Kapitel 1
Ein skeptischer Schüler
Die erste Begegnung, die ich betrachten möchte, ist tiefgründig und eindrucksvoll zugleich. Es ist die Begegnung mit einem kritischen Schüler. Es geht darin um die vielleicht grundlegendste aller großen Lebensfragen: Wo sollen wir eigentlich nach Antworten auf unsere großen Fragen suchen und wo besser nicht? So hat diese Begegnung all denen etwas zu sagen, die dem Christentum kritisch gegenüberstehen. Und auch Christen, die sich der Skepsis von Menschen gegenübersehen, die nicht glauben.
Diese Begegnung findet sich gleich nach dem Absatz am Beginn des Johannesevangeliums, den man den „Prolog“ genannt hat. Der französische Philosoph Luc Ferry stellt heraus, dass dieser Prolog ein Wendepunkt in der Geistesgeschichte ist. Die Griechen glaubten, dass das Universum eine rationale und moralische Ordnung habe; sie nannten diese natürliche Ordnung Logos. Für die Griechen lag der Sinn des Lebens darin, diese Ordnung in der Welt zu meditieren und zu erfassen. Ein gut geführtes Leben war für sie ein Leben, das dieser Ordnung entsprach. Der Verfasser des Johannesevangeliums greift nun bewusst auf diesen Begriff Logos zurück und sagt über Jesus:
Am Anfang war das Wort (Logos). Das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott selbst. Von Anfang an war es bei Gott. Alles wurde durch das Wort geschaffen, und nichts ist ohne das Wort geworden … Das Wort wurde Mensch und lebte unter uns. Wir selbst haben seine göttliche Herrlichkeit gesehen … (Johannes 1,1-3.14)
Diese Aussage schlug wie ein Blitz in die Welt der antiken Philosophen ein. Wie die griechischen Philosophen – und anders als viele zeitgenössische – bekräftigt Johannes, dass es für unser Leben ein telos gibt, eine Bestimmung – etwas, wofür wir geschaffen wurden, das wir erkennen und achten müssen, wenn wir gut und frei leben wollen. Er verkündet, dass die Welt nicht das Produkt blinder, zufälliger Kräfte ist; ihre Geschichte ist eben nicht, wie William Shakespeare es ausdrückte, „ein Märchen, erzählt von einem Blödling, voller Klang und Wut, das nichts bedeutet“1.
Aber dann behauptet die Bibel, dass der Sinn des Lebens nicht in einem Prinzip oder einer abstrakten rationalen Struktur liegt, sondern in einer Person, einem konkreten Menschen, der über diese Erde gegangen ist. Ferry bemerkt, dieser Anspruch sei den Philosophen als Verrücktheit erschienen. Aber er führte zu einer Revolution. Wenn das Christentum wahr ist, dann ist das gute Leben nicht zuerst in philosophischem Nachsinnen und intellektuellem Streben zu finden, was an den meisten Menschen dieser Welt vorbeigeht. Vielmehr ist es in der Begegnung mit einer Person zu finden, in einer Beziehung, die für jedermann an jedem Ort und von jedem erdenklichen Hintergrund aus zugänglich ist.
Um uns nun gleich zu zeigen, wie das im wirklichen Leben aussieht, wird Johannes konkret und präsentiert uns Jesus im Gespräch mit einer Gruppe von Schülern. In der Zeit Jesu gab es keine Universitäten; wer etwas lernen wollte, schloss sich einem Lehrer an. Es gab viele spirituelle Lehrer, und es gab viele, die ihnen folgten und ihre Schüler oder Jünger wurden. Der kantigste und vielleicht kämpferischste Lehrer seiner Zeit war wohl Johannes der Täufer. Er war sehr bekannt, hatte viele Jünger und etliche besonders eifrige Schüler. Die Geschichte kennt einige davon: Andreas mit seinem Bruder Petrus und Philippus, der seinen Freund Nathanael mitbrachte. Einige unter den Schülern glaubten bereits, was ihr Lehrer über den kommenden Messias sagte, den er „das Lamm Gottes“ nannte (Johannes 1,29). Aber manche zweifelten auch. Nathanael gehörte zu diesen kritischen Schülern, bis er selbst eine Begegnung mit Jesus Christus hatte.
Als Jesus am nächsten Tag nach Galiläa gehen wollte, traf er unterwegs Philippus. Auch ihn forderte er auf: „Folge mir!“ Philippus stammte wie Andreas und Petrus aus Betsaida. Kurze Zeit später begegnete Philippus Nathanael und erzählte ihm: „Endlich haben wir den gefunden, von dem Mose und die Propheten sprechen. Er heißt Jesus und ist der Sohn von Josef aus Nazareth.“ „Nazareth?“, entgegnete Nathanael. „Was kann von da schon Gutes kommen!“ Doch Philippus antwortete ihm: „Du musst ihn selbst kennenlernen. Komm mit!“
Als Jesus Nathanael erblickte, sagte er: „Hier kommt ein aufrichtiger Mensch, ein wahrer Israelit!“ Nathanael staunte: „Woher kennst du mich?“ Jesus erwiderte: „Noch bevor Philippus dich rief, habe ich dich unter dem Feigenbaum gesehen.“
„Meister, du bist wirklich Gottes Sohn!“, rief Nathanael. „Du bist der König Israels!“ Jesus sagte: „Das glaubst du, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich unter dem Feigenbaum sah. Aber du wirst größere Dinge zu sehen bekommen.“ Und er fuhr fort: „Ich sage euch die Wahrheit: Ihr werdet den Himmel offen und die Engel Gottes hinauf- und herabsteigen sehen zwischen Gott und dem Menschensohn!“ (Johannes 1,43-51)
Mir liegt daran, dass Sie zuerst verstehen, was Nathanaels Problem war. Nathanael ist mindestens ein intellektueller Snob, wenn nicht gar ein scheinheiliger Frömmler. Philippus kommt und sagt zu ihm: „Ich möchte dich mit dem neuen Rabbi bekannt machen; er hat Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit, und er stammt aus Nazareth.“ Nathanael spottet: „Nazareth!?“ Jeder in Jerusalem sah auf die Leute aus Galiläa herab. Diese Haltung ist typisch menschlich. In manchen Wohnvierteln sieht man auf andere Wohnviertel herab: „Da wohnt man doch nicht.“ Und was machen die Leute, die so herablassend behandelt werden? Sie suchen sich andere, auf die sie nun herabschauen können. Und so geht es endlos weiter.
Nathanael war zwar nicht aus Jerusalem, sondern aus einer Ecke Galiläas, aber er fand, er habe das Recht, auf einen Ort wie Nazareth herabzusehen. Nazareth galt als besonders rückständiger und primitiver Flecken in Galiläa. Es gibt sie immer: die richtigen Leute, die smarten Leute, die passenden Leute; und dann gibt es da noch (senken Sie die Stimme) die anderen da. Und die richtige Methode, um den richtigen, smarten, passenden Leuten zu zeigen, dass man einer von ihnen ist, ist es, die Augen zu verdrehen, wenn die falschen Menschen oder die falschen Orte erwähnt werden.
Wir wollen, dass andere uns für fähig und intelligent halten; aber oft versuchen wir diesen Eindruck nicht durch eigene respektvolle und sorgsame Argumentation zu erwerben, sondern durch Gespött und Geringschätzung für andere. Andere sind dann nicht einfach im Irrtum, sondern sie sind rückständig, out, intellektuelle Zwerge. Nathanael konnte nicht glauben, dass jemand aus Nazareth Antworten auf die großen Fragen seiner Zeit haben könnte.
„Du willst mir weismachen, er hat die Antworten – und er kommt aus Nazareth? Ähem … ich bin nicht überzeugt.“ Er verdreht die Augen. „Er kommt wirklich daher? Also ehrlich …“
Wenn Sie eine ähnliche Sicht auf das Christentum haben oder jemanden kennen, der diese Perspektive hat, wäre das keine Überraschung. Heute haben viele Menschen eine ähnliche Meinung über den christlichen Glauben, wie Nathanael sie zu Nazareth hatte. Das Christentum kam damals aus Nazareth, und es kommt immer noch aus Nazareth. Die Leute verdrehen die Augen angesichts ihrer Vorstellung davon, was das Christentum sei und welche Aussagen es darüber macht, wer Christus ist und was er für sie getan hat und tun kann. Die angesagten Leute, die, die es wissen müssen, sagen alle: „Christentum – erzähl mir nichts. Ich bin damit groß geworden. Aber ich hab schon früh gemerkt, das ist nichts für mich. Ich hab mich entschieden.“ Und so kommt Jesus immer noch aus Nazareth.
Wenn das auch Ihre Haltung zum christlichen Glauben ist, habe ich zwei Hinweise für Sie, weil es sein könnte, dass Sie zwei Probleme haben, denen Sie sich stellen sollten. Der erste ist: Diese Art von Geringschätzung ist immer tödlich. Sie tötet absolut jede Kreativität und jede Möglichkeit, ein Problem zu lösen, ganz zu schweigen von jeder Hoffnung auf eine Beziehung. Tara Parker-Pop zählt in ihrem Ehebuch For Better das Augenverdrehen zu den eindeutigsten Anzeichen dafür, dass eine Beziehung ernsthaft gefährdet ist. Eheberater achten darauf, denn es signalisiert Verachtung für den anderen. Eine gelingende Ehe kann viel verkraften: Enttäuschung, Meinungsverschiedenheiten, Schmerz, Frustration. Was sie nicht verkraften kann, ist Geringschätzung. Verachtung tötet buchstäblich die Beziehung.
Ein konkreteres Beispiel: Sie haben Ihren Schlüssel verlegt. Wenn Sie überall dort nachgesehen haben, wo er sein „kann“, und ihn doch nicht gefunden haben, werden Sie anfangen müssen, an Orten zu suchen, wo er „eigentlich nicht sein kann“. Und natürlich werden...