Einleitung
In der Nacht zum 4. August 1914 marschierten deutsche Truppen in das neutrale Belgien ein. Innerhalb weniger Tage ging das Gerücht um, sie begingen brutale »Greueltaten« an unschuldigen Zivilisten. Ähnliche Geschichten wurden 250 Kilometer weiter südlich in Lothringen verbreitet, wo deutsche Truppen zeitgleich auf französisches Gebiet vordrangen. Diese Gerüchte fanden ihren Weg binnen kurzem in die Presse Großbritanniens, Frankreichs und Rußlands und der mit ihnen sympathisierenden neutralen Staaten, und sie nahmen zu, während die deutschen Truppen durch Belgien und Nordostfrankreich marschierten. Anfang September wurde der deutsche Vormarsch in der Marneschlacht zum Stehen gebracht, aber erst im Oktober, als der darauf einsetzende Rückzug der Deutschen in den Stillstand des Grabenkriegs überging, wurden Berichte über neue deutsche Greueltaten seltener.
Derartige Beschuldigungen beschränkten sich allerdings nicht auf eine Seite. Von Anfang an sprachen deutsche Soldaten ihrerseits von belgischen und französischen Greueln. Ihren Berichten zufolge griffen feindliche Zivilisten deutsche Soldaten gerade dann heimtückisch an, wenn diese es am wenigsten erwarteten – aus einem Hinterhalt, wenn sie schliefen oder verwundet liegengeblieben waren. In den schauerlichsten Geschichten wurden deutsche Soldaten vergiftet, geblendet oder kastriert. Auch diese »Greuel« fanden schnell ihren Weg in die Zeitungen der Heimatfront, und sie wurden zivilen, irregulären Soldaten oder Guerillas angelastet, sogenannten Franktireurs (franz. franc-tireur = Freischärler). Der Begriff stammte aus dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, als Freiwilligentrupps unter dieser Bezeichnung den deutschen Armeen hinhaltenden Widerstand leisteten. Das Bild des französischen Franktireurs blieb unterschwellig im Gedächtnis und in der Phantasie der Deutschen haften und wurde 1914 durch die Überzeugung wiederbelebt, feindliche Zivilisten würden sich gegen einen neuen deutschen Einfall zur Wehr setzen.
Erkenntnisleitendes Interesse unseres Buches ist die Erklärung dieser widersprüchlichen Geschichten von feindlichen »Greueln«, die zu einem Hin und Her von Beschuldigungen und Gegenbeschuldigungen führten, wobei jede Partei die Anschuldigungen der Gegenseite zurückwies. Um zu verstehen, wie die Zeitgenossen zu solch entgegengesetzten Auffassungen kommen konnten, rekonstruieren wir in einem ersten Schritt, so genau wie möglich, was in den zweieinhalb Monaten der Invasion ab August 1914 tatsächlich geschah. Teil I (Kapitel 1 und 2) ist eine Geschichte der Invasion auf der Grundlage schriftlicher Dokumente beider Seiten. Doch der Kern des Problems liegt in der subjektiven Wahrnehmung. Die Deutung, die jede Seite dem Geschehen gab – die Geschichten, die erzählt wurden –, wirkte wiederum auf das zurück, was geschah. Deshalb müssen wir die Überzeugungen, Mythen und kulturellen Annahmen aufdekken, die der jeweiligen Erfahrung der Invasion ihre Gestalt gaben. Diese Aufgabe wird in Teil II (Kapitel 3 bis 5) für beide Seiten unternommen.
Die Invasion war freilich nur der Anfang. Die Frage der »Greuel« verschwand nicht mehr von der Tagesordnung, auch nicht, nachdem der Abnutzungskrieg begonnen hatte. Amtliche Berichte, Zeitungsmeldungen, Broschüren und Karikaturen gaben den gegenseitigen Anschuldigungen immer neue Nahrung, bis im Frühjahr 1915 die feindlichen »Greuel« für beide Seiten zu einer der Kardinalfragen des Krieges geworden waren. Dabei ging es nicht nur um die öffentliche Meinung in den neutralen Ländern (Amerika, Italien), so wichtig diese auch war, sondern auch und vor allem darum, die Kriegsbereitschaft der jeweils eigenen Bevölkerung zu mobilisieren, indem ein entmenschlichtes Bild des Feindes entworfen wurde. Es ist deshalb wichtig zu begreifen, wie auf beiden Seiten das Thema der »Greuel« im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzung imaginativ und intellektuell durch den Prozeß der kulturellen Mobilisierung transformiert wurde. Dieser Aspekt ist Gegenstand von Teil III (Kapitel 6 bis 8).
Da die Frage der »Greuel« dem Krieg eine Bedeutung verlieh, spielte sie auch eine Rolle, als es darum ging, den Frieden zu gestalten. Der Versailler Vertrag wurde von den Alliierten als eine moralische Abrechnung aufgefaßt und beinhaltete folglich den Versuch, deutsche Militärs wegen »Kriegsverbrechen«, die während der Invasion von 1914 und danach begangen wurden, vor Gericht zu bringen; diese Verfahren waren Vorläufer der Nürnberger Prozesse ein Vierteljahrhundert später. Es ist seit langem in Vergessenheit geraten, daß für breite Bevölkerungskreise im Deutschland der Zwischenkriegszeit die Anschuldigung, Kriegsverbrechen begangen zu haben, neben der Aufbürdung der Kriegsschuld zum Inbegriff eines ungerechten Friedens wurde. Doch schon bald kam es zu einer Gegenreaktion in den Ländern der ehemaligen Alliierten. Eine nachträgliche Desillusionierung gegenüber dem Krieg und wachsende Zweifel an der Kriegspropaganda führten zu der Ansicht, die »deutschen Greuel« seien eine Erfindung der Alliierten gewesen, die das Gemetzel in die Länge ziehen wollten. Doch zumindest in Frankreich und Belgien bewahrte sich eine Minderheit die Erinnerung an die Opfer- und Märtyrerrolle während der Invasion von 1914, so daß selbst noch nach 1945 die »deutschen Greuel« den Kern unversöhnlicher Erinnerungen an den »Großen Krieg«, den Ersten Weltkrieg, bildeten. Dieser widersprüchliche Prozeß des Erinnerns vom Ende des Ersten Weltkriegs bis nach 1945 ist Thema des letzten Teils (Kapitel 9 und 10).
Trotz ihrer Bedeutung haben die deutschen Greuel von 1914 bei Historikern nur wenig Aufmerksamkeit gefunden. Der belgische Soziologe Fernand van Langenhove schrieb während des Krieges in einem bemerkenswerten Buch, der Glaube der Deutschen an belgische Franktireurs sei ein »Legendenzyklus« (cycle de légendes).1 Seine Untersuchung hat ihre Grenzen: Sie beschränkt sich auf die Deutschen, ohne vergleichbare Vorstellungen bei den Alliierten zu berücksichtigen, und erklärt nicht, warum deutsche Soldaten auf einen unterstellten Widerstand von Zivilisten so reagierten, wie sie es taten. Dessenungeachtet wurde van Langenhoves Buch von dem jungen französischen Historiker Marc Bloch als bahnbrechend gewürdigt, als dieser aufgrund seiner eigenen Kriegserfahrung 1921 über Mythen und Gerüchte zu Kriegszeiten schrieb.2 Bloch versuchte die tieferen Einstellungen und Mentalitäten zu ergründen, die konkrete Erscheinungsformen von Irrationalität in Krisen oder Spannungslagen prägen. Das wies den Weg zur Mentalitätengeschichte, die später von Bloch und der angesehenen Zeitschrift Annales weitergeführt wurde. Doch wurde dieser methodische Ansatz nicht auf die damalige Zeit selbst angewandt, so daß die Einsichten Blochs und van Langenhoves über den Ersten Weltkrieg in Vergessenheit gerieten.
In der Zwischenkriegszeit vertraten auch Historiker jene weitverbreitete skeptische Position, nach der die deutschen Greuel vor allem als eine Erfindung der Alliierten erschienen und deshalb dem übergeordneten Problem der Manipulation durch Propaganda zugeordnet werden konnten.3 Das blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg die vorherrschende Meinung. Sie war eng mit zwei weiteren Überzeugungen verknüpft: erstens, daß die eigentliche Botschaft des Ersten Weltkriegs der Schrecken industrieller Kriegführung und nationalistischer Leidenschaften gewesen war, und zweitens, daß die liberal-demokratischen Staaten ihre eigenen Prinzipien verraten hätten, indem sie die öffentliche Meinung manipulierten, um den Konflikt noch zu schüren.4 Nur einmal wurde versucht zu ergründen, was wirklich geschehen war. Die Ergebnisse dieser Zusammenarbeit zwischen belgischen und deutschen Historikern in den 1950er Jahren bestätigten, daß im Fall der Stadt Leuven (Löwen) die Belgier mit Recht beteuert hatten, sich keinerlei zivilen Widerstands schuldig gemacht zu haben, und daß die deutsche amtliche Untersuchung alliierter Greuelvorwürfe, das Weißbuch von 1915, nicht zuverlässig war.5
Erst ab Mitte der achtziger Jahre hat sich das historische Interesse erneut den »Greueln« zugewandt. Lothar Wieland hat sich mit der Bedeutung dieser Frage für die deutsch-belgischen Beziehungen während des Krieges und danach beschäftigt,6 Michael Jeismann ihre Rolle bei der Bildung antagonistischer nationaler Identitäten in Frankreich und Deutschland gestreift.7 Ruth Harris und Stéphane Audoin-Rouzeau haben die realen und erfundenen Vergewaltigungen untersucht, die während der Invasion von 1914 von Deutschen begangen wurden.8 Unsere eigenen Aufsätze nahmen den in diesem Buch vorgestellten Ansatz vorweg.9 Diese Studien, und das galt auch allgemein für das wiedererwachte Interesse am Ersten Weltkrieg, markierten einen Neuanfang, indem sie ihr Augenmerk auf die Kulturgeschichte der von ihnen behandelten Ereignisse richteten – darauf, wie diese Ereignisse erfahren...