Kapitel 3.3, Von der Macht der Bedürfnisse
Jeder Mensch hat Bedürfnisse. Der eine mehr, der andere weniger. Was ist ein Bedürfnis? Ein Bedürfnis ist das Gefühl eines Mangels und der daraus resultierende Wunsch bzw. die Notwendigkeit, diesen Mangel zu beseitigen. Diese Bedürfnisbefriedigung, d.h. die Stillung eines Bedürfnisses, ist eine Grundkategorie der Volkswirtschaft: Ihretwegen wirtschaftet der Mensch. Man kann zwischen essentiellen und nichtessentiellen Bedürfnissen unterscheiden. Essentielle Bedürfnisse sind beispielsweise: Essen, trinken, schlafen und der Gang zur Toilette. Nicht essentielle Bedürfnisse sind, lieber Saft als Wasser zu trinken, zum Essen in ein Lokal zu gehen oder einen Fernseher besitzen zu wollen. Bedürfnisse können also durch Instinkt sowie durch Tradition, Bildung, soziale Stellung, aber auch durch eine eher planmäßige Bedürfnislenkung, wie es z.B. die Werbung praktiziert, geprägt sein. Dies führt zu der Frage, um welches Bedürfnis, das befriedigt werden soll, es bei der Jagd auf die sogenannten Schnäppchen im Grunde geht. Der deutsche Bürger hat sich seine Bedürfnisbefriedigung im Jahr 2003 beispielsweise 353,2 Milliarden Euro kosten lassen. Das ist viel Geld, das für private Konsumausgaben auf den Tisch gelegt wurde.
Die „Geiz ist geil“Werbung weckt ein Bedürfnis nach – in diesem Falle hauptsächlich technischen – Produkten im Individuum und verstärkt es durch permanente Werbung mit einem eindringlichen Slogan. Nach dem Motto: Alle haben jetzt z.B. einen DVDPlayer, nur du noch nicht. Aber wer keinen hat, ist arm dran, veraltet, nicht up to date, hat zu wenig. Dergleichen braucht man heutzutage unbedingt, wenn man dazugehören und mitreden möchte. Dem Individuum ist es in diesem Moment gleichgültig, dass ein DVDPlayer ein Luxusbedürfnis ist. Die Abwesenheit eines DVDPlayers ist ihm bis dato wahrscheinlich noch gar nicht negativ aufgefallen. Es lässt sich jedoch von der Werbung verführen und verspürt mit einem Male ein dringendes Bedürfnis nach eben jenem Gerät. Ein DVDPlayer und die daraus resultierenden neuen Freizeitgestalungsmöglichkeiten vermögen vielleicht, das Gefühl der inneren Leere und die vage Sehnsucht, die das Individuum empfindet, zu überdecken und somit endlich näher an den Zufriedenheitszustand zu kommen.
Die Möglichkeiten, die ein solches Gerät andeutet, scheinen also verführerisch. Außerdem, so versucht das Individuum sich selbst zu überzeugen, ist ein DVDPlayer besser als ein Videorekorder. Hinzu kommt, dass kaum kaum jemand dem Vorwurf, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein, standhalten kann. Die Waren dienen dabei recht offensichtlich nicht mehr der reinen Bedürfnisbefriedigung, sie sind Platzhalter für „[...] Erlebnisse, Werte, Sinnangebote und Ideen, die beim Käufer eine Veränderung hervorbringen sollen“ geworden. Eine tatsächliche Bedürfnishinterfragung findet in der Angst, etwas zu verpassen, kaum mehr statt. Ein Bedürfnis zu hinterfragen, bedeutet auch immer Selbstreflexion. Meist ist das begehrte Objekt nur ein Substitut für etwas gänzlich anderes, was das Subjekt bald bemerkt, sobald es dem Kaufdrang nachgegeben hat: Eine nachhaltige Befriedigung über die Neuerwerbung setzt bei der Schnäppchenjagd in der Regel nicht ein. Stattdessen wird sofort nach dem nächsten erwerbbaren Konsumgut Ausschau gehalten. „Die Überlebensfähigkeit der Werbung trotz aller Enttarnungen weist auf ein Orientierungsbedürfnis hin, das Züge von Angst und dadurch bedingter Glaubensbereitschaft wider bessere Einsicht trägt.“ Das empfundene Konsumbedürfnis wird von außen durch die Werbung in das Individuum getragen und dort durch die Ängste desselben verstärkt.
Diese Ängste – Wer bin ich?, Was kann ich?, Wo gehöre ich hin, wo dazu? – sind inzwischen zu einer Art kollektivem Muster geworden und werden daher vielfach als „normal“ wahrgenommen. Die internen Gründe einer Handlungsmotivation werden von dem Subjekt mit den externen Gründen verwechselt. Es kann nicht mehr unterscheiden zwischen seinen ureigensten (= internen) Bedürfnissen und solchen, die von außen (= extern) an es heran getragen werden. Die „Geiz ist geil“ Werbung macht sich diesen Unsicherheitszustand des Subjektes zunutze, indem sie in ihm unmotiviertes Begehren nach nach zukünftiger Zufriedenheit weckt. Mittels der Werbung wird dem Individuum suggeriert, hier würde es so günstig kaufen, dass es sich auch gleich noch mehr leisten könne und in diesem „Mehr“ fände es einen schönen Tages Glück und Zufriedenheit.
Mit jedem neuen erworbenen Stück würde es „dazu gehören“ (siehe hierzu auch Punkt 3.2.1). Die Frage, zu was man dann „dazu gehören würde“, wird weder gestellt, noch beantwortet. Die bald einsetzende Frustration über den Neuerwerb, wird also mit dem Ausblick auf den nächsten Konsum wettgemacht. Durch die Abnahme der Fähigkeit, sich an Erworbenem und Brauchbarem zu erfreuen, entsteht ein Enttäuschungsrisiko, dem die Werbung sofort mit der Aussicht auf noch mehr Konsum vorbeugt. Der Konsument jedoch, der diesem Versuch, die eigene Enttäuschung gering zu halten auf diese Weise nachgibt, verstärkt den Kreislauf nur noch.
Bei der Frage nach der Tatsächlichkeit eines Bedürfnisses sollte das Individuum sich immer fragen, worum es ihm im Grunde geht. „Der kleinste gemeinsame Nenner von Lebensauffassungen in unserer Gesellschaft ist die Gestaltungsidee eines schönen, interessanten, subjektiv als lohnend empfundenen Lebens.“ Diese Idee des schönen Lebens ist es, worum es den meisten Menschen im Grunde geht. Nämlich einen Weg zu finden, wie sie ihr Leben als erfüllt empfinden. Die vielfältigen Möglichkeiten unserer Zeit sowie die Forderung an das Individuum, sich selbst zu entwerfen und für einen Weg zu entscheiden, erschweren es dem Subjekt eher, als dass sie Dinge erleichtern. Existenz ist nicht gänzlich, wie heute gerne geglaubt wird, gestaltbar. „Unser eigenes Ich ist eine Mischung aus realen Qualitäten wie Wissen und Können und aus bestimmten fiktiven Qualitäten, die wir um den realen Kern herum anordnen. Das Wesentliche ist jedoch nicht so sehr der Inhalt, aus dem das eigene Ich besteht, sondern die Tatsache, dass wir unser Ich als Ding empfinden, das wir besitzen, und das dieses Ding Basis unserer Identitätserfahrung ist.“ So versuchen viele, das innerliche Ziel, nämlich ein Ich zu sein oder zu entwickeln, mit äußeren Mitteln, meist Konsum, zu erreichen. Der Besitz soll gestaltet werden und wird bei Nichtgefallen so lange umgestaltet, bis er gefällt. Das ist, als würde man versuchen, im Toten Meer schwimmen zu lernen und dann, weil man glaubt, im Toten Meer tatsächlich geschwommen zu sein, in einem seichten Teich zu Hause kläglich ertrinken.
Die „Geiz ist geil“ Werbung verspricht Erfüllung im Konsum. Geiz ist deshalb geil, weil, so die Intention, die Produkte so billig sind, dass man sich mehrere oder immer wieder welche kaufen kann. „Geil“ ist all dies, weil das Gefühl toll ist, scheinbar etwas für sich getan und dem Projekt des schönen Lebens wieder ein Stück hinzugefügt zu haben. Wenn Saturn bzw. die Werbeagentur also behauptet, Geiz sei geil, worin könnte dann der Spaß beim Geiz liegen? Um dem auf den Grund zu gehen, wird das Verhältnis zwischen Bedürfnissen und Geiz näher betrachtet...