3 Von Netz- und Nutzwerken
Ich muss Sie warnen. In diesem Kapitel geht es sehr viel um Technik (und um meine Unfähigkeit, sie effektiv einzusetzen) sowie um einige vorbereitende Maßnahmen, ohne die «Deutschland umsonst» nicht denkbar gewesen wäre. Möglicherweise langweilt das den einen oder anderen, vor allem, wenn er sich mit sozialen Netzwerken bestens auskennt. In diesem Fall hätte ich Verständnis dafür, wenn Sie jetzt einfach schnell weiterblättern zum nächsten Kapitel. Falls dann irgendwann im Verlauf des Buches ein paar Fragen zur logistischen Mechanik der Reise aufkommen sollten, nun: Zurückblättern geht ja eigentlich immer.
Ich gehöre vermutlich zu den Erfindern der Prokrastination. Ich habe eine mal mehr, mal weniger ausgeprägte Erledigungsblockade. Es war ja schon schwer genug, mich mental auf die nächsten Monate einzustimmen. Die praktischen Vorbereitungen des Projekts verlor ich darüber viel zu lange aus den Augen. Ursprünglich hatte ich mit dem Verlag vereinbart, etwa zwei Monate vor dem Start der Reise eine Facebook-Seite einzurichten, um mit einigem Vorlauf genügend Helfer für mein Vorhaben zu gewinnen. Ich hatte sogar eine Art Claim entwickelt, mit dem ich schnell erklären wollte, warum wir Facebook und Konsorten bei dem Buchprojekt mit im Boot haben wollten: «Ich möchte rausfinden, ob ein soziales Netzwerk auch ein Nutzwerk sein kann!» Inzwischen gehörte dieser Satz bei der Erklärung der ganzen Chose schon zu meinem automatischen Repertoire, das ich aufsagte wie eine Sprechpuppe.
Auch Myspace und Twitter sowie einen eigenständigen Blog wollte ich nach Abschluss der Gespräche mit dem Verlag tunlichst schnell auf den Weg bringen, um die größtmögliche Aufmerksamkeit für die ganze Geschichte zu gewährleisten.
Was heißt Aufmerksamkeit: Ich versprach mir ganz konkrete Hilfe auf meinem Weg. Ich würde «Deutschland umsonst»-Seiten einrichten und über mein iPhone jederzeit posten können, wo ich gerade steckte – das war der Plan. Die Leute, die meine Wanderung online verfolgten, sollten die Möglichkeit erhalten, mich direkt zu kontaktieren. Sie könnten das, was ich da gerade erlebte, einfach nur kommentieren oder – im besten Fall – ein paar kompetente Tipps geben. Alle möglichen Tipps: zur Streckenführung beispielsweise. Oder wo sie Leute kannten in abgelegenen Regionen, die mich bei sich aufnehmen oder mir etwas zu essen anbieten könnten. In der Theorie klang das simpel, aber ich hatte keine Ahnung, ob dieses Modell auch in der Praxis funktionieren würde. Ob sich meine «Freunde» bei Facebook für mein merkwürdiges Projekt wirklich interessierten und sogar konkrete Hilfe anbieten würden, stand in den Sternen.
Dazu ist anzumerken, dass ich «schon» seit 2009 über einen Facebook-Account verfügte. Aber nur, weil wir damals ein halbes Jahr in Australien vor dem deutschen Winter flüchteten und beinahe unser gesamtes Umfeld der Meinung war, ohne solch einen Facebook-Briefkasten seien wir da unten vom guten alten Europa komplett abgeschnitten. Vorher, das gebe ich zu, gehörte ich zu den mentalen Brandstiftern, die soziale Netzwerke für Teufelszeug, mindestens aber für unnütze Zeitdiebe hielten. Das hat sich geändert. Inzwischen betrachtete ich zumindest Facebook als maßvoll amüsantes und praktisches Angebot und nutzte es kontinuierlich. Dabei war ich weit davon entfernt, die ganzen technischen Möglichkeiten auszuschöpfen, die sich da boten. In dieser Hinsicht war ich einfach nicht sehr ambitioniert, was eine freundliche Umschreibung ist für: begriffsstutzig.
Von daher hatte ich auch lange Zeit keine Ahnung, wie ich eine extra Facebook-Seite zu einem Projekt wie «Deutschland umsonst reloaded» einrichten sollte. Ich las mir die «How to …»-Seiten des Betreibers durch und vergaß alles gleich wieder, las sie mir noch einmal durch und richtete im Affekt eine «Gruppe» auf meiner privaten Facebook-Seite ein. Das war ein Fehler. Es gibt vermutlich Menschen, die mich dafür immer noch hassen. Der Unterschied zwischen einer monothematischen «Gruppe» und einer eigenen «Seite» besteht nämlich unter anderem darin, dass alle Mitglieder einer Gruppe unaufgefordert über jede Aktion jedes Mitglieds dieser Gruppe informiert werden. Sie wissen das vermutlich. Ich hatte keine Ahnung. Da ich gleich mal alle meine Facebook-Freunde (etwa dreihundert zu dieser Zeit) ungefragt in die Gruppe gepackt und dort ein wildes «Gefällt mir»- und Kommentar-Feuerwerk entfacht hatte, erhielten sehr viele Menschen in diesen Tagen eine Menge überflüssiger Post. Diejenigen, die über so viel technisches Knowhow verfügten wie ich selbst, nämlich nahezu keines, waren leider nicht in der Lage, sich mit einem Häkchen an der richtigen Stelle in ihren Facebook-Einstellungen aus meinem «Gruppenzwang» zu befreien. Ich verfasste daraufhin einige kleinlaute «Sorry-Postings» und hoffte, das Problem damit aus der Welt zu schaffen. Vergeblich. Was wiederum nachvollziehbar wird, wenn man sich die verwirrten Beiträge durchliest, die ich damals verschickte …
Harald Braun Liebe Leute, ich bin ja leider ein Social-Network-Amateur und habe nicht gewusst, dass Mitglieder einer GRUPPE jeden Beitrag von jedem unaufgefordert erhalten. Das ist lästig, weiß ich. Sorry.
Bitte tretet aus der Gruppe aus (ich kann euch leider nicht selbst rauswerfen, ihr müsstet auf GRUPPE VERLASSEN klicken) und geht stattdessen auf meine «Deutschland umsonst»-Seite. Da poste ich dann auch die Positionslichter meiner Wanderung – und wenn und wann und wo ich Hilfe brauche. :-)
Es gibt noch eine «Deutschland umsonst»-Seite, da steht BUCH drunter, sie hat auch kein Bild von mir. Auch schön, die ist vom Rowohlt Verlag. Allerdings ist es sinnvoller, auf meine persönliche Seite zu gehen, wenn ihr zeitnah wissen wollt, was los ist! Danke. Und nochmals: sorry.
10. April um 12:36
Es gibt diese Gruppe immer noch auf meiner Seite. Sie besteht aus momentan hundertfünfundachtzig Mitgliedern, aber zum Glück gibt es dort keine Aktivitäten mehr. Ich kann sie selbst nicht löschen, auch wenn ich nichts lieber täte. Aber irgendwie habe ich es geschafft, mich als Administrator der eigenen Gruppe zu eliminieren. Sie treibt jetzt führungslos durchs digitale Universum …
Mit etwas Anlauf schaffte ich es schließlich im dritten oder vierten Versuch dann doch noch, eine eigene «Deutschland umsonst»-Seite auf Facebook einzurichten, am 7. April. Natürlich viel zu spät. Der Verlag selbst hatte derweil – wohl in der begründeten Annahme, ich selbst würde es ohnehin nicht hinkriegen – eine eigene Verlagsseite aufgebaut, die ebenfalls mit «Deutschland umsonst» überschrieben war. Verwirrend, chaotisch, absurd? Aber klar. Willkommen in meiner Welt.
Deutschland umsonst Am 1. Mai geht’s los. In Traunstein. Sehr südliches Süddeutschland. Vorher wäre es prima, wenn Ihr diese Seite vielen eurer FB-Freunde schicken könntet. Nur damit sich die Wahrscheinlichkeit erhöht, ein paar potenzielle Unterstützer zu finden. Für den Hund und mich, auf unserem Weg nach Hause in den Horst.
07. April um 21:42
Zum Reisestart am 1. Mai hatten sich auf dieser Seite etwa hundertfünfzig Menschen mit einem knappen «Gefällt mir» angemeldet, doch im Laufe der zwei Wandermonate stieg die Community der Interessierten bis in den Juli hinein auf über sechshundert Leute an.
Nachdem ich die Facebook-Seite tatsächlich eingerichtet hatte, war mein Elan auch schon wieder erloschen. Es überforderte mich, jetzt noch mehr Seiten bei anderen Netzwerken zu installieren. Ich hielt es schlicht für überflüssig. Ein Freund von Twitter war ich ohnehin noch nie, auch wenn sich jetzt die Echtzeit-Junkies und News-Fetischisten aus meiner Branche verzweifelt vor die Stirn schlagen. Jaja, von mir aus, da habe ich halt den Schuss nicht gehört.
Nein, ernsthaft: Was sollte ich denn praktisch mit einem Twitter-Account auf dem Trip anfangen? Glaubt denn jemand, dass ich durch einen breaking news-Tweet am späten Nachmittag einen Landwirt in Langgöns oder Heisterbacherrott im Schweinestall alarmieren und dazu bewegen könnte, mir ein Bett für die Nacht oder einen Liter Milch zu spendieren?
Eher zufällig gelang es mir, wenigstens den geplanten Blog auf wordpress.com anzulegen. Wobei das so nicht mal stimmt: Unser Freund Arndt, unter anderem ein praktizierender Webdesigner, quartierte sich just in dieser Zeit ein paar Tage in unserem Gartenhaus ein. Als Gegenleistung bot er mir an, solch eine Seite aufzubauen. Ich malte ihm auf einem weißen Blatt Papier auf, wie ich mir die Seite vorstellte: viel Blau, viel Schwarz und ein paar redaktionelle Rubriken, mit denen ich mein Publikum bei Laune halten wollte. Ich hatte mir vorgenommen, dort alle paar Tage einen längeren Beitrag über meine Reise zu posten und mit der Facebook-Seite zu verlinken. Außerdem wollte ich dort täglich etwas «Verkehr» generieren, indem ich meine Route nachzeichnete («On the Route»), die Menschen vorstellte, die mir halfen («Jeden Tag ein guter Täter!»), und über meine zahlreichen Schlafstätten blödelte («Bettentest»). Der begleitende Effekt des wordpress-Blogs war, dass auch Facebook-Verächter die Möglichkeit erhielten, mein Projekt mitzuverfolgen. Von denen gab es ja immer noch mehr, als man glaubt. Arndt leistete ganze Arbeit, am...