2. AUSGANGSLAGE
Der Zweite Weltkrieg begann nicht wie der Erste Weltkrieg, der mit einem Schlag alle europäischen Großmächte und weitere Kleinstaaten miteinschloss. Er durchlief eine rollende Entwicklung. Ihm war in den 1930er Jahren eine zunehmende Eskalation der politischen Lage vorausgegangen, die in Europa und besonders in Asien bereits kriegsähnliche Zustände hervorgerufen hatte. Im Juli 1937 brach der Krieg zwischen China und Japan offen aus, in den einige Westmächte indirekt involviert waren. Von Mai bis September 1939 kamen militärische Zusammenstöße zwischen japanischen, sowjetischen und mongolischen Truppen in der Mandschurei hinzu. In Europa fing der Krieg im September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen an, dem sich die UdSSR anschloss. Großbritannien und Frankreich reagierten mit der Kriegserklärung an das Deutsche Reich. Italien trat 1940 im Zuge der deutschen Erfolge in den Krieg ein und weitete den Konflikt auf den Balkan und Nordafrika aus. Mit dem deutschen Überfall auf die UdSSR im Juni 1941 erlangte der Krieg eine qualitativ neue Entwicklungsstufe. Darüber hinaus verstärkte sich die alliierte Allianz, der neu auch die UdSSR angehörte. Im Dezember 1941 eröffnete Japan den Krieg gegen die USA und Großbritannien, in den auch Frankreich, Australien, Neuseeland, Indien, die Niederlande und Thailand einbezogen wurden. Die letzte signifikante Neukonstellation erfuhr der Zweite Weltkrieg durch die sowjetische Kriegserklärung an Japan und den Einmarsch in die Mandschurei im August 1945.
Die Frage der Kriegsschuld ist anders als für 1914 eindeutig zu beantworten: Die Hauptschuldigen waren das nationalsozialistische Deutsche Reich und das Kaiserreich Japan, willfährig unterstützt durch verschiedene Staaten, allen voran Italien. Seinen Ursprung fand der Zweite Weltkrieg hingegen in vielfältigen Rahmenbedingungen und unterschiedlichen Entwicklungen. Diese werden offenbar, wenn man die internationale Situation sowie die Interessen und Haltungen der beteiligten Hauptakteure betrachtet und die globale Dimension der Kriegshandlungen berücksichtigt.
2.1. Das Erbe des Ersten Weltkrieges
Der Blick auf die Phase zwischen 1918 und 1939 verdeutlicht, dass der Begriff der Zwischenkriegszeit irreführend ist, da es sich dabei nur bedingt um eine Zeit zwischen zwei Kriegen – um eine Friedenszeit – handelte. Das Ende des Ersten Weltkrieges markierte keineswegs wie in der breiten Öffentlichkeit erhofft den Aufbruch in ein friedlicheres Zeitalter, sondern leitete, teils direkt, in eine Zeit vielfältiger Konflikte und Kriege über. Gleichzeitig hinterließ er mit seinen unermesslichen Schäden und Opfern nicht nur in der breiten Bevölkerung Traumata, Kriegsmüdigkeit und den dezidierten Wunsch nach Frieden. Auch viele Regierungen waren durchdrungen vom Gedanken, einen neuerlichen Krieg um jeden Preis zu verhindern. Der amerikanische Isolationismus oder die britische und französische Appeasementpolitik sind nur vor diesem Hintergrund zu verstehen; Gleiches gilt für die fehlende Kriegsbegeisterung der deutschen Bevölkerung im September 1939. So etablierte sich in den 1920er Jahren eine starke, weite Teile der Bevölkerung erfassende Antikriegs- und Friedensbewegung. Auf staatlicher Ebene sind das System der Pariser Friedenskonferenzen und die Schaffung des Völkerbundes 1919, der Briand-Kellogg-Pakt von 1928, mit dem erstmals der Krieg als politisches Mittel geächtet wurde, oder die internationale Abrüstungskonferenz in Genf von 1932 bis 1934 Ausdruck dafür.
Der Zusammenbruch Russlands, des Deutschen Reiches, Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches brachte neben inneren Unruhen auch neue Staaten hervor, deren Grenzziehungen erneut zu Konflikten Anlass gaben. Der größte dieser Nachkriegskonflikte war der Russische Bürgerkrieg von 1917 bis 1923, bei dem es an den Peripherien auch zu – letztlich erfolglosen – Interventionen verschiedener westlicher Mächte und Japans kam. Die neuen Staaten Finnland, Estland, Litauen und Lettland waren ebenfalls in Kämpfe mit lokalen Bolschewiki involviert, konnten sich – im Gegensatz zur Ukraine – jedoch als eigenständige Staaten behaupten. Im Deutschen Reich brach 1918 die Novemberrevolution aus, die nach heftigen Kämpfen und Aufständen zur Weimarer Republik führte. Österreich-Ungarn zerfiel 1918/19 in die Staaten Österreich, Ungarn und die Tschechoslowakei, Gebiete gingen auch an Italien, Rumänien, Jugoslawien und Polen. In Ungarn endete 1920 ein revolutionärer Bürgerkrieg mit der Invasion rumänischer, tschechoslowakischer sowie serbischer Truppen und dem Sturz der kommunistischen Regierung. Polen führte 1918/19 Kriege gegen Litauen, die Tschechoslowakei und die Ukraine sowie 1920 gegen die sich noch in der Revolution befindende UdSSR.
Die westlichen Großmächte sahen sich nicht nur vom aufkommenden Kommunismus, sondern auch von den Nationalismen in ihren Kolonien herausgefordert. In Syrien war Frankreich mit arabischem Widerstand konfrontiert, der erst im Juli 1920 beendet wurde. In Transjordanien fand sich die Kolonialmacht Großbritannien unverhofft inmitten eines alten Stammeskonfliktes und musste wie zuvor das Osmanische Reich bereits befriedete Gebiete gegen Überfälle der Nomadenstämme verteidigen. Die 1920er Jahre brachten schließlich eine ganze Serie kolonialer Aufstände unterschiedlichster Ursachen mit sich. Widerstand formierte sich in Ägypten, Persien (Iran) und im Irak gegen die britische Herrschaft sowie in Syrien erneut gegen die französische. In Libyen und Spanisch-Marokko kam es zur Erneuerung früherer Aufstände, die sich auch auf Französisch-Marokko ausweiteten (Rifkrieg). Die Kolonialmächte gingen rigoros und – für damalige Verhältnisse – mit massiven militärischen Mitteln dagegen vor, gewillt, ihre Kolonien um jeden Preis zu halten. Französische Truppen beschossen und bombardierten Damaskus 1925/26. Britische Flieger führten auf der Basis ihrer Weltkriegserfahrungen im Irak, Südjemen, in Afghanistan und Britisch-Somaliland die Aufstandsbekämpfung mit teils massiven Bombenschlägen durch (Air Policing) und ersparten sich damit die Entsendung großer Bodenkontingente. Spanische Truppen verursachten im Rifkrieg 1921 bis 1926 durch Einsatz von Senfgas schwere Verluste unter Aufständischen und der Zivilbevölkerung; erst 1927 gelang es, den Widerstand mit französischer Hilfe brutal zu unterdrücken. Gleich erging es den Aufstandsbewegungen in Syrien, in Niederländisch-Indien, Libyen und Italienisch-Somaliland. Anderswo stellten sich auch Rückschläge ein. Nach dem Zerfall des ehemaligen Osmanischen Reiches waren weite Teile davon von Frankreich und Großbritannien besetzt worden. Im griechisch-türkischen Krieg 1919 bis 1923 kämpften die Jungtürken unter Führung von General Mustafa Kemal (Atatürk) gegen die Besatzermächte sowie gegen großgriechische Hegemonieabsichten und armenische Unabhängigkeitsbestrebungen. Türkische Truppen fügten den schlecht ausgerüsteten und versorgten Franzosen 1921 in der Südosttürkei eine schmerzliche Niederlage bei, nahmen im September 1922 Smyrna (İzmir) ein, vertrieben oder ermordeten die griechische und armenische Bevölkerung und besiegten bis Oktober 1922 britische Verbände bei Konstantinopel. Ab diesem Zeitpunkt änderten Großbritannien und Frankreich ihre Kolonialpolitik. Frankreich musste einer Verzettelung seiner Kräfte entgegenwirken und konzentrierte sich darauf, zusammen mit Spanien den Aufstand der Rifkabylen in Marokko niederzuschlagen. Großbritannien wiederum gab sein Engagement in Russland auf und billigte Ägypten 1922 den Status eines unabhängigen Königreichs zu. Bereits 1921 hatten verlustreiche Aufstände im britischen Mandat Mesopotamien (Irak) Großbritannien veranlasst, einen arabischen König einzusetzen. Gleichzeitig unterstützte es auch die politische Erneuerung Persiens (Iran) und den Aufstieg Reza Khans zum Schah. Zudem wurden Schritte in Richtung der Selbstverwaltung Indiens vorbereitet, wo die Unabhängigkeitsbewegung unter Mahatma Gandhi den gewaltlosen Widerstand betrieb, und bestätigte 1928 die Unabhängigkeit Saudi-Arabiens. Innenpolitisch befand sich Großbritannien zudem gegen die paramilitärische Irish Republican Army (IRA) in einem Guerillakrieg ohne kolonialen Hintergrund, der 1921 mit der irischen Unabhängigkeit endete.
Der Blick auf die koloniale Situation der Zwischenkriegszeit zeigt, dass die beiden großen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich nach 1918 schwächelten. Zudem bestimmten die Einsätze zur Sicherung ihrer kolonialen Herrschaft die militärischen Aufgaben und dadurch die zukünftigen militärischen Planungen. Die oft gehörte Kritik, die Westmächte hätten vor 1939 zu wenig gegen einen neuerlichen europäischen Großkrieg getan, verkennt dies. In den 1920er Jahren war dieser noch kaum vorhersehbar, während die Hauptgefahr für die britischen Interessen neben den erwähnten Kolonialunruhen zunächst von der UdSSR ausging. Der Aufstieg des Faschismus/Nationalsozialismus muss auch vor diesem Hintergrund gesehen werden, verfügte er als Gegenbewegung zum Kommunismus zeitweise doch...