy 2001, S. 107). Auch die einst mächtige Gegenspielerin des Staates, die Kirche, war seit der Reformation politisch und ökonomisch enteignet (vgl. Schubert 1926/27). Der Herrscher wurde in der protestantischen Landeskirche selber zum Pontifex maximus, zum Cäsaropapst. Die protestantischen Theologen seit Luther segneten diese Ordnung ab. Durch die Betonung einer »inneren« Freiheit und innerlichen »Gottseligkeit« gegenüber einer nur »äußeren« Freiheit der Politik und Wirtschaft (Röpke 1948, S. 165 ff.) stärkte die Kirche fortan die Disposition der Untertanen zur Fügsamkeit. Für alle Fragen des öffentlichen Lebens war nur die Obrigkeit zuständig. Sie trug zunächst ein christlich-patriarchalisches Gewand (vgl. Seckendorff [1665] 1976), bis sie dann im Laufe des 18. Jahrhunderts in einen utilitarischen Despotismus überging.
1. Politik als Beglückungslehre
Die Lehrer des Glücks
Christian Wolff, Johann Heinrich Gottlob von Justi und Joseph von Sonnenfels waren führende Theoretiker dieses Staatstyps. Sie sprechen dem Herrscher und seiner Bürokratie mit einer naiven Direktheit, die uns heute erstaunt, eine Pflicht zur Beglückung ihrer Untertanen zu. Besonders typisch schreibt der auch als Poet und Freund des jungen Goethe bekannte Johann Heinrich Jung-Stilling in seinem System der Staatswirtschaft (1792): »Glück ist die Bestimmung des Menschen. Jeder Mensch hat die Pflicht auf sich, sich so glücklich zu machen, als in seinen Kräften steht« (S. 20). Was er als sein Glück definiere, stehe ihm jedoch nicht frei. Es gibt, nach diesem Autor, ein wahres und ein falsches Glück. »Wahre Bedürfnisse sind solche, durch die der Mensch vollkommener wird« (S. 22). Falsche Bedürfnisse – der Hang zur Üppigkeit, zum Luxus, die ungezügelte Selbstsucht – machen die Menschen unvermeidlich unglücklich, weil sie dadurch verarmen, vereinsamen oder verweichlichen. Dies aber könne nicht im Sinne des »allgemeinen Besten« liegen. Damit wird der Weg zur Staatsintervention frei. Die staatliche Gesetzgebung habe »Beglückungsregeln« festzusetzen, dürfe nicht nur physische Sicherheit garantieren, sondern müsse die Untertanen ebenso gegen falsche Bedürfnisse sichern (S. 32). In diesem Sinn wird dann bei Jung-Stilling »Erziehungspolizei« der erste und wichtigste Teil der allgemeinen Aufklärungspolizei (S. 649).
Das Glück oder die allgemeine Wohlfahrt ist nach einem anderen Autor jener Zeit, G. F. Lamprecht (1785), ein Aggregat: die Summe aller Vollkommenheiten, »die die Menschen mit vereinigten Kräften in größerer Anzahl sich erwerben können« (S. 239). Die Kompetenz des Staates, diese Vollkommenheiten durch seine Intervention hervorzubringen, führt dann, wie ein anderer Zeitgenosse, Theodor von Kretschmann, schreibt, in jene »Zuchtanstalt«, die dazu bestimmt sei, »den Menschen mit der Aufopferung all seiner Individualität auf eine höhere Stufe der Entwicklung zu fördern« (zit. nach Hartung 1974, S. 60/61). So erscheint der damalige Wohlfahrtsstaat als »Zwangsanstalt für das Glück der Völker« (nach Gerloff 1937, S. 104).
Worin dieses Glück besteht
Das Glück der genannten Wohlfahrtstheoretiker hat zwei Seiten: eine moralische und eine materielle. Es stellt sich nach ihrer Ansicht in Form von Lebensgenuss und Behaglichkeit unvermeidlich ein, wo die persönliche moralische Voraussetzung gegeben ist. Es ist darum oberster Auftrag der Regierung, »die Bürger in allem Betracht gesitteter, aufgeklärter, gesünder, wohlhabender, sicherer, und es ihnen überhaupt durch allgemeine Anstalten möglich zu machen, diejenigen Notwendigkeiten, Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten des Lebens sich zu verschaffen, die sie sich einzeln würden nicht verschaffen können« (Lamprecht 1785, S. 249). Christian Wolff, ein Lehrer Friedrichs des Großen, sieht das Glück kurz »im Genuß des hinlänglichen Lebensunterhalts, der Ruhe und der Sicherheit« (Wolff [1738] 1975). Ein aufgeklärter badischer Beamter jener Zeit schreibt: »Die Regierung soll nicht nur die jedem nach seiner Art gebührende Notdurft verschaffen (also ein standesgemäßes soziales Existenzminimum garantieren, d. Verf.), sondern auch dessen Nutzen, den Überfluß, die Bequemlichkeit auf die möglichste Art besorgen, folglich zu einem vergnügungsvollen Leben verhelfen« (nach Windelband 1916, S. 111).
2. Der regulierende Staat
Wenn der Staat in dieser Weise für das subjektive Glück seiner Untertanen zuständig ist, wird er sich schließlich jene »landesväterlich«-fürsorgliche Rolle zubilligen müssen, welche die Badische Hofkammerordnung von 1766 in klassischer Weise beschrieben hat: »Unsere fürstliche Hofkammer ist die natürliche Bevormünderin unserer Untertanen. Ihr liegt ob, dieselben von Irrtümern ab und auf die rechte Bahn zu weisen, sie sofort auch gegen ihren Willen zu belehren, wie sie ihren eigenen Haushalt einrichten sollen« (zit. nach Böhle 1940, S. 24).
Christian Wolff macht dann klar, was dies politisch für die Untertanen bedeutet: »Untertanen sollen vor allem gehorchen, da sie nicht imstande sind zu beurteilen, was zu ihrem Besten dient. Sie halten im Gegenteil oft für gut, was ihnen schädlich sein würde. Auch urteilen sie nur danach, ob es ihnen vorteilhaft sei, was befohlen werde oder nicht … man soll demnach der Obrigkeit untertan sein, die Gewalt über uns hat, und eben deswegen, weil sie Gewalt über uns hat. Die Kinder sind gleichergestalt unter der Gewalt ihrer Eltern, und demnach dient die väterliche Gewalt, die Gewalt der Obrigkeit zu erläutern, und sind Obrigkeiten in diesem Stück Vätern ähnlich, und Untertanen sind wie ihre Kinder« (Wolff [1738] 1975, S. 463). Entsprechend formulierte Friedrich der Große einmal, man müsse das Volk »wie ein krankes Kind« behandeln (nach Schlosser, Bd. 3, 1, 1842, S. 329).
So hegt der Wohlfahrtsstaat jener Zeit die ideale Überzeugung, dass der Mensch vervollkommnet werden kann; daraus wächst eine »Ungeduld über dessen Eigensinn und Widerstand gegen das Verbessertwerden«; daraus schließlich »die Sicherheit, daß der Mensch dazu gezwungen werden sollte« (Chapman 1972, S. 177).
Nutzenmaximierung als Staatsaufgabe
Das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl ist, wenn schon nicht das von allen Theoretikern so ausgesprochene, so doch bereits seit den alten Kameralisten praktisch angestrebte Ideal des Staates.8 In diesem Sinne müssen alle Handlungen von Regierung und Untertanen den größtmöglichen Gesamtnutzen bieten. Dieser »Handlungsutilitarismus«9, der sich zutraut, das Glück von jedermann zu bestimmen und auch die Mittel zu kennen, es zu erreichen, muss die Vollmacht beanspruchen, alle Verhaltensmodelle, Traditionen, Sitten und Einstellungen auf ihren Nutzen für die Gesamtheit hin zu untersuchen und eventuell durch entsprechende Anordnungen zu verändern. Die Gesellschaft wird auf den Prüfstand des sozialen Rationalismus...