1 Vorgeschichten
Neue Weltbilder
Wann und warum der moderne europäische Imperialismus einsetzte und ein beispielloser Wettlauf zunächst der europäischen Mächte, dann auch der USA und Japans um die Aufteilung der Welt begann, ist lange kontrovers diskutiert worden. Erklärungsmodelle, die das Gewicht auf ökonomische Faktoren legen, konkurrieren mit solchen, die staatliche Macht oder nationales Prestige betonen. Ansätze, die vom Primat der Außenpolitik ausgehen, stehen neben solchen, die den Vorrang innenpolitischer Interessen annehmen. Je nach Erklärungsmuster bieten sich unterschiedliche Daten für den Auftakt zum Wettlauf um Kolonien an. Ältere Forschungen neigten dazu, Zäsuren zu setzen wie die britische Herrschaft in Ägypten 1882 oder die Berliner Afrika-Konferenz (»Kongo-Konferenz«) von 1884/85. Neuere Forschungen betonen eher die Kontinuitäten der europäischen Expansion im Fernen Osten und der Erschließung der afrikanischen Küstenräume. Im Zeitalter krisenhafter industrieller Modernisierung, protektionistischer Politik und nationalstaatlicher Machtentfaltung, zumal angesichts des Auftretens eines neuen Faktors auf der internationalen Bühne, des 1871 gegründeten Deutschen Reichs, habe sich die Auseinandersetzung um Stützpunkte und Marktzugänge in Übersee rapide beschleunigt und schließlich ein irrational anmutender Konkurrenzkampf um die letzten freien Flecken der Erde eingesetzt. Dem habe sich kaum ein überseeisches Gebiet entziehen können, weder der afrikanische Raum, der zum größten Teil in europäische Kolonialreiche eingegliedert wurde, noch China, das im Rahmen des so genannten informellen Imperialismus unter die faktische Bestimmungsgewalt europäischer Staaten geriet.
Tatsächlich ist es schwer, klare Wendepunkte in der Geschichte des europäischen Imperialismus zu entdecken. Nicht einmal der Beginn der deutschen Kolonialgeschichte ist auf ein präzises Datum zu fixieren. Bismarcks Entscheidung vom Sommer 1884, überseeische Territorien unter deutschen Schutz zu stellen, bedeutete nur scheinbar eine Zäsur, sie stand in der Kontinuität vorausgegangener Aktivitäten des Reichs in Übersee und führte auch in der Folge lediglich zur schrittweisen Ausweitung deutschen Engagements. Die deutsche Kolonialpolitik vollzog sich im Kontext europäischer Bestrebungen und globaler Wandlungen. Sie reagierte auf Veränderungen im internationalen System und an der so genannten Peripherie; sie spiegelte zugleich Wertungen und Stimmungen, die von globalen Entwicklungen ausgelöst worden waren. Sie war dabei von realen Bedrohungen ebenso wie von antizipierten Gefahren geprägt. Insofern war sie weniger Strategie zur Bewältigung einer krisenhaften Situation als vielmehr selbst Ausdruck einer Krise, die Selbstverständnis und Lebenswelt der Menschen des 19. Jahrhunderts erschütterte.
Diese Krise war Folge neuartiger Globalisierungsprozesse. Neben der Beschleunigung des Wandels stellte vor allem die Verdichtung der Welt eine zentrale Erfahrung der Menschen des 19. Jahrhunderts dar. Der Raum wurde enger. Die Weltbevölkerung wuchs von rund 950 Millionen im Jahr 1800 über 1,2 Milliarden 1850 auf 1,6 Milliarden im Jahr 1900. Die Bevölkerungszahl in Deutschland (Gebiet des Deutschen Reichs von 1871) stieg im selben Zeitraum von etwa 23 Millionen um 1800 über 35 Millionen 1850 auf gut 56 Millionen 1900. Zugleich schrumpften die Entfernungen. Eisenbahn, Dampfschiff (seit 1860 Ablösung des Segelschiffs im Überseeverkehr) und Telegraph (erstes Transatlantikkabel 1866) überbrückten große Räume schneller als zuvor, und neue Verkehrswege wie der Suezkanal (1869) verkürzten die Strecken. Nachrichtenagenturen (in Europa seit der Jahrhundertmitte) verbreiteten Neuigkeiten rascher als Post und Kuriere. Hatten Nachrichten von Übersee nach Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts über den Seeweg noch Wochen gebraucht, so konnten sie um 1880 binnen Stunden ausgetauscht werden, zumindest mit den Küstenorten und den größeren Städten. Zudem setzten sich Millionen Menschen in Bewegung. Das 19. Jahrhundert wurde zum Jahrhundert der Überseewanderungen. In den frühen 1870er Jahren verließen jährlich über 350 000 Menschen Europa, Anfang der 1880er Jahre stieg der Jahresdurchschnitt auf über 500 000 an, darunter waren 1881 und 1882 jeweils rund 200 000 Deutsche.
Mit der Verdichtung der Welt wuchs das Interesse. Geographen, Kaufleute und Missionare drangen tiefer in bislang unbekannte Regionen ein. Seit den 1840er Jahren waren auch Deutsche beteiligt. Dazu gehörte als erster namhafter deutscher Forscher der Berliner Altertumswissenschaftler und Geograph Heinrich Barth, der 1849 zu einer Expedition nach Afrika aufbrach, oder der Arzt Gustav Nachtigal, der Afrika in den Jahren 1869 bis 1875 bereiste. Ihre Berichte erregten Aufmerksamkeit und fanden Leser in der entstehenden bildungsbürgerlichen Kultur. Sie prägten das Bild der noch unbekannten Regionen, sie zeichneten Bilder von Vielfalt und Exotik und weckten Interesse für ferne Königreiche und Kulturen, für unendliche Weiten und sagenhafte Reichtümer.
Dieses Interesse hatte allerdings eine Kehrseite. Indem Entfernungen schrumpften und fremde Welten näher rückten, stieg zugleich das Bedürfnis nach Orientierung. Neue Denkansätze versuchten die Völker der Welt zu systematisieren und Erklärungen für Geschichtsablauf und globale Ordnung zu geben. Die Erkenntnisse der Biologie, an erster Stelle Charles Darwins, dessen Werk Über die Entstehung der Arten 1859 in London erschienen war, wurden nun auf die menschliche Gesellschaft übertragen. So veröffentlichte der deutsche Zoologe Ernst Haeckel 1869 eine Natürliche Schöpfungsgeschichte. Derartige sozialdarwinistische Ideen, die zu den Rassentheorien des späten 19. Jahrhunderts hinleiteten, boten nicht nur eine Erklärung für Unterschiede zwischen den Kulturen und Völkern, vielmehr schien die Theorie vom beständigen und unvermeidlichen Kampf ums Überleben und von der Durchsetzung des Stärkeren den europäischen Staaten das Recht zu geben, überseeische Territorien zu erobern. Dabei veränderte sich auch die Bewertung außereuropäischer Kulturen. Hatten Reisende und Forscher wie Barth und Nachtigal noch deren Eigenständigkeit und Wert anerkannt und von den »Königreichen«, »Staaten« oder sogar »Nationen« in Übersee gesprochen, so war am Vorabend der imperialistischen Expansion zunehmend bloß noch von »Stämmen« die Rede, die im Zustand unmündiger Kindheit verharrten und barbarischen Bräuchen frönten, die günstigstenfalls erzogen und kultiviert werden konnten, schlimmstenfalls aber einer Verbesserung nicht zugänglich waren und in ihrem eigenen Interesse, zur Vermeidung von Gewalt und Chaos, von den Europäern mit strenger Hand beherrscht werden mussten. Das forderte den kolonialen Zugriff geradezu heraus.
Kolonialagitation und Kolonialbewegung
Im Deutschland der 1870er Jahre fanden die neuen Ideen große Resonanz, weil hier Zukunftshoffnungen und Krisenängste besonders eng verbunden waren. Industrielle Modernisierung und nationalstaatliche Einigung hatten Erwartungen geweckt, die nicht erfüllt werden konnten. Der konjunkturelle Einbruch in der Gründerkrise von 1873, das Aufkommen der sozialistischen Bewegung, das schnelle Bevölkerungswachstum und die Amerikaauswanderung führten zu tiefer Verunsicherung. Koloniale und imperiale Phantasien, die eine Lösung der politischen, ökonomischen, demographischen und mentalen Probleme zugleich verhießen, stellten dabei nichts grundlegend Neues dar. Sie waren vielmehr Begleiterscheinung des Aufschwungs der deutschen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert und schon in diesem Rahmen Ausdruck des Bemühens um Selbstbehauptung in der globalen Konkurrenz der Nationen. Schon vor 1871 fanden sie sich daher in zahlreichen politischen Entwürfen. Die Hoffnungen richteten sich einerseits auf die Auswanderung in Kolonien sowie auf Bodenschätze und Absatzmärkte. So setzte sich der Nationalökonom und Publizist Friedrich List Anfang der 1840er Jahre für eine Siedlungs- und Handelsexpansion ein. Andererseits ging es um die politische Stärkung der Nation durch imperiale Politik, Überseekolonien und eine deutsche Flotte. Dafür standen die Pläne der Nationalversammlung in der Revolution von 1848. Insofern waren die Ideen vorbereitet, an die man anknüpfte, als Ende der 1870er Jahre die Agitation für eine imperialistische Expansion des Deutschen Reichs einsetzte.
Die Wortführer der neuen kolonialen Agitation lassen sich kaum auf einen Nenner bringen, zu verschieden waren sie nach sozialer Herkunft, politischer Ausrichtung und persönlichem Profil. Adlige standen neben Bürgern, Missionare neben Abenteurern, erfolgreiche Geschäftsleute neben gescheiterten Akademikern, Beamte neben freiberuflich tätigen Schriftstellern. Das bildungsbürgerliche Element überwog freilich. Zu den Kolonialagitatoren zählten der ehemalige Missionar Friedrich Fabri, der von 1857 bis 1884 die Rheinische Mission in Barmen leitete und mit der Schrift Bedarf Deutschland der Colonien? von 1879 die Debatte wesentlich beeinflusste, der Jurist Wilhelm...