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E-Book

Deutsche Literatur von der Reformation bis zur Gegenwart

AutorRalf Schnell
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl640 Seiten
ISBN9783644452510
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Dieser Leitfaden deutschsprachiger Literatur bietet einen pointierten Überblick über die literarische Entwicklung seit 500 Jahren. Luthers Bibelübersetzung steht am Anfang eines vielgestaltigen Prozesses poetischer Welterkundung und Welterschließung, der als unabschließbare sprachkünstlerische Suchbewegung zu verstehen ist. Deren Eigensinn und Eigendynamik wird - wie die Eigenständigkeit und Widerständigkeit der literarischen Werke selbst - in einen historischen Wandel gestellt, der durch die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Wertsphären begründet ist und seit dem 17. Jahrhundert mit einem erheblichen Zuwachs an sprachkünstlerischer Autonomie einhergeht. Die Daten und Fakten der politischen und gesellschaftlichen Geschichte ebenso wie die Epochenmerkmale der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung bieten dabei Anhaltspunkte für die hier vorliegende Darstellung. Diese orientiert sich in Form einer Verbindung von Überblicken und Einzelanalysen am künstlerischen Eigenwert der Literatur von der Reformation bis zur Gegenwart. Dieses Buch wendet sich an jeden, der wissen will, was die Literatur zu geben vermag.

Ralf Schnell, geb. 1943 in Oldenburg (Oldb.), war von 1981 bis 1987 Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Universität Hannover. Von 1988 bis 1991 lehrte er als Lektor des DAAD und von 1991 bis 1997 als Ordentlicher Professor für Deutsche Gegenwartsliteratur an der Keio-Universität in Tokyo. Von 1997 bis 2006 war er Inhaber des Lehrstuhls für Germanistik/Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Siegen und dort von 2006 bis 2009 Rektor. Seit 2010 lebt er als wissenschaftlicher Autor in Berlin. - Er war Mitherausgeber der «Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik» (1999-2010), Sprecher des Kulturwissenschaftlichen DFG-Forschungskollegs 615 «Medienumbrüche. Medienkulturen und Medienästhetik zu Beginn des 20. Jahrhunderts und im Übergang zum 21. Jahrhundert» (2002-2006) sowie Mitherausgeber und Sprecher des Herausgebergremiums der Kölner Ausgabe der Werke Heinrich Bölls (27 Bde.). Gastprofessuren in den Niederlanden, Ägypten, Thailand, Laos, Vietman und China.

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Leseprobe

Die Humanisten


Was die Renaissance in Italien, ist in Deutschland der Humanismus. Seine Repräsentanten sind nicht-klerikale, akademisch geschulte Gelehrte, die sich bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts nur im Denk- und Glaubens-, vor allem im institutionellen Zusammenhang der Kirche entwickeln konnten. Mit der beginnenden Reformation aber setzte eine Emanzipation aus diesen Bindungen ein. Die meist aus sozial niederen Schichten stammenden Humanisten besaßen in einer gründlichen Bildung und einem professionellen Gelehrtentum ihre einzige Chance, sich zu entwickeln und aufzusteigen, was wiederum ein soziales Interesse an einem Stand von gelehrten und gebildeten Personen voraussetzte. In der Tat benötigten die Höfe und die sich entwickelnden Städte eine Schicht von Verwaltungsleuten, Pädagogen und Philosophen, die gelehrt genug waren, der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung Perspektiven in die Zukunft zu weisen. Es ging um den Ausbau des bürokratischen Apparats in den Territorialstaaten, den die humanistisch gebildeten Gelehrten voranbringen sollten, eine Aufgabe, die ihnen vielfältige Arbeitsmöglichkeiten bot. Das bewegende Zentrum hierfür fand sich freilich nicht in Deutschland, sondern in Österreich: Die Stadt Wien, bereits in der frühen Neuzeit ein kulturell aufgeschlossenes Zentrum, bot sich wegen ihrer Brückenfunktion zu Italien einerseits, zum übrigen benachbarten Europa andererseits für eine solche historische Rolle an.

Über Wien findet eine Art Eindeutschung bestimmter Züge der italienischen Renaissance statt. Dazu zählt vor allem die Idee der persönlichen Prägung des Menschen durch den Menschen, eine Vorstellung, die noch nicht – wie später im 18. Jahrhundert – den Einzelnen als Individuum fördern will. Wohl aber tritt das Ideal der persönlichen Einflussnahme, der Bildung durch gelehrte Persönlichkeiten, eben durch die Humanisten, in den Vordergrund der Erziehung. Sie kommt insbesondere im Medium des Briefwechsels zum Ausdruck, einer neu entstehenden literarischen Gattung, die dialogisch – und in gewisser Hinsicht auch dialektisch – angelegt ist und mit deren Hilfe sich unterschiedliche Auffassungen gegeneinander abwägen und weiterführende Einsichten gewinnen lassen. Beispielhaft für diese literarische Tendenz ist ein Text mit dem Titel Über Lesen und Bildung (1443; im Original auf Lateinisch), in dem sich zwei Personen unterhalten, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen: eine literarische Form, die noch im Sturm und Drang – so in Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) – und in der Romantik eine Blütezeit erlebte.

Das Studierzimmer bildet die Lebensform der Humanisten, die Bibliothek den Inbegriff ihres Daseins. Auch wenn sich hinter solchen Zuschreibungen ein Klischee verbergen mag – es bezeichnet den Lebensmittelpunkt dieser neuen Gesellschaftsschicht doch recht genau. Denn die Literatur ist das Ausbildungsmedium, durch das hindurch sie sich weiter entwickeln konnte. Selbstverständlich besteht eine Art Korrespondenz zwischen den verschiedenen Studierzimmern, es gibt einen geistigen Zusammenhalt, auch über die verschiedenen Zentren hinweg, in denen sich Humanisten einzeln oder zu mehreren gefunden haben. Sowohl ihr Austausch untereinander als auch die Arbeit im eigenen Studierzimmer dient der geistigen Versenkung, die Askese repräsentiert ein Lebensideal und zugleich die alltägliche Praxis. In deren Mittelpunkt standen die Künste und die Wissenschaften, die Staats- und auch die Rechtsgeschäfte, ebenso die Philosophie, bezogen auf den Menschen – als Gattungswesen, noch nicht als individuelles Subjekt im modernen Sinn verstanden. Der einzelne Mensch, als Teil seiner Gattung, soll sich weiter und höher entwickeln. Er ist Teil der Natur, insoweit er Geschöpf Gottes ist, einbezogen in den Kosmos, in dem er sich, durch Erziehung geleitet, angemessen entfalten kann.

Noch immer aber ist das Neulateinische die Kommunikationssprache der gebildeten Welt. An den Universitäten wird auf Latein gelehrt, in den Schulen wird Lateinisch gesprochen, selbst die Schüler untereinander müssen auf Lateinisch miteinander kommunizieren – es gibt keine andere sprachliche Verkehrsform zwischen den Gebildeten unterschiedlicher Schichten und Herkunftsorte. Daher ist es buchstäblich kulturrevolutionär, als bedeutende Gelehrte wie Reuchlin und Hutten und insbesondere Luther mit seiner Bibelübersetzung die alten Traditionen und Konventionen durchbrechen und sich, in Verbindung mit der Erfindung des Buchdrucks, in aller Öffentlichkeit auf Deutsch artikulieren und verständigen – eine Sprachrevolution in der gebildeten Welt. Deren Voraussetzung bildet nicht zuletzt die Tatsache, dass es seit dem 14. Jahrhundert eine Papierproduktion gibt, die das Pergament, auf dem bis dahin mit der Hand geschrieben worden war, ablöste und eine billige Form der massenhaften Verbreitung von Gedanken ermöglichte. Bereits um 1500 finden sich mehr als 60 Druckereien in Deutschland, die zu einer erheblichen Verbreitung und Vermehrung des Wissens sowie der wissenschaftlichen Kommunikation beigetragen haben.

Hierzu zählt auch die Entdeckung des Raums, sowohl des physikalischen als auch des geographischen. Ein neues Weltbild entsteht, das mit der Entdeckung der neuen Welten und der Relativierung eines eurozentrischen Denkens einhergeht. Man erkennt, dass Deutschland, ja selbst Europa nur einen kleinen Teil der großen Welt ausmachen – diese Einsicht führt zur Relativierung der eigenen geographischen, gesellschaftlichen, historischen und politischen Bezüge. Im Zusammenhang hiermit entfalten sich die ersten Formen autonomer Handelsbeziehungen und der Manufaktur und, damit einhergehend, eine neue urbane Kultur mit den ersten Metropolen, Handels- und Kunstzentren. Es entstehen Stadtbeschreibungen als Formen einer architektonischen Selbstvergewisserung und einer neuartigen Orientierung in der Landschaft wie in der Welt. In diesem Zusammenhang entwickelt sich auch eine Art nationaler Geschichtsschreibung. Erstmals werden historische Schriften vorgelegt, die Begründung eines wissenschaftlichen Denkens, das sich selbst in entsprechenden Entwürfen theoretisch und methodologisch kommentiert. Wichtig als Medium des wissenschaftlichen Diskurses wird die akademische Übung des Streitgesprächs, die offene Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Positionen in einer humanistisch-reformatorisch geprägten Welt. Sie verschafft ihren Studenten breite Kenntnisse in den Naturwissenschaften wie in der Philosophie, weitgehend ohne jene fachlichen Spezialisierungen, die wir heute kennen. Der Typus des universellen Gelehrten gilt als das Ideal der Bildungswelt – diesem Ideal zur Wirklichkeit zu verhelfen, war die Aufgabe der Universitäten in dieser Zeit. Die Humanisten, als Repräsentanten dieses Diskurses, sahen sich auf Seiten der Vernunft, einer Weltvorstellung, die sich auf den gesunden Menschenverstand der gebildeten Persönlichkeit stützte – man kann sie, mit einem modernen Wort, ‹emanzipatorisch› nennen.

Eine beispielhafte Bewährungsprobe erfuhr dieser Anspruch im so genannten Humanistenstreit, dem das Muster einer antijüdischen Ausgrenzungsstrategie zugrunde lag. Seine besondere Note besaß dieser Streit darin, dass er durch einen Judenhasser namens Johannes Pfefferkorn ausgelöst wurde, einen zum Christentum konvertierten Juden, der in den Jahren 1507 bis 1510 unter Titeln wie Judenbeichte, Osterbuch oder Judenfeind eine Reihe von Pamphleten herausgegeben hatte, in der Absicht, seine einstigen Glaubensgenossen als Christenhasser zu denunzieren, ihnen den «Wucher» verbieten zu lassen, sie zum Besuch christlicher Gottesdienste zu zwingen und zur Verbrennung ihrer Bücher aufzurufen. Unterstützt wurde Pfefferkorn durch den Kölner Professor Usterinus Gratius – eine Latinisierung des niederländischen Ursprungsnamens Hoogstraten, eines in Köln lebenden Dominikaners – und ebenso durch dessen konservative Kollegen an der theologischen Fakultät der Universität Köln. Mit vereinten Kräften versuchte man, die Bücher von jüdischen Autoren einsammeln und auf einen Index setzen zu lassen und hierfür die offizielle Billigung des Kaisers Maximilian I. zu erhalten.

Dieser freilich, ein für seine Zeit aufgeklärter Mann, beauftragte den Mainzer Erzbischof Uriel von Gemmingen, Gutachten einzuholen. Unter den befragten Sachverständigen war auch der Humanist Johannes Reuchlin, der seinen Ratschlag, ob man den Juden alle ihre bücher nemmen / abthun unnd verbrennen soll mit eindeutigen Argumenten zugunsten der Juden begründete. Denn die Bücher der Juden sind in Reuchlins Augen kluge Bücher – schon deshalb kommen sie für ein Verbot oder eine Verbrennung nicht in Betracht. Doch selbst wenn man einräumen müsse, dass die Juden keine Christen seien – selbst dann, so Reuchlin, «soll ich niemant das sein nemmen und verbrennen / dan mir stat das nit zu ze urtailnn. Der jud ist unsers herrgots als wol als ich». Reuchlins «Ratschlag» beruft sich in allen Aspekten – Vielfalt der jüdischen Schriften, religiöse Integrität und theologische Anregungskraft des Talmud, Unkorrektheit des Ketzer-Begriffs – auf einschlägige Bibelstellen, des Alten wie des Neuen Testaments. Aus seiner Schrift spricht ein großzügiges, aufgeklärtes Weltbild, das sich auf den christlichen Glauben beruft: Da Gott alles in die Welt gegeben hat, was in ihr ist, steht es den Menschen, auch den Christen, nicht zu, Bücher zu konfiszieren oder zu verbrennen, weil dies Gottes Sache sei – ein höheres Maß an klugem und vernunftgeleitetem Denken kann man in dieser Zeit...

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