1 Vor dem Krieg
Alle Kriege haben eine Vor- und eine Nachgeschichte. Die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs begann um die Jahrhundertwende, und sie währte bis zum Sommer 1914. Es war eine Zeit, in der es immer häufiger zu militärischen Konflikten kam, zu wirklichen Kriegen, wie 1904 zwischen Russland und Japan oder nach 1912 auf dem Balkan, aber ebenso häufig auch zu sogenannten Beinahe-Kriegen. Das waren vor allem Auseinandersetzungen zwischen den großen europäischen Staaten über Kolonien, Rohstoffe und Transportwege, kurzum: über die imperiale Aufteilung der Welt. Aber diese Zeit war auch charakterisiert durch militärische Vereinbarungen und politische Allianzen zwischen den Staaten. Diese wurden nun jedoch nicht mehr, wie noch im 19. Jahrhundert, für konkrete Ziele und häufig kurzfristig abgeschlossen. Stattdessen waren es Bündnisse, die dauerhaft, gleichsam »auf Leben und Tod«, angelegt schienen. Hinzu kam, dass sich der Rüstungswettlauf der großen Mächte beschleunigte, wobei vor allem der gegen Großbritannien gerichtete deutsche Schlachtflottenbau sowie die mit französischer Hilfe expandierende russische Rüstungsindustrie große Bedeutung erlangten.
Vor dem Hintergrund dieser zunehmend angespannten Situation entwickelte sich in Europa eine populäre Stimmung hin zum Krieg, eine Art »Vorkriegsmentalität«: Zahlreiche Politiker und Militärs, aber auch Wissenschaftler, Journalisten, Schriftsteller und Künstler waren der Überzeugung, dass ein Großer Krieg zwischen den europäischen Nationen nur noch eine Frage der Zeit sei. Einige Zeitgenossen warnten vor einem kommenden »Menschenschlachthaus« (Wilhelm Lamszus) und beschworen Pazifismus und Abrüstung. Andere entwarfen Szenarien, nach denen ein solcher Krieg ein »reinigendes Stahlbad« sein werde, ein »Jungbrunnen« für das an Alterserscheinungen leidende Europa. Krieg sei demnach nicht allein eine Notwendigkeit für die Menschheit – Krieg sei auch eine Art und Weise, das »Recht des Stärkeren« zu sichern. Tatsächlich hatte Charles Darwins Lehre von der natürlichen Auslese und dem »survival of the fittest« in banalisierter Form ihren Siegeszug bereits lange vor 1900 angetreten. Alle Welt berief sich auf ihn und deutete seine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auf die Gesellschaft um (»Sozialdarwinismus«). Die angebliche »Überlegenheit der weißen Rasse« wurde zu einem zentralen Argument bei der Eroberung von Kolonien in Afrika und Asien sowie der Unterdrückung der »Schwarzen« wie auch der Chinesen und anderer nichteuropäischer Völker.
Besonders enthusiastisch wurden diese Ansichten im wilhelminischen Deutschland vertreten. Das Reich befand sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sowohl wirtschaftlich als auch demographisch in einer außerordentlich starken Wachstumsphase. Der »deutsche Michel« war seit den 1880er Jahren aus seinem Schlafe aufgewacht – ein beliebtes Eigenbild der Deutschen – und machte sich nun daran, vor allem im Bereich der neuen Industrien, vornehmlich von Elektro und Chemie, eine den Weltmarkt beherrschende Stellung einzunehmen. Zudem erlebte das Deutsche Reich eine bis dahin nicht gekannte Bevölkerungsexplosion: Zwischen 1880 und 1910 wuchs die deutsche Bevölkerung, vor allem dank sozialer und medizinischer Verbesserungen, von etwa 50 auf 70 Millionen Menschen – und diese Tendenz war steigend!
Gleichwohl besaß Deutschland, das erst 1871 nach dem Sieg über Frankreich zu einem einheitlichen Staatswesen geworden war, noch lange nicht jene »Weltgeltung«, auf die es wegen seiner wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamik Anspruch zu haben glaubte. Andere europäische Staaten, allen voran Großbritannien und die Niederlande, hatten bereits im 17. Jahrhundert damit begonnen, Kolonien in Übersee zu erwerben. Demgegenüber vermochte das Deutsche Reich erst seit den 1880er Jahren, und zunächst eher zögerlich, in die Welt auszugreifen. Im kolonialen Wettlauf mit Frankreich und Großbritannien forderte Deutschland nun mit großer Emphase seinen verdienten »Platz an der Sonne«. Unter Wilhelm II., etwa seit 1896, wurde diese Politik sogar planmäßig verfolgt. Aber das Problem war, dass die Kolonialgebiete zu diesem Zeitpunkt weithin bereits als »verteilt« galten und Deutschlands Anspruch, nunmehr in den Kreis der »Weltmächte« einzutreten, sich nur durch Verhandeln, Tauschen und Kaufen – oder aber durch Erpressung und Krieg realisieren ließ. Der Kaiser sah in der tatkräftigen Erweiterung des Deutschen Reichs seine ureigene Mission. »Ich führe Euch herrlichen Zeiten entgegen« und »Im Deutschen Reich soll die Sonne nicht untergehen«, so klangen die Kernsprüche Seiner Majestät. Begleitet wurden die kaiserlichen Ambitionen von einer militaristischen, teilweise auch rassistischen Rhetorik, wie sie sich etwa in Wilhelms berüchtigter »Hunnenrede« zeigte. Bei der Verabschiedung einer internationalen Strafexpedition zur Niederschlagung des sogenannten Boxeraufstands in China im Sommer 1900 hatte der Kaiser die deutschen Soldaten ermahnt: »Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei in eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!« Trotz aller Versuche der Regierung, die blutrünstigsten Passagen der Rede aus den Zeitungen herauszuhalten, fanden sie doch (in unterschiedlichen Varianten) Eingang in die heimische wie die internationale Presse. Ihre eigentliche Wirkung sollte Wilhelms »Hunnen-Metapher« jedoch erst im Weltkrieg entfalten.
Wilhelm II. über deutsche Weltpolitik (Tischrede im Berliner Schloss am 18. Januar 1896 aus Anlass des 25-jährigen Bestehens des Deutschen Reichs)
Aus dem Deutschen Reiche ist ein Weltreich geworden. Überall in fernen Teilen der Erde wohnen Tausende unserer Landsleute. Deutsche Güter, deutsches Wissen, deutsche Betriebsamkeit gehen über den Ozean. Nach Tausenden von Millionen beziffern sich die Werte, die Deutschland auf der See fahren hat. An Sie, Meine Herren, tritt die ernste Pflicht heran, Mir zu helfen, dieses größere Deutsche Reich auch fest an unser heimisches zu gliedern. Das Gelöbnis, was Ich heute vor Ihnen ablegte, es kann nur Wahrheit werden, wenn Ihre, von einheitlichem patriotischem Geiste beseelte, vollste Unterstützung Mir zuteil wird. Mit diesem Wunsche, dass Sie in vollster Einigkeit Mir helfen werden, Meine Pflicht nicht nur Meinen engeren Landsleuten, sondern auch den vielen Tausenden von Landsleuten im Auslande gegenüber zu erfüllen, das heißt, daß Ich sie schützen kann, wenn Ich es muß, und mit der Mahnung, die an uns alle geht: »Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen« erhebe Ich Mein Glas auf Unser geliebtes deutsches Vaterland und rufe: Das Deutsche Reich hoch! – und nochmals hoch! – und zum drittenmal hoch!
aus: Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, Bd. 8: Kaiserreich und Erster Weltkrieg, 1871–1918, hg.v. Rüdiger vom Bruch u. Björn Hofmeister, Stuttgart 2000, S. 267
Das Deutsche Reich betrieb jetzt eine aggressive Weltpolitik, der es durch den Bau einer starken Schlachtflotte Nachdruck zu verleihen suchte: »Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser« – so lautete die entsprechende Devise des Kaisers. Um diesen Anspruch zu untermauern, ließ Wilhelm II. seit Mitte der 1890er Jahre eine neue Flottenpolitik ausrufen. Tatsächlich war die Flottenbegeisterung in Deutschland überwältigend groß. Der Deutsche Flottenverein wurde zur ersten echten Massenorganisation des konservativen Bürgertums und zu einem Trommler für die staatliche Flottenpolitik – eine für den Steuerzahler überaus kostspielige Angelegenheit.
Werbeplakat des Deutschen Flottenvereins von 1901 nach einem Entwurf von Anton Glück
Die deutsche Flottenpolitik – für die ab 1897 der Admiral und Staatssekretär im Reichsmarineamt Alfred von Tirpitz zuständig war – richtete sich vor allem gegen England. Das britische Empire, das bislang unbestritten mit seiner enormen Kriegsflotte die Weltmeere beherrscht und zahlreiche Handels- und Flottenstützpunkte in aller Welt errichtet hatte, fühlte sich vor allem durch das deutsche Flottenbauprogramm (ab 1898) herausgefordert. Nachdem schließlich in den folgenden Jahren die deutsche Kriegsmarine einige größere Schiffe zu Wasser gelassen hatte, hörten die Engländer auf, den deutschen Anspruch auf die leichte Schulter zu nehmen. Tirpitz hatte eine »Risiko-Theorie« entwickelt, die besagte, dass Deutschlands Kriegsflotte – die auf keinen Fall jemals mit der Englands würde gleichziehen können – derart stark sein sollte, dass England bei einem Angriff ein veritables Risiko eingehen würde. Allerdings erlitt der »Tirpitz-Plan« (Volker R. Berghahn) trotz massiver öffentlicher Kampagnen bereits 1905/06 Schiffbruch. Bei Ausbruch des Weltkriegs befand er sich mit 14...